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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Margot Käßmann "Damit habe ich so nicht gerechnet"
Die Theologin Margot Käßmann hat das umstrittene "Friedensmanifest" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnet. Im Interview zeigt sie Verständnis für die Kritiker.
Für den 25. Februar, ein Jahr und einen Tag nach Putins Überfall auf die Ukraine, haben die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Feministin Alice Schwarzer zu einer "Friedensdemonstration" am Brandenburger Tor in Berlin aufgerufen. In einer dazugehörigen Petition haben sie den Bundeskanzler aufgefordert, sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einzusetzen.
Der Text wurde unter anderem deshalb heftig kritisiert, weil die Autorinnen zugunsten einer Verhandlungslösung Kompromisse auf beiden Seiten forderten und damit implizit von der Ukraine die Abtretung von Teilen ihres Territoriums an Putin verlangten. In der Kritik steht auch die Theologin Margot Käßmann, die das Manifest als eine der Ersten unterzeichnet hat. Im Interview mit t-online erklärt sie, was sie dazu bewegt hat und wie sie heute zu den Forderungen steht.
t-online: Frau Käßmann, warum haben Sie das Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterschrieben?
Margot Käßmann: Weil ich es für falsch halte, dass sich die öffentliche Diskussion um den Krieg in der Ukraine auf Waffenlieferungen konzentriert. Es sollte darum gehen, wie schnellstmöglich ein Waffenstillstand und das Ende der Kampfhandlungen erreicht werden können.
Das wäre schnell möglich: Putin muss nur seine Soldaten zurückziehen. Das verschweigen Wagenknecht und Schwarzer, auch deshalb ist das Manifest massiv kritisiert worden.
Das ist doch klar. Dem Manifest geht es um unsere Rolle als Deutsche. Ist es unsere Aufgabe, in diesen Konflikt immer mehr Waffen zu schicken? Jahrzehntelang galt mit gutem Grund, dass aus Deutschland keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete geliefert werden. Deshalb ist es gut, darüber eine große öffentliche Debatte zu führen. Leider ist sie sehr personenzentriert, weil sich viele Kritiker an den Protagonistinnen reiben. Und es wird dem Manifest vorgeworfen, es stelle Putin nicht ausreichend als Kriegsverbrecher dar.
Warum ist Ihnen das nicht aufgefallen, als Sie unterschrieben haben?
Beim Lesen habe ich das nicht so wahrgenommen. Schließlich heißt es in dem Text ganz klar: "Die von Russland brutal überfallene Ukraine braucht unsere Solidarität".
Ein schwammiger Begriff. Was mit "Solidarität" gemeint sein soll, wird nicht erklärt. Stattdessen wird suggeriert, die Ukrainer müssten notfalls eben einen Teil ihres Landes aufgeben. Nehmen Sie deshalb am Samstag nicht an der geplanten Friedensdemonstration in Berlin teil, weil Sie nun doch nicht mehr so überzeugt von dem Manifest sind?
Nein, es war von Anfang an klar, dass ich als Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft bei den Kundgebungen in Köln und Bonn dabei sein werde. Mein Eindruck ist aber auch, dass sich die Organisatoren der Berliner Demonstration nicht deutlich genug von Teilnehmern aus dem rechten Spektrum abgegrenzt haben. Man kann nicht sagen, wenn Herr Chrupalla (der Co-Vorsitzende der AfD, Anm. d. Red.) kommt, dann kommt er eben. Man muss klar sagen: Er ist absolut nicht erwünscht.
Die Verfasserinnen und Unterzeichner der Petition hätten doch rechte Trittbrettfahrer einkalkulieren müssen.
Damit habe ich so nicht gerechnet. Für mich war die Friedensbewegung politisch eher links verankert. Das muss meine Generation erst noch begreifen, dass Neonazis und Rechte inzwischen versuchen, jedwede Bewegung zu kapern. Das haben wir zuletzt auch bei den Corona-Protesten in Deutschland gesehen. Diese Gefahr muss allen bewusst sein, die die Demokratie in Deutschland aktiv mitgestalten wollen. Das habe ich aus diesem Prozess gelernt.
Das Manifest bedient an mehreren Stellen 1:1 russische Narrative: Eines lautet: "Der Westen will Russland vernichten, auf ganzer Linie besiegen." Das ist doch Unsinn. Sie haben außerdem den Satz unterschrieben: "Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?" Glauben Sie wirklich, die Ukraine wolle Russland unterwerfen?
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die 600.000 Unterzeichnenden alle derart dumm sind, dass sie Putins Lügen nacherzählen? Es darf doch die Frage gestellt werden, wie viel Zerstörung, wie viele Menschenleben der Sieg der Ukraine, von dem die Befürworter von Waffenlieferungen sprechen, kosten soll. Ich akzeptiere aber die Kritik. Man hätte zuerst formulieren müssen, dass Putin die Ukraine erobern bzw. besiegen will.
Gilt das auch für das zweite russische Narrativ von der "Eskalation der Waffenlieferungen"?
