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Zum journalistischen Leitbild von t-online.2.000 Euro Selbstbeteiligung? Experte: "Das wird besonders die Rentner treffen"
Ein Vorschlag des Freiburger Ökonomen Bernd Raffelhüschen sorgt für Aufsehen: Kassenpatienten sollen bis zu 2.000 Euro Selbstbeteiligung zahlen. "Das ist Unsinn", kontert ein Kassenchef.
Zur Finanzierung des teuren Gesundheitssystems hat der Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen vorgeschlagen, dass gesetzlich Krankenversicherte pro Jahr gestaffelt bis zu 2.000 Euro Selbstbeteiligung zahlen sollen. "Patienten müssen künftig mehr aus eigener Tasche dazu bezahlen", sagte er der "Bild".
Raffelhüschen sprach sich dafür aus, dass Versicherte Verletzungen nach selbstgewählten Risiken – wie Skifahren – komplett selbst bezahlen sollten. "Auch Raucher müssen sich an den Folgekosten von Behandlungen stärker selbst beteiligen", verlangte er.
Ohne ein Gegensteuern werde ansonsten der Beitragssatz bis 2035 auf bis zu 22 Prozent vom Bruttolohn steigen, warnte der Ökonom. Zurzeit liegt er – inklusive Zusatzbeitrag – im Schnitt bei knapp 16 Prozent, je nach Krankenkasse. Nach den Plänen Raffelhüschens sollen Patienten nach dem Arztbesuch künftig eine Rechnung erhalten und diese an die Krankenkasse weiterreichen, "die dann einen Großteil der Kosten übernimmt".
Krankenkassenchef winkt ab
Diesen Plänen erteilt Ralf Hermes, Chef der IK Innovationskasse, eine deutliche Absage. Hermes sagte t-online: "Die Vorschläge sind sozial ungerecht und werden besonders die Rentnerinnen und Rentner treffen." Zudem sei der bürokratische Aufwand eines solchen Modells gigantisch: "Jährlich müssten zusätzlich Millionen Rechnungen gestellt werden. Dafür würden viele zusätzliche Mitarbeiter benötigt, die wieder neue Kosten erzeugen. Das ist Unsinn."
Hermes kritisiert den Ruf nach immer mehr Geld zur Finanzierung der steigenden Kosten im Gesundheitssystem: "Neues Geld zementiert nur reformbedürftige Strukturen. Das ist der falsche Weg." Stattdessen schlägt der Kassenchef radikale Strukturreformen für das staatliche Gesundheitssystem vor. t-online stellt seine wichtigsten Vorschläge vor.
Acht Punkte für mehr Effizienz im Gesundheitswesen
Die Durchlässigkeit zwischen ambulanter und stationärer Versorgung verbessern: Medizinische Zentren sollten kleinere Krankenhäuser in ländlichen Gebieten ersetzen, während größere Krankenhäuser sich auf spezialisierte Behandlungen wie Krebs- und Herzoperationen konzentrieren. Diesen Vorschlag unterstützt auch Karl Lauterbach.
Das Gesundheitswesen von wirtschaftlichen Interessen entkoppeln: Das Vergütungssystem sollte Hermes zufolge umgestellt werden. Es sollte nicht länger darum gehen, im Medizinbetrieb Geld zu verdienen, sondern die medizinische Versorgung der Bevölkerung sei sicherzustellen.
Eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Medikamente: "Die Mehrwertsteuer sollte von 19 auf vier Prozent gesenkt werden wie in Spanien und so für mehr Einnahmen sorgen."
Den Zahnersatz aus der Krankenversicherung streichen: Die Leistungen für Zahnersatz sollten gestrichen werden, um Kosten zu sparen, fordert Hermes. Die meisten Patienten bräuchten keinen Zahnersatz, sagt er, wenn sie frühzeitig durch Vorsorge für eine stabile Zahngesundheit sorgen. Die Krankenkassen sollten vielmehr Zuschüsse zahlen zu privaten Zusatzversicherungen, wenn sich Versicherte gesundheitsbewusst verhalten und sie somit für dieses Verhalten belohnen.
Erhöhung der Zuzahlung für Bürgergeldempfänger: Aktuell erhalten Bürgergeldempfänger 100 Euro Zuschuss, der Bedarf liege allerdings bei 350 Euro, so Hermes. Die Koalition müsse daher dringend die eigenen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umsetzen.
Das Krankengeld auf ein Jahr verkürzen: Um einen "Drehtüreffekt" zu vermeiden, in denen Versicherte über Jahre durch Anschlusserkrankungen Krankengeld beziehen, sollte die maximale Dauer des Krankengelds von anderthalb auf ein Jahr verkürzt werden, fordert Hermes. Parallel müssten auch die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsversicherungen von staatlicher Seite reformiert werden.
Abschaffung des Zusatzbeitrags: Hermes fordert, den Kassen zu erlauben, dass sie mehr individuelle Leistungen anbieten können. Das würde den Wettbewerb unter den Kassen schärfen. Statt des Zusatzbeitrags, den momentan Arbeitnehmer und Arbeitgeber paritätisch zahlen, würde dann ein kassenindividueller Satzungsbeitrag fällig.
Die Digitalisierung voranbringen: Ob künstliche Intelligenz, Prozessoptimierung, Automatisierung, Apps: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen laufe viel zu schleppend, die digitale Patientenakte sei ein Flop, so Hermes. Hier müsse dringend mehr Tempo her.
Zur Person
Ralf Hermes ist hauptamtlicher Alleinvorstand der IK Innovationskasse mit Sitz in Lübeck, einer seit 2021 bundesweit geöffneten deutschen Krankenkasse. Sie entstand im Jahr 2006 aus der Fusion der IKK Mecklenburg-Vorpommern sowie der IKK Schleswig-Holstein und betreut rund 250.000 Versicherte. Bundesweit gibt es 96 gesetzliche Krankenkassen.
Mit Blick auf Raffelhüschens Vorstoß betont Ralf Hermes: Mehr Effizienz im staatlichen Gesundheitssystem zu schaffen, werde mehr bringen, statt immer nur mehr Geld in ein veraltetes System zu pumpen. Ohne Gesundheitsreform werde die Akzeptanz sozialer Sicherheitssysteme in Deutschland schwinden, warnt er.
Für 2023 wird in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von 17 Milliarden Euro erwartet – nach den Worten von Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist das ein historisches Ausmaß. In Deutschland werden rund 73 Millionen Versicherte von einer der 96 gesetzlichen Krankenkassen versorgt – das entspricht etwa 90 Prozent der Bevölkerung.
- Telefonisches Interview mit Ralf Hermes
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa