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USA unter Donald Trump: “Deutschland bietet sich nun eine riesige Chance”


"Germany first"?
"Jetzt wird es ernst für Deutschland"

InterviewVon Marc von Lüpke

07.02.2025 - 08:34 UhrLesedauer: 8 Min.
Donald Trump: Deutschland kann die USA als Führungsmacht der liberalen Demokratien ersetzen, sagt Timo Lochocki.Vergrößern des Bildes
Donald Trump: Deutschland kann die USA als Führungsmacht der liberalen Demokratien ersetzen, sagt Timo Lochocki. (Quelle: Kevin Lamarque/reuters)
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Die USA fallen unter Donald Trump als demokratische Führungsmacht in der Welt aus, Timo Lochocki hat einen Ersatz im Sinn: Deutschland. Wie das gelingen soll, erklärt der Politologe im Interview.

Die Weltlage ist brenzlig: Russland führt weiterhin Krieg gegen die Ukraine, nun löste Donald Trump mit provokanten Äußerungen über Grönland und den Gazastreifen weitere Besorgnis aus. In Deutschland gewinnt derweil die AfD an Wählergunst, die Parteien der demokratischen Mitte sind zerstritten. Ist die Situation hoffnungslos verfahren?

Nein, sagt der Politologe Timo Lochocki, ganz im Gegenteil – mit der richtigen Strategie kann Deutschland nicht nur die stärkste Demokratie des Globus sein, sondern auch die Führungsmacht der liberalen Demokratien weltweit. Wie das gelingen soll, erklärt Lochocki, Autor des Buchs "Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten", im Gespräch.

t-online: Herr Lochocki, haben Sie gerne Ärger?

Timo Lochocki: Nein. Warum sollte ich?

Ihr neues Buch trägt den Titel "Deutsche Interessen". Das klingt provozierend und erinnert manche an Donald Trumps "America First", bei anderen werden Erinnerungen an die zwei Weltkriege wach.

Das Buch und sein Titel sollen durchaus provozieren. Ich will aber keineswegs für Ärger sorgen, sondern ich habe ein ganz anderes Ziel: Ich will Optimismus verbreiten, den Menschen Mut machen und einen Beitrag zu einer dringend notwendigen Debatte über das nationale Interesse leisten. Beim Begriff "Deutsche Interessen" zucken manche gerade angesichts der von Deutschen begangenen Verbrechen während des Nationalsozialismus zusammen. Das verstehe ich. Aber die Annahme ist doch weltfremd, dass die demokratische Bundesrepublik Deutschland heute keine Interessen haben dürfte. Gerade in einer Zeit, in der die Demokratie unter Beschuss steht und weltweit Populismus und Autokratie erstarken. Und sie werden wir nur bekämpfen, wenn wir deutsche Interessen definieren.

Was sollten denn Deutschlands Interessen sein?

Zunächst einmal müssen wir eine Bilanz der Vergangenheit ziehen. Seit 1949 hat die Bundesrepublik Deutschland enorm davon profitiert, dass die großen liberalen Demokratien des Westens – Frankreich, Großbritannien und vor allem die Vereinigten Staaten – die deutschen Staatsinteressen tatkräftig international mit vertreten und abgesichert haben. Die Sicherheitspolitik gehört dazu, eine regelbasierte liberale Weltordnung und selbstverständlich der Freihandel. Damit ist nun aber Schluss, Deutschland steht ziemlich allein da, es kann ruppig werden. Donald Trump betreibt seine "America First"-Politik, er geht dabei nicht zimperlich vor, in Frankreich wird aller Voraussicht nach Marine Le Pen Präsidentin werden. Beide Länder sind extrem polarisiert, die Autokraten übernehmen den Laden. Großbritannien ist stabil, ja, aber die Briten haben dank Brexit ihre eigenen Probleme. Jetzt wird es also ernst für Deutschland.

Zur Person

Timo Lochocki, Jahrgang 1985, ist promovierter Politologe. Lochocki forscht insbesondere zu rechtspopulistischen Parteien und zur Resilienz liberaler Demokratien in Europa. Nach einer Tätigkeit für den German Marshall Fund leitete er das Referat Strategische Planung im Bundesgesundheitsministerium während der Corona-Pandemie. Seit 2022 ist Lochocki als Berater für den Umgang mit antidemokratischen Kräften tätig. Gerade ist sein Buch "Deutsche Interessen. Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden – und damit den liberalen Westen retten" erschienen.

"Wie wir zur stärksten Demokratie der Welt werden", lautet der Untertitel Ihres Buches. Meinen Sie das ernst?

Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen: Die USA werden voraussichtlich nicht wieder zu einer stabilen, liberalen Demokratie zurückfinden. Wenn wieder Wahlen stattfinden und ein Demokrat ins Weiße Haus einziehen sollte, kann das vier Jahre später schon wieder vorbei sein. Dann stehen wir wieder allein da. Warum sollte sich Deutschland diese Abhängigkeit von einem so unsicheren "Partner" antun? Nein, Deutschland kann und sollte das neue Amerika werden, die stärkste liberale Demokratie der Welt. "Germany first" bedeutet für mich, dass die liberale Demokratie an erster Stelle steht. Hier bei uns, aber auch für den Rest der Welt, wo wir demokratische Länder unterstützen können und sollten.

Das dürfte ein spannender Prozess werden. Deutschland befindet sich in keiner besonders guten Verfassung.

Und gerade das ist ja ein Missverständnis, das ich durch das Buch geraderücken möchte: Deutschland ist schon heute die mit Abstand mächtigste liberale Demokratie der Welt. Materiell und strukturell schneidet Deutschland im Vergleich mit den Ressourcen und Fähigkeiten der Vereinigten Staaten schlechter ab, aber das ist keine liberale Demokratie mehr. Und schon gegenüber Großbritannien und Frankreich verfügen wir über viel mehr Ressourcen und Möglichkeiten. Deutschland ist somit jetzt schon in der Rolle, die die USA lange innehatten: Wir sind der mächtigste liberale Staat der Welt. Und den potenteren USA haben wir noch etwas Zentrales voraus.

Wir sind noch nicht derart gesellschaftlich gespalten?

Genau. Der Kulturkampf und die Polarisierung sind hier noch lange nicht so weit vorangeschritten wie jenseits des Atlantiks. Zudem hat Deutschland immer wieder seine Fähigkeit zu Reformen bewiesen. Deutschland bietet sich nun eine riesige Chance, wenn wir in dieser seit 1949 einmaligen Situation unsere Interessen in einem Gesamtansatz denken, definieren und verwirklichen. Sozial- und Wirtschaftspolitik, Migration, Energie und Verteidigung und noch viele andere Bereiche bieten ein ungeheures Potenzial, das wir nur entwickeln und nutzen müssen.

Zurzeit polarisiert das Thema Migration die politische und mediale Debatte. Sehen Sie da eine baldige Lösung aufziehen?

Sie muss kommen. Dieser Streit über Migrationspolitik ist doch das Beste, was Russland und anderen autoritären Regimen passieren kann. Dadurch sind die großen liberalen Demokratien nicht mehr konsensfähig, auch außen- und verteidigungspolitische Projekte lassen sich dann kaum noch anschieben. Etwas drastisch ausgedrückt: Deutsche Verteidigungspolitik beginnt im Bundestag im Ausschuss für Inneres und Heimat.

Im Bundestag hat die Union unter dem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz kürzlich bei der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz eine Niederlage erlitten. Trotz viel kritisierter Unterstützung durch die AfD. Haben sich die Fronten nicht eher noch verhärtet, der Kulturkampf verschärft?

Der Zeitpunkt für die Abstimmung war ungünstig gewählt. Merz wollte zu viel, er wollte es auch zu früh. Das war ein kurzfristiger taktischer Fehler. Nach der Bundestagswahl werden wir deutlicher sehen, wie die langfristige Strategie der Union in den zentralen Fragen lautet. Wichtig ist vor allem eine Sache: Bei den Briten, Franzosen und Amerikanern konnten wir in den letzten 20 Jahren beobachten, wie die Handlungsfähigkeit des Staates erodiert ist, da sich die Spitzenpolitiker zu lange mit Streitereien statt mit großen Reformkompromissen beschäftigt haben. Das ist auch den Bürgern nicht verborgen geblieben. In Deutschland sollte es nicht so weit kommen, insofern kommt der Bundestagswahl und noch mehr der Koalitionsbildung im Anschluss eine besondere Bedeutung zu.

