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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rückzug von Stephan Weil "Ein bedeutender Einschnitt"

Der dienstälteste SPD-Ministerpräsident tritt ab – und hinterlässt eine große Lücke in der Sozialdemokratie. Kann der Nachfolger sie füllen?
Er würde gerne noch etwas hinzufügen, sagt Stephan Weil am Dienstagnachmittag, kurz nachdem er seinen Rückzug als niedersächsischer Ministerpräsident bekannt gegeben hat. Wie viele Menschen in Deutschland leide auch er unter Schlafstörungen. "Das macht dann einen anstrengenden Alltag noch anstrengender." Weil zieht kurz die Augenbrauen zusammen, als er das sagt.
Es ist nicht der einzige Moment auf dieser Pressekonferenz, in dem Weil persönlich wird. Dass ein Politprofi und Langzeit-Regierungschef Einblicke in sein Seelenleben gewährt, ist zumindest ungewöhnlich. Doch es passt zur gesamten Choreografie seines Rückzugs, es erklärt sofort und für alle einleuchtend, warum der beliebte und dienstälteste SPD-Ministerpräsident nach zwölf Jahren an der Macht aus der ersten Reihe der Politik verschwindet: "Ich bin 66 und ich merke das auch."
Stephan Weil gelingt an diesem Dienstag etwas, das nur wenige Spitzenpolitiker schaffen: einen selbstbestimmten Abgang aus der Politik. Für Weil, so viel scheint klar, fällt damit eine Last von seinen Schultern, der Rückzug ist menschlich verständlich und für ihn wohl der einzig richtige Schritt.
Für seine Partei, die SPD, jedoch könnte der Zeitpunkt kaum ungünstiger sein: Bei der Bundestagswahl hat sie mit 16 Prozent eine historische Niederlage erlitten. Gerade jetzt bräuchten die Sozialdemokraten, die aktuell mit der Union auf Bundesebene über eine Regierung verhandeln, verlässliche und erfahrene Kräfte wie Weil.
Der ewige Landesvater
Doch Weils Abgang ist beschlossene Sache – und er zeichnete sich wohl auch schon seit einiger Zeit ab. Mehrere Monate wurde getuschelt, wann es denn so weit sei, nicht nur im niedersächsischen Landesverband. Denn nicht nur dort reißt sein Abtreten ein Personalloch auf, das kurzfristig nur schwer zu füllen sein dürfte. "Stephan Weil ist ein Schwergewicht der SPD, seine Rolle ist vergleichbar mit der damaligen Rolle Angela Merkels in der CDU", heißt es aus Niedersachsen.
Weil gehört zu den erfahrensten SPD-Politikern, seit mehr als einem Jahrzehnt prägt er die niedersächsische Landespolitik – und die Bundes-SPD. Seit 2013 ist er Ministerpräsident, ein Jahr zuvor übernahm er den Vorsitz der niedersächsischen SPD. Weil galt als stabile Größe in Niedersachsen, kam mit seiner nüchternen, verbindlichen Art bei den Bürgern gut an.
In das Lob der SPD-Führung für Weil mischt sich daher auch Bedauern über den Weggang des Kollegen. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch sagt t-online: "Stephan Weil steht wie kaum ein anderer für Verlässlichkeit, Integrität und kluge Führung." Seinen angekündigten Rückzug nennt Miersch einen "bedeutenden Einschnitt".
Die saarländische Regierungschefin und Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger würdigt Weils Lebensleistung: "Stephan Weil ist ein Fels in der Brandung, sowohl für Niedersachsen als auch für die ganze SPD. Seine Ruhe und sein Verhandlungsgeschick haben so manche Ministerpräsidentenkonferenz zu sehr guten Beschlüssen geführt", so Rehlinger zu t-online.
Ungewisse Zukunft
Weils Vorzüge könnten zugleich zum Problem werden: Das Erbe, das sein designierter Nachfolger, Wirtschaftsminister Olaf Lies, antritt, ist groß. Ist Lies der Aufgabe gewachsen?
Um die Machtübergabe im zweitgrößten Bundesland Deutschlands möglichst reibungslos zu organisieren, präsentierte Weil bei seiner Abschiedsankündigung am Dienstag gleich seinen Nachfolger. Olaf Lies gehöre zu den "absoluten Leistungsträgern" in der Landespolitik. Dieser habe etwa 2022 dabei geholfen, eine Energiekrise zu verhindern.
Auch bei der Rettung der Meyer Werft habe Lies "maximalen Einsatz" gezeigt und dazu beigetragen, 20.000 Arbeitsplätze zu erhalten. Lies sei absolut integer und loyal, sagt Weil, er habe daher seinen Parteigremien vorgeschlagen, Lies als seinen Nachfolger zu wählen.
"Wir stehen vor einem Umbruch"
Reichlich Vorschusslorbeeren für den Nachfolger – über die sich Lies bei der Pressekonferenz am Nachmittag sichtlich freut. Tatsächlich gilt Lies, 57 Jahre alt, in der SPD als Pragmatiker. Führende Genossen bezeichnen ihn als "Problemlöser" und "Anpacker".
Und Lies weiß, was auf ihn zukommt. Statt in Schönfärberei übt er sich am Dienstag in nüchternem Realismus. Eine Methode, die er sich bei seinem Vorgänger Weil abgeschaut haben dürfte. "Wir stehen vor enormen Herausforderungen", so Lies. Dabei gehe es um mehr als nur um die Sicherung politischer Mehrheiten in Niedersachsen. "Wir spüren nicht zuletzt mit der Bundestagswahl, dass die Ränder immer stärker werden und wir uns Sorgen machen müssen, ob eine demokratische Mitte auf Dauer die Substanz hat."
Lies wolle daher dafür eintreten, dass in zentralen Themen eine "fraktionsübergreifende Zusammenarbeit" im niedersächsischen Landtag möglich sei. Die Menschen müssten spüren, dass sich etwas zum Besseren verändere. Es gehe um die Begrenzung der irregulären Migration, aber auch um Bildung und Digitalisierung. Die "schwierigen Zeiten" seien nicht vorbei, so Lies: "Wir stehen vor einem Umbruch."
"Ein zugewandter Macher"
Die Aufgaben, die vor Lies liegen, sind vielfältig. So investiert Niedersachsen seit Jahren zu wenig in seine Infrastruktur, die Gewaltkriminalität ist zuletzt gestiegen, das Vertrauen der Bürger in die Lösungskompetenz der Politik sinkt, wie überall in der Republik.
2027 wird in Niedersachsen gewählt. Lies hat also zwei Jahre Zeit, sich als Ministerpräsident zu profilieren, die Statik der Landes-SPD zu erhalten und den negativen Bundestrend umzukehren. Schafft er das? Aus der SPD erhält Lies am Dienstag demonstrative Rückendeckung. Generalsekretär Miersch nennt Lies einen "starken Nachfolger", der die Linie Weils fortführen und eigene Impulse setzen werde.
Auch Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger findet wohlwollende Worte für den Nachfolger – formuliert aber auch klare Erwartungen: "Olaf Lies hat die große Chance, Niedersachsen in den nächsten Jahren zu prägen und bei der nächsten Landtagswahl die SPD-Führung zu behaupten." Die souveräne und geschlossene Art des Übergangs sei "schon mal ein gutes Zeichen".
Hessens Wirtschaftsminister Kaweh Mansoori (SPD) nennt Lies einen "zugewandten Macher". Lies gehöre zu den Ersten, der im Baurecht aufgeräumt habe, damit mehr günstige Wohnungen entstehen. "In der VW-Krise habe ich ihn als Kämpfer für Industriearbeit kennengelernt", so Mansoori. Und der Regionspräsident von Hannover, Steffen Krach (SPD), lobt Lies' "langjährige Regierungserfahrung, Kompetenz und klaren sozialdemokratischen Kompass".
Machtkampf in der niedersächsischen SPD
Also alles in Butter bei Niedersachsens Sozialdemokraten? Nicht unbedingt. Denn so wohlorchestriert die Staffelübergabe am Dienstag auch wirkte – hinter den Kulissen der SPD Niedersachsen ist laut Informationen von t-online bereits ein Machtkampf im Gange. "Der Rückzug Stephan Weils führt zu einer Veränderung der Machtarithmetik in Niedersachsen", heißt es im Landesverband.
Denn mit Lies' Nachrücken auf zwei Spitzenpositionen werden zugleich zwei mächtige Ämter frei: das Amt des niedersächsischen Wirtschaftsministers sowie einer der fünf Parteivize-Posten, den Lies bisher bekleidete. Die Ämter müssen nun per regionalem Proporz verteilt werden. Da sich die niedersächsische SPD in vier Bezirke aufteilt und mit Lies ein Vertreter des SPD-Bezirks Weser-Ems an die Spitze des Landesverbands rückt, stehen dem Bezirk Hannover die zwei frei gewordenen Posten zu.
Wie t-online aus Parteikreisen erfuhr, kommen derzeit vier Namen infrage: die Landtagsabgeordnete Claudia Schüßler, der Chef der SPD-Landtagsfraktion, Grant Hendrik Tonne, der Bundestagsabgeordnete Adis Ahmetović und der Regionspräsident von Hannover, Steffen Krach.
Der Machtkampf um die Nachfolge soll bald entschieden werden. "Es geht jetzt Schlag auf Schlag", sagt einer aus dem Landesverband. In den nächsten Wochen dürfte sich also zeigen, wie gut es um die Stabilität im wichtigen niedersächsischen Landesverband steht – und damit in der gesamten SPD.
- Gespräch mit Matthias Miersch
- Gespräch mit Anke Rehlinger
- Gespräch mit Kaweh Mansoori
- Gespräch mit Steffen Krach
- Eigene Recherchen