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Zum journalistischen Leitbild von t-online.FDP, Grüne und SPD Der Weg zur Ampel – und die Hindernisse, die bleiben
Das Speeddating ist beendet. Die Königsmacher FDP und Grüne favorisieren eine Ampelkoalition. Wie haben sich die Parteien angenähert – und welche Gräben müssen sie noch überwinden?
Nach rund einer Woche Speeddating ist die Entscheidung gefallen: Ab morgen schon werden SPD, Grüne und FDP gemeinsam an einem Tisch sitzen. Sie wollen Grundlagen und Personal einer Ampelkoalition aushandeln, die in den nächsten vier Jahren Deutschland regieren soll. Der Anspruch vor allem der kleineren Parteien dabei: Reformen, Aufbruch, Veränderung – nach 16 Jahren Merkel, nach 16 Jahren Union. Es brauche einen "echten Impuls der Erneuerung", wie FDP-Chef Lindner den Auftrag formuliert. Deutschland könne sich "keine lange Hängepartie" leisten, so sagt es Annalena Baerbock.
Gut abgestimmt dürfte die Entscheidung zur Sondierung der Ampelkoalition gewesen sein, das deutet Lindner in seinem Statement an. Doch nicht jedem der potenziellen Koalitionspartner fällt der Schritt gleich leicht. Das zeigen auch die Auftritte von Grünen und FDP am Mittwoch deutlich.
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Lindner kommt zu spät
Pünktlich um 10 Uhr treten die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck vor die Kameras. Sie wirken aufgeräumt, schlagen der FDP Dreiergespräche mit der SPD vor. Dort seien "die größten inhaltlichen Schnittmengen denkbar", sagt Habeck. Er schränkt zwar ein: Noch sei der "Keks nicht gegessen". Doch für die Grünen ist es ein leichter, ein logischer Schritt. Die SPD liegt der Umweltpartei inhaltlich näher, ein Großteil der Grünen-Basis lehnt ein Bündnis mit der Union deutlich ab.
FDP-Chef Lindner hingegen verzögert sich. Sein Auftritt ist eigentlich für 11 Uhr angekündigt, vor den Kameras erscheint er mit rund 40 Minuten Verspätung – und betont dann: Eine Jamaika-Koalition mit der Union bleibe trotz allem eine Option. Kein Wunder: Inhaltlich harmoniert die FDP mehr mit der CDU. Lange haben die Liberalen im Wahlkampf mit der Union geflirtet, sich ihr beinahe schon versprochen.
Dass die FDP in den vergangenen Wochen von ihrem natürlichen Koalitionspartner abgerückt ist, hat vor allem zwei Gründe: den Willen der Wähler und die Verfassung der Union.
Deutlich haben die Bundesbürger CDU und CSU an der Wahlurne abgestraft. Rechnerisch ist eine Jamaika-Koalition zwar weiter möglich, die Union aber hat historische Verluste zu verkraften. In aktuellen Umfragen setzt sich dieser Trend fort: Eine klare Mehrheit wünscht sich demzufolge die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP.
Schwäche der Union gibt der Ampel Auftrieb
Die Union hat das aus der Bahn geworfen. Führungs- und Machtfragen sind ungeklärt. An der Spitze der CDU steht weiter Armin Laschet, in den Zweiergesprächen der letzten Tage saß er federführend mit am Tisch. Doch vor allem auch gegen ihn richtet sich der Unmut der Wähler: Eine Mehrheit lehnt Laschet als Kanzler ab. Wer also soll die Regierung anführen, wenn es zu einer Jamaika-Koalition kommt? Wer hält die Macht in der Union? Offene Fragen, die zentral für Regierungsverhandlungen sind, die aber zunächst einmal die Union intern beantworten muss. Antworten zu finden wird dauern sowie Kraft und Kämpfe kosten, prognostizieren Beobachter.
Mit diesem Wissen sind Grüne und FDP vor rund einer Woche in die Vorsondierungen gestartet. Sie haben zur Eröffnung ein Selfie gesendet, ein Bild der Einigkeit: FDP-Chef Lindner, FDP-Generalsekretär Volker Wissing, die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck waren darauf zu sehen. Kurz vor Mitternacht wurde das Bild in den sozialen Medien fast zeitgleich von allen vier Parteifunktionären veröffentlicht. Das Selfie ging viral, wurde zum Meme, mit Musik hinterlegt im Netz gefeiert. Ein guter Start für die Königsmacher, die sich versprachen, vieles anders zu machen als in der Vergangenheit.
Es solle keine Durchstechereien geben, beteuerten alle Seiten. Nicht wie in der Vergangenheit, als Gespräche an der Weitergabe von Zwischenständen und Inhalten an die Medien scheiterten. Tatsächlich dringt kein Wort aus den Verhandlungen zwischen FDP und Grünen heraus. Die Presse ist auf knappe, offizielle Statements angewiesen. In Ermangelung von Inhalten deuten Reporter verzweifelt Kleidung, Stil, Auftreten. Für die Medien anstrengend. Für das künftige Bündnis ein erster Erfolg.
Corona-Fäuste und Nervereien
Er setzt sich im Speeddating mit der SPD fort. Am Sonntag kommt das Sondierungsteam der Sozialdemokraten mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz an der Spitze in einem Bürohaus in Berlin-Mitte erst mit der FDP, dann mit den Grünen zusammen. Danach treten jeweils die Generalsekretäre vor die Kameras: Es gebe inhaltliche "Klippen", sagt FDP-Generalsekretär Wissing. Klar sei aber auch, dass man "eine Reformregierung" bilden wolle. Es ist ein erster Hinweis: Die FDP lehnt sich in Richtung Ampel.
Mit der Grünen-Spitze kumpelt SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Abend nach dem Zweiergespräch der beiden Parteien beinahe vor den Kameras. Man lacht, man gibt sich die Faust. Die Stimmung ist gut, die Präferenz der Grünen schon hier keine Frage mehr.
Es folgt ein weiterer Schlag für die Union – den sie sich wohl selbst versetzt. Am Sonntag spricht auch sie mit der FDP, am Montag dann mit den Grünen. Doch aus den Gesprächen gelangen Inhalte an die Medien, es gibt die ersten Durchstechereien in diesen Wochen. Die "Bild" zitiert zahlreiche Aussagen aus der Sitzung, unter anderem, dass die FDP großes Interesse an einer Jamaika-Koalition habe. Die FDP reagiert verärgert. "Das fällt auf, liebe Union – und es nervt!", twittert Johannes Vogel, der für die FDP mit am Sondierungstisch sitzt.
Ausschlaggebend für die Entscheidung zur Ampel scheinen die Durchstechereien zwar nicht zu sein. Vertrauen aber stiften sie ebenfalls nicht. Und sie sind ein weiteres Indiz für die ungeklärte Machtfrage in der Union. An diesem Mittwoch fasst es FDP-Chef Lindner so zusammen: Man habe weiter inhaltlich die größten Überschneidungen mit der Union. "Allerdings werden in der Öffentlichkeit Regierungswille und Geschlossenheit der Unionsparteien diskutiert."
Streitpunkte: Mindestlohn, Steuern, Klimaschutz
Nun also, schon ab morgen: Sondierungen für eine Ampelkoalition. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) wertet die Ankündigung von FDP und Grünen am Mittwoch als "De-facto-Absage an Jamaika" und "klare Vorentscheidung". Grüne und FDP hätten sich jetzt für diesen Weg der Ampel entschieden. "Den müssen sie nun auch konsequent gehen."
Ob Söder, der am Unglück der Union durch ständige Attacken auf Laschet mitgewirkt hat, damit recht hat, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.
Denn Schnittmengen finden sich zwischen den Parteien bei wichtigen Themen wie Digitalisierung, Asyl- und Gesellschaftspolitik. Doch es gibt auch zentrale Punkte, bei denen die Programme von FDP, Grünen und SPD weit auseinandergehen.
Beim Klimaschutz setzen die Grünen zum Beispiel nicht zuletzt auf Verbote, wollen ein Tempolimit und ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Die FDP lehnt das ab.
SPD und Grüne wollen den Mindestlohn erhöhen. Die FDP lehnt das ab.
Grüne und SPD wollen höhere Einkommen stärker steuerlich belasten. Die FDP will Gutverdiener hingegen entlasten.
Von der Ankündigung der Sondierung bis hin zu einer tatsächlichen Ampelregierung sind also noch einige große Kekse zu schlucken, wie es Grünen-Chef Robert Habeck ausdrücken würde.
- Pressekonferenzen von FDP, Grünen und SPD
- Eigene Recherchen