In Ihrem Buch vergleichen Sie Deutschland mit einem Apfelbaum, der nun der Pflege bedürfe. Wieso?

Das Bild gefällt mir und es trifft auch zu. Wir reden sehr viel über die zahlreichen Äpfel, die an den Zweigen hängen, also die politischen Detailvorschläge. Das ist schön und gut, aber wenn die Äste, der Stamm und die Wurzeln, auf denen der deutsche Staat ruht, nicht in Ordnung sind, haben wir ein Problem. Da müssen wir zunächst ansetzen, dann können die Äpfel auch schön reifen. Anschließend ist Deutschland für Herausforderungen in allen Politikbereichen gut gewappnet.

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Sie glauben wirklich daran, dass Deutschland das neue Amerika werden kann?

Wir müssen uns zunächst klarmachen, dass Deutschland viel handlungsfähiger ist, als wir glauben. Es gibt bei uns diesen deutschen Hang zur Selbstverzwergung, der historisch gewachsen ist. Davon müssen wir uns lösen. Wir brauchen eine eingehende politische und gesellschaftliche Debatte über die deutschen Interessen, möglichst ohne Einmischung durch gut lobbyierende Partikularinteressen, erst recht ohne Einmischung autoritärer Mächte wie Russland. Werfen wir doch einmal einen Blick auf die realen Rahmenbedingungen Deutschlands: Wirtschaftskraft, Schuldenstand, Reformfähigkeit und Bevölkerungskomposition. Politiker aus der ganzen Welt würden doch vor Begeisterung in die Hände klatschen, wenn sie die deutschen Rahmenbedingungen vorfinden würden. Daraus ergibt sich die enorme optimistische Grundidee dieses Buches: Deutschland kann so viel mehr. Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wir sind jetzt die Guten.

Damit werden Sie sicher weite Kritik hervorrufen.

So ist es aber. Deutschland hat sich über viele Jahrzehnte an anderen orientiert, an Franzosen, Briten und Amerikanern. Die USA waren der Leuchtturm der Demokratie, bei allen Fehlern, die sie auch begangen haben. Davon müssen wir uns nun verabschieden im Zeitalter eines Donald Trump – und wer immer ihm nachfolgen wird. Wir sind nun die Guten, nicht weil wir "besser" oder "fleißiger" als andere wären, sondern weil wir diese exzellenten Ausgangsbedingungen haben, um unsere liberale Demokratie zu sichern. Deutsche Interessen, klar definiert und von einer tragfähigen Strategie flankiert, können Deutschland zur mächtigsten liberalen Demokratie in einer Welt machen, in der es immer mehr instabile und aggressive Autokratien gibt. Das ist doch gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eine positive Zukunftsvision.

Zunächst stehen aber die Bundestagswahlen an, die auch von den seitens der Union angestrengten Abstimmungen zur Migration überlagert werden. Wie lässt sich in dieser Stimmung bei SPD und Grünen überhaupt für eine Koalition mit der Union werben?

Tatsächlich kam es zu einem epischen Flurschaden, der zudem überhaupt keinen politischen Gewinn für die Union mit sich brachte. Die anstehenden Koalitionsverhandlungen dürften sehr schwer werden, aber wenn die Union die Wahl gewinnt, wird sie sie führen müssen. Ihr Interesse an einer von der AfD tolerierten Minderheitsregierung ist gering, zumal das die Union zerreißen dürfte. Insgesamt ist die Lage schwierig, aber kontrollierbar. In Sachen AfD ist auch keine der anderen Parteien völlig unschuldig.

Worauf wollen Sie hinaus?

Eine Tatsache müssen wir uns klarmachen: Das Fehlverhalten aller demokratischen Parteien – von Grünen, SPD über FDP und CDU/CSU – hat seit vier Jahren dazu geführt, dass die AfD derart groß geworden ist. Jeder, der nach der Wahl nun am Tisch für Koalitionsverhandlungen sitzen wird, ist somit Teil des Problems, aber eben auch Teil der Lösung. Es gibt doch zahlreiche Hebel, um die zunehmende Polarisierung in Deutschland einzudämmen. Die Lösung der Migrationsfrage ist dabei nur ein Aspekt.