Nein, dieser Formulierung stimme ich nach wie vor zu, was nicht bedeutet, Putins Narrativ zu übernehmen. Ich habe die Waffenlieferungen von Anfang an kritisiert. Ich wurde beschwichtigt, dass es sich nur um Verteidigungswaffen handelt. Aber dann wurde ein enormer Druck auf den Bundeskanzler ausgeübt, bis er der Lieferung von Leopard-Panzern, eindeutig Angriffswaffen, zugestimmt hat. Diese Eskalation bereitet vielen Menschen zunehmend Unbehagen. Ich finde die Entwicklung besorgniserregend. Was schicken wir als Nächstes, Streubomben?
Putin ist doch derjenige, der den Krieg immer weiter eskaliert. Seine Armee begeht Kriegsverbrechen: Sie mordet, foltert, vergewaltigt. Seit Butscha und Mariupol muss das jedem klar sein.
Deswegen müssen wir deeskalieren. Was passiert, wenn wir immer mehr Waffen liefern? Wie lange soll der Krieg noch weitergehen? Wir dürfen den Krieg nicht weiter anheizen. Wir müssen Putin diplomatisch stoppen. Wir sind mitverantwortlich für den Krieg, mit den Waffen, die wir geliefert haben.
Dass Putin sich nicht mit Worten stoppen lässt, hat er doch vielfach bewiesen: siehe Tschetschenien, siehe Syrien. Wie soll denn der "Kompromiss" aussehen, den das Manifest von den Ukrainern fordert? Dass sie 30 Prozent ihres Territoriums an den Aggressor Russland abtreten?
Das ist eine Verhandlungsfrage. Mein Plädoyer ist: Wir brauchen einen Waffenstillstand und dann muss verhandelt werden. Zu sagen, bei Verhandlungen gibt es keine Kompromisse, hilft nicht weiter.
Putin hat erst diese Woche in seinen Reden wieder glasklar gesagt, was er will: Er will das "Nazi-Regime" in Kiew beseitigen und die Ukraine zurück zu Russland holen. Seine Armee lässt zahlreiche Kinder aus der Ukraine entführen. Denken Sie, als Verhandlungskompromiss bekämen dann eben nur die Hälfte der Eltern ihre Kinder zurück?
Diese Frage unterstellt, das Leid der ukrainischen Bevölkerung sei für die Befürworter von Verhandlungen gleichgültig. Es steht doch außer Frage, dass ich das Unrecht, das dem ukrainischen Volk angetan wird, aufs Schärfste verurteile. Ich kann Ihnen genauso wenig sagen, wie angemessene Verhandlungen im Detail aussehen, wie die Waffenbefürworter erfahrene Kriegsstrategen sind. Aber es gibt international gut geschulte Experten für Verhandlungen. Und Verhandlungen führen nur zum Ziel, wenn dem Ergebnis zugestimmt wird.
Engagiert in der Friedensbewegung
Margot Käßmann ist eine einflussreiche evangelische Theologin und Pfarrerin. Sie profilierte sich unter anderem mit ihrer Kritik am Afghanistan-Einsatz. Bis Februar 2010 war Käßmann Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nachdem sie bei einer Alkoholfahrt von der Polizei erwischt wurde, trat Käßmann vom Ratsvorsitz und vom Bischofsamt zurück. Ihre rasch gezogenen Konsequenzen und ihr Schuldbewusstsein haben ihre Beliebtheit eher noch verstärkt und ermöglichten ihre Rehabilitation.
Das Manifest spricht die Angst vieler Menschen hierzulande vor einem Atomkrieg an. Ist es nicht zynisch, die theoretische Gefahr über die reale Brutalität des Krieges zu stellen?
Nein, ich denke, die Angst vieler Menschen vor einem Atomkrieg, der ganz Europa auslöschen könnte, hat ein Recht, wahrgenommen zu werden. Auch die Angst vor immer mehr Flüchtlingen ist ja ein Argument für die Politik.
Das macht die Sache nicht besser.
Die Ängste der Menschen sind sehr real, und ich finde, wir als Deutsche dürfen sie durchaus zum Ausdruck bringen. Natürlich könnten wir in vielen Regionen der Welt Menschen bewaffnen, die das Recht auf ihrer Seite haben, auch das Menschenrecht. Aber ist es unsere Aufgabe, allen Waffen zu liefern? Oder müssen wir nicht eher darauf drängen, dass wir zu weniger Waffen, zu Abrüstung kommen? Ich denke, als Christin kann ich so argumentieren, ohne dass man mir vorwirft, ich sei zynisch.
Trägt das Manifest dazu bei, den Rückhalt der Regierung in der Bevölkerung zu untergraben?
Nein, aber die Tatsache, dass bereits mehr als 600.000 Menschen unterschrieben haben, zeigt, dass viele sagen: "Ich will, dass auch mein Zweifel an der jetzigen Strategie gehört wird." Ich habe die Petition gelesen und bewusst unterzeichnet. Aber ich kann die Kritik derer, die das Manifest aus einem anderen Blickwinkel lesen, durchaus nachvollziehen. Das gehört zu einem guten demokratischen Diskurs.
- Telefonisches Interview mit Margot Käßmann
- Manifest für den Frieden auf change.org