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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Proteste in den USA Das gerät außer Kontrolle
Mit den Protesten gegen den Gaza-Krieg scheint sich an amerikanischen Universitäten die Wut einer ganzen Generation zu entladen. Es ist eine explosive Mischung und für die Politik ein schwer lösbares Problem.
Bastian Brauns berichtet aus New York und Washington
Auf dem Boden des Campusgeländes der Columbia University in New York kauert Jonathan vor einer steinernen Mauer und kämpft mit den Tränen. "Entschuldigung, aber ich kann gerade nicht weitersprechen", sagt er. An der Wand vor ihm kleben ausgedruckte Fotos von Menschen, die seit mehr als sechs Monaten von Hamas-Terroristen gefangen gehalten werden. Rote Rosen liegen auf dem zum Gedenkort umfunktionierten Bauwerk. Eine Israelflagge hängt herunter. Daneben ein Banner, auf dem zu lesen ist: "Bring them home".
Jonathan Swill ist 27, jüdischer Amerikaner, und einige seiner Freunde werden nicht mehr nach Hause kommen. Langsam fängt er sich wieder: "Freunde von mir wurden auf dem Musikfestival von Leuten umgebracht, die die gleichen Tücher tragen wie diese Menschen dort unten", sagt der Student. Mit da unten meint Jonathan das Prostestcamp, das einige seiner pro-palästinensischen Kommilitonen auf dem Rasen unterhalb der Mauer mit den Opfer-Fotos errichtet haben. Fast jeder Zweite trägt dort eine Kufiya, das oft auch als Palituch oder Palästinensertuch bezeichnet wird. Jonathan kann nicht verstehen, was seine Mitstudenten sich dabei denken. "Anarchie! Was die wollen, ist einfach nur Anarchie. Sie haben keine Ahnung."
Die Lage gerät außer Kontrolle
Die schillernden Namen Yale, Harvard, Columbia oder Princeton machen seit Monaten nicht mehr mit Exzellenz Schlagzeilen, sondern mit Eskalation. Von New York über Washington, von Texas bis nach Kalifornien geraten die Universitätsproteste gegen den Krieg im Gazastreifen immer weiter außer Kontrolle. Mit Folgen nicht nur für die Studierenden, sondern auch für hilflos wirkende Politiker und Uni-Präsidenten.
Jonathan Swill ist Biochemieingenieur, hat bereits ein Unternehmen gegründet, das sich auf Gelenkprothesen spezialisiert hat. Oft lebte er schon für einige Zeit in Israel. Nach New York zurückgekommen ist er nach dem Terrorüberfall der Hamas, weil er hier noch seinen Master machen wollte. Mit anderen zusammen hat er dann die Nichtregierungsorganisation Unit 107 gegründet, mit der israelische Soldaten von New York aus mit Ausrüstung unterstützt werden sollen. Sie sammelten Geld, um Handschuhe, Thermokleidung, Socken, Batterien, Ladegeräte und Taschenlampen zu kaufen und nach Israel zu schicken.
Er erzählt, dass er hier auf dem Campus der Eliteuniversität gleich nach seiner Ankunft zu Boden gestoßen wurde. Von Leuten, die in ihm wegen der Kippa, die er damals trug, den ideologischen Feind sehen. Jonathan ist nur einer von vielen jüdischen Studenten in den USA, die von antisemitischen körperlichen und verbalen Attacken an Universitäten gegen sich berichten.
Die Universitätsleitungen der angesehensten Einrichtungen im Land wirken angesichts der Proteste überfordert. Einige Präsidenten und Präsidentinnen von Hochschulen mussten bereit zurücktreten, weil sie nicht entschieden genug gegen den grassierenden Antisemitismus vorgingen. Freie Meinungsäußerungen gelten in den USA als hohes Gut. Aber auch hier gibt es Grenzen. Um die Lage in den Griff zu bekommen, schalten sich auch hochrangige Politiker ein. An einigen Universitäten wird bereits mit harten Polizeiaktionen auch auf friedlichen Protest reagiert.
