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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Kanzlerin über Habgier, Rache und Eitelkeit Dieser Merkel-Auftritt ist eine kleine Sensation
Erstmals war Ex-Kanzlerin Angela Merkel bei einem Podcast zu Gast – und sprach ausgerechnet über Mord. Dabei verriet sie eine Menge über ihre Sicht von Politik.
Es klingt wie der Beginn eines Witzes: Treffen sich eine Kanzlerin, ein Richter und ein Journalist in einem Tonstudio. Tatsächlich ist dem Terrorismusexperten Holger Schmidt vom Südwestrundfunk genau dieses Kunststück gelungen: Für seinen Podcast "Sprechen wir über Mord", den er zusammen mit dem ehemaligen Bundesrichter Thomas Fischer betreibt, hat er Ex-Kanzlerin Angela Merkel als Gast gewonnen.
Das ist eine kleine Sensation, denn Merkel war nicht nur als Kanzlerin äußert sparsam mit Terminen, die Einblicke in Privates erlaubten. Sie ist es auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt. Holger Schmidt hat einen Trick angewendet. Er hat Merkel mit dem Versprechen gelockt, über eine ihrer größten Leidenschaften zu diskutieren: den "Ring des Nibelungen" von Richard Wagner.
Normalerweise diskutieren Schmidt und Fischer in ihrem Podcast über "true crime", also echte Kriminalfälle. Zu Weihnachten gibt es aber eine Ausnahme, da geht es um Verbrechen in der Kultur. Im vergangenen Jahr befragten Schmidt und Fischer den Schriftsteller Volker Kutscher, auf dessen historischen Krimis die Erfolgsserie "Babylon Berlin" basiert.
Im "Weihnachtsspecial" mit der Ex-Kanzlerin standen diesmal die "Kapitaldelikte" bei Wagner auf der Agenda, wo bekanntlich viel gemordet, gestohlen und betrogen wird. Genauer: In drei Folgen sprachen die beiden Gastgeber mit Merkel über Habgier, Rache und Eitelkeit im Nibelungen-Zyklus.
Was zunächst einmal nach einem Hör-Tipp für eingefleischte Wagner-Fans klingt, offenbart auch einiges über Merkel selbst. Vor allem ihre Interpretation der Figur des Siegfried verrät etwas über ihre Sicht auf Politik.
Von furchtlosen Helden hält Merkel nicht viel
Von scheinbar strahlenden Helden wie Siegfried hält Merkel nicht viel. Darin, dass dieser furchtlos geboren wurde und dieses Gefühl nicht erst allmählich entwickelt, sieht sie einen Nachteil: "Eine gesunde Furcht ist ja etwas, was einen Menschen nicht überirdisch werden lässt, sondern ihn immer in der Balance hält: Was sind meine Möglichkeiten? Wo sind meine Grenzen."
Wer möchte, findet hier schnell Analogien zu Merkels Regierungszeit. Als Kanzlerin begegnete sie vielen Männern, die etwas von der selbstgewissen Furchtlosigkeit eines Siegfrieds hatten. Einer von ihnen war der französische Präsident Emmanuel Macron. Obgleich Merkel gut mit ihm auskam, befremdete sie diese Eigenschaft. Als er beim größenwahnsinnigen Versuch scheiterte, durch Anbiedern an den damaligen US-Präsidenten Donald Trump innerhalb der Europäischen Union die Führung zu übernehmen, konnte sie sich eine gewisse Genugtuung nicht verkneifen.
"Niemand kann Gott spielen"
Auch die Erinnerung an einen anderen Präsidenten drängt sich beim Hören des Podcasts auf. Was für sie die Lehre aus der Darstellung sei, dass Siegfried die einzige Stelle, an der er tödlich verletzt werden kann (der drachenblutfreie Punkt an der Schulter), ignoriert, will Interviewer Schmidt von ihr wissen. "Das ist ein Zeichen, dass niemand Gott spielen kann und niemand die Welt in Beschlag nehmen kann", sagt Merkel. Das klingt, als spräche sie über den früheren US-Präsidenten Donald Trump.
Im Podcast räumt Merkel aber ein, dass auch sie "nicht frei von Eitelkeit" sei. "Eitelkeit ist etwas, was dem Menschen innewohnt", sagt Merkel, fügt dann aber hinzu: "Auch sie muss gezügelt werden." Hier zeigt sich Merkels Herkunft als protestantische Pfarrerstochter. Denn die Eitelkeit, der Hochmut, gilt nicht nur im Katholizismus als Todsünde. Auch im Protestantismus wird sie als verwerfliche Eigenschaft gesehen.
Wütend auf Siegfried
Allerdings will sich Merkel der Einschätzung von Ex-Richter Fischer, Siegfried sei "ein tumber Tor" und ein "minderbemittelter Naturbursche", nicht ganz anschließen. Sie lässt seinen schlichten Gemütszustand nicht als Entschuldigung für sein Handeln gelten. Sie sei vielmehr "wütend" auf Siegfried, weil er "sein Glück im Grunde verspielt". "Ich finde, er hat genug erlebt, um, wenn er ein wirklich selbst reflektierender Charakter gewesen wäre, auch seine eigenen Grenzen ein bisschen zu sehen", sagt Merkel.
Das zeigt zweierlei: Zum einen die Ungeduld der Ex-Kanzlerin mit Menschen, die keine Lernkurven aufweisen. Aber auch ihr Bemühen, ihre Gegenüber nicht nur in ihren jeweiligen Rollen, sondern auch insgesamt als Menschen zu erfassen. Über ihre erste Begegnung mit dem früheren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy hieß es, sie habe sich mit Filmen des französischen Komikers Louis de Funès darauf vorbereitet, weil dieser einen ähnlichen Phänotyp darstelle – klein und schnell aufbrausend. Als fast alle über das Gebaren des neuen US-Präsidenten Donald Trump den Kopf schüttelten, versuchte sie intensiv, in seine Gedankenwelt einzutauchen und nach Anknüpfungspunkten zu suchen – allerdings erfolglos.
Eine ihrer größten Verletzungen stammt aus der Vor-Kanzlerin-Ära
Interessant ist im Podcast auch, was Merkel zum Stichwort "Verletzungen" als Erstes einfällt. "Wenn man von Rache oder Vergeltungssucht so stark geprägt ist, dass man das nicht mehr aus dem Kopf kriegt, dann sollte man mit Politik aufhören", sagt sie an einer Stelle und erwähnt dann jenen Moment, als sie 2002 Kanzlerkandidatin werden wollte und von Edmund Stoiber ausgebootet wurde.
Sie habe sich im Wahlkampf bemüht, "nicht durchblicken zu lassen, dass ich’s auch gerne geworden wäre", sagt sie im Podcast. Legendär ist die Geschichte, dass sie damals kurzentschlossen zu Stoiber nach Wolfratshausen fuhr und ihm bei einem Frühstück eben jene Unterstützung anbot, sich im Gegenzug dafür aber von ihm den Posten der Fraktionschefin zusichern ließ. Stoiber verlor die Wahl, aber Merkel löste Friedrich Merz an der Spitze der Unionsfraktion im Bundestag ab und ebnete sich so den Weg zu ihrer eigenen Kandidatur 2005.
Warum sie erstmals dazu bereit war, an einem Podcast teilzunehmen, erklärt Merkel so: "Ich kann jetzt auch Formate machen, die ich früher nur sehr, sehr selten machen konnte. Das gehört zu meiner neu gewonnen Freiheit dazu." Sie habe mal in eine "ganz andere Richtung gehen wollen."
Die beiden Moderatoren waren sehr zufrieden mit ihrem Gast. Er habe Merkel als ideale Podcast-Gesprächspartnerin erlebt, sagte Holger Schmidt zu t-online: "Sie war neugierig, bereit, sich einzulassen und stellte zwischendurch sogar selbst Fragen." Nur eines bedauert er: "Von mir aus hätte sie auch gern noch mehr Namen nennen können, als sie über ihre Erfahrungen in der Politik sprach."
Die Zurückhaltung könnte mit der Diskretion der Alt-Kanzlerin zu tun haben. Oder damit, dass sie sich politische Enthüllungen für ihre eigene Biografie aufspart.
- SWR-Podcast "Sprechen wir über Mord" vom 18. Dezember 2022, abrufbar über: https://www.ardaudiothek.de/sendung/sprechen-wir-ueber-mord/72550376/
- Telefonat mit dem SWR-Journalisten Holger Schmidt