Was schwebt Ihnen noch vor?

Deutschland befindet sich im Dauerwahlkampf, immer wird irgendwo gewählt. Nehmen wir die drei ostdeutschen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen letztes Jahr, die auch zum medialen Großereignis avancierten. In diesen drei Bundesländern leben allerdings zusammengerechnet weniger Menschen als in Nordrhein-Westfalen. Was ist also mein Vorschlag? Wahltermine können gebündelt werden, so dass alle in einer Legislaturperiode anstehenden Wahlen nur an ein oder zwei Terminen stattfinden. Zugleich könnten Legislaturperioden um ein Jahr verlängert werden, um kurz nach einer Wahl nicht schon wieder in den nächsten Wahlkampf überzugehen. Darüber hinaus gibt es noch viel mehr Möglichkeiten, unsere Demokratie abzusichern, die aktuell kaum besprochen werden.

Eine andere Frage: Wie teuer wird es werden, wenn Deutschland das neue Amerika werden sollte?

Das wird Deutschland einiges kosten, wir müssen sehr, sehr viel Geld investieren, um das Potenzial der deutschen Ressourcen zu entfalten. Aber es sind "schwäbische Schulden", also Schulden, die uns viel mehr Geld einbringen werden, als wir zuvor investiert haben. Es gibt unzählige Berechnungen, die zeigen, dass wir für jeden 100 Euro "schwäbische Schulden" mindestens 105 Euro, eher 110 Euro herausbekommen. Die Schuldenbremse muss sowieso reformiert werden, um die Herausforderungen zu meistern.

Haben Sie eine Zahl für mich?

800 Milliarden Euro kann Deutschland ohne Weiteres in seine Zukunft investieren. Wir zehren derzeit von Strukturen, die bis in 1950er-Jahre zurückreichen, das geht so schlicht nicht weiter. Der Staat muss wieder Handlungsfähigkeit ausstrahlen, er darf die Bürger nicht einengen oder gängeln, sondern sollte ihnen Freiräume eröffnen. Dafür braucht es mehrere weitreichende Reformen im Steuerrecht, der Verwaltung, der Sozialpolitik und vieles mehr. Aber das Gute ist: All dies ist möglich. Wir müssen nicht die Welt aus den Angeln heben, nur etwas mutiger sein. Wir können das. Deutschland ist ein ungeschliffener Diamant.

Haben Sie tatsächlich Hoffnung, dass Deutschland in die Rolle hineinwachsen kann, die Sie skizzieren?

Selbstverständlich. Wir haben doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder raufen wir uns zusammen oder wir meckern weiter übereinander rum und bleiben so zur Untätigkeit verdammt. Dann steuern uns zukünftig die Führer autoritärer Staaten, die Bosse von Internetgiganten und die AfD, die ihre eigenen Pläne hegt. Wir dürfen auch die Bedeutung der Stunde nicht vergessen. Zahlreiche kleinere Staaten Europas, auch viele Kräfte in Großbritannien und Frankreich, hoffen auf deutsche Führung, wir tragen Verantwortung für unsere Nachbarn. Damit kann Deutschland beweisen, dass es seine historische Lektion gelernt hat. Entscheidend wird allerdings sein, wer nach der Wahl an den entscheidenden Machthebeln sitzt. Das sind neben dem Kanzler die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsfraktionen und natürlich der Bundesinnen- und Bundesfinanzminister.

Weil diejenige Person maßgeblich darüber entscheiden wird, ob ausreichend Geld da sein wird?

So ist es. Der zukünftige deutsche Finanzminister muss verstehen, dass die deutschen Staatsausgaben eine riesige geopolitische Bedeutung nach außen tragen, eine innere sowieso. An dieser Stelle gehört auch erwähnt, dass die Besetzung des Bundesinnenministeriums entscheidend wird: Wenn diejenige Person eine funktionierende Migrations- und Sicherheitspolitik gestaltet, die von der Bevölkerung auch so wahrgenommen wird, dann hat die AfD ein ziemliches Problem.

Herr Lochocki, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Timo Lochocki via Videokonferenz
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