Erinnerungen an Vietnam
Behörden, Politiker und Uni-Direktoren ziehen daher große Wut auf sich, längst nicht nur von pro-palästinensischen Gruppen. Vielfach geht es dabei um mehr als nur um den Krieg in Gaza. Es sind die größten landesweiten Studentenproteste seit den Unruhen wegen des Vietnamkriegs in den späten Sechzigerjahren. Längst wirkt es, als handle es sich um die neue Bewegung einer Generation, bei der sich vieles aufgestaut hat.
Jack Chrismon studiert Internationale Beziehungen an der Universität in Austin im Bundesstaat Texas. Sein Schwerpunkt umfasst den Nahen Osten und arabische Sprachen. Er weiß um die Komplexität der Kriege und Konflikte in der Region. Der 19-Jährige hat sich weder den pro-palästinensischen noch den pro-israelischen Demonstranten auf seinem Campus angeschlossen. Doch was vergangene Woche auf seinem Campus geschah, schockiert ihn trotzdem. "Ich mache mir große Sorgen. Dutzende meiner Kommilitonen wurden festgenommen. Sogar ein Journalist von Fox News wurde in Gewahrsam genommen", berichtet Jack.
Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, will die Proteste auf dem Gelände offenbar um jeden Preis beendigen und schickte Hundertschaften von gleich drei verschiedenen Sicherheitseinheiten. Selbst die Nationalgarde steht bereit, ist aber noch nicht involviert.
Sie kamen mit Pferden, auf Motorrädern, bewaffnet mit Schlagstöcken und mit Pfefferspray. Per E-Mail machte der Polizeichef in Austin den Studierenden klar: Wer sich nicht an die Aufforderung hält, den Protest auf dem Gelände zu beenden, der begeht Hausfriedensbruch und kann festgenommen werden. "Diese Aktionen haben die Proteste erst recht angefacht", erzählt Jack. So eine Art von Polizeipräsenz habe er noch nie gesehen. "Um ehrlich zu sein, habe ich so etwas überhaupt noch nirgends gesehen."
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Es geht inzwischen um sehr viel mehr als Gaza
Jack Chrismon bestätigt, dass die Wut vieler Studierenden sich inzwischen nicht nur gegen den Krieg in Gaza richtet. "Es gibt eine generelle Frustration über die Administration", sagt er. Eine Polizeieinheit, die den Campus stürmte, sei ausgerechnet jene Einheit gewesen, die bei dem tödlichen Grundschul-Massaker in der texanischen Stadt Uvalde im Jahr 2022 versagt und viel zu spät eingegriffen hatte, um den Amokläufer unschädlich zu machen. Er ermordete 19 Kinder und 2 Lehrer.
Aus Sicht der Studenten von Austin ist die jetzige Erstürmung ihres Campus unverhältnismäßig. Der Frust vieler Studierender rührt laut Jack Chrismon auch daher, dass die republikanische Regierung von Texas mit ihrer Gesetzgebung gegen sexuelle Minderheiten vorgeht. Zu spüren bekommen das demnach insbesondere Fakultäten, die sich mit Gender Studies beschäftigen. "Der Gaza-Krieg kommt jetzt quasi noch obendrauf", sagt Jack.
Politiker machen Wahlkampf mit den Protesten
An der Columbia University in New York steht das Protestcamp noch. Zwar setzte Uni-Präsidentin Nemat "Minouche" Shafik auch hier Ultimaten und drohte mit dem Einsatz der Nationalgarde. Am Himmel kreisen immer wieder Helikopter. Doch bislang verstrichen die Fristen. Die New Yorker Polizei hat das Universitätsgelände lediglich weiträumig abgesperrt und lässt nur noch Angehörige der Einrichtung per Ausweiskontrolle hinein. Selbst Journalisten dürfen sich nur während eines Zeitfensters von zwei Stunden am Nachmittag auf dem Campus aufhalten.
Das hat einen Grund: Weitaus radikalere pro-palästinensische Demonstranten blockieren immer wieder die Straßen vor der Universität. Darunter gibt es Menschen, die sagen, der Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober habe nicht stattgefunden. Das sei israelische Propaganda. Gebannt schauen nun alle auf das jüngste Ultimatum, das an diesem Montag um 14 Uhr endet (20 Uhr mitteleuropäischer Zeit).
Schon in der vergangenen Woche hatte sich Mike Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, auf den Weg nach New York gemacht. Auf den altehrwürdigen Steinstufen versicherte er Jonathan Swill und den anderen jüdischen Studierenden an der Columbia University: "Ihr seid nicht allein". Der drittmächtigste Politiker Washingtons wollte damit ein politisches Zeichen setzen und auch ein bisschen Wahlkampf machen.
Denn die Republikaner wissen: US-Präsident Joe Biden steckt beim Thema Israel und Gaza in einer innerparteilichen Zwickmühle. Die Solidarität mit Israel kann und will Biden nicht aufkündigen. Zugleich brodelt unter den Demokraten die Wut bei jenen, die auf die Menschenrechtslage im Gazastreifen aufmerksam machen wollen. Es besteht die Möglichkeit, dass der US-Präsident deswegen empfindliche Stimmeinbußen im November hinnehmen muss. (Mehr dazu lesen sie hier)
An der Columbia University wirkte Mike Johnson allerdings alles andere als willkommen. Er forderte den Rücktritt der Universitätspräsidentin Nemat "Minouche" Shafik, weil diese das Chaos und die antisemitischen Angriffe einfach nicht in den Griff bekomme. Doch seine Worte gingen immer wieder unter, weil eine Masse von pro-palästinensischen Studenten unterhalb der Stufen im Chor brüllte: "Mike, you suck" (Mike, du bist Scheiße). Weil Shafik mit der Nationalgarde drohte, wollten die Studenten sie zwar auch loswerden. Aber der Republikaner galt ihnen als ganz besonderer ideologischer Feind.
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Die Lage wirkt unübersichtlich
Vor dem Protestcamp steht Mohammad Hemeida. Geboren wurde er in Ägypten. Seine Eltern zogen mit ihm in die USA, als er in die Mittelstufe seiner Schule kam. An der Columbia studiert der 20-Jährige Politikwissenschaften und Geschichte. Er ist einer der Organisatoren des Protestcamps. "Uns geht es um Divestment", sagt Mohammad. Er meint damit, dass er und seine Mitstreiter mit ihren Studiengebühren den Krieg Israels im Gazastreifen nicht unterstützen wollen. Amerikanische Universitäten legen das Geld ihrer Studierenden teils in Fonds an. Auf diese Weise, so die Kritik der Demonstranten, würden Unternehmen finanziert, darunter auch Rüstungskonzerne, die Israel beliefern.
"Der Genozid, der seit Oktober in Palästina vor sich geht, betrifft viele Studenten und Fakultäten", sagt Mohammad. Auf die Frage, warum er von einem Völkermord spricht, und ob er glaube, dass Israel wirklich alle Palästinenser planmäßig auslöschen wolle, antwortet er: "Ich denke, die Frage, ob Israel buchstäblich jeden einzelnen Palästinenser beseitigen will, ist irrelevant. Denn dass sie fast 40.000 Menschen umgebracht haben, ist ein Fakt." Und sie würden noch mehr töten, und zwar mit seinem und dem Geld der anderen Studentinnen und Studenten.
Ihr Protest auf dem Campus sei nicht antisemitisch, beteuert Mohammad. "Wir haben hier Leute mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Es sind auch viele jüdische Studenten mit dabei. Neulich haben wir hier auch gemeinsam den Sabbat gefeiert." Als hier auf dem Campus im November die ersten Studenten festgenommen wurden, seien darunter auch Juden gewesen. Es waren Aktivisten der linken amerikanischen Organisation Jewish Voice for Peace.
Der Konflikt an den amerikanischen Universitäten wirkt derzeit unlösbar, auch weil eine klare Einteilung in erlaubten und nicht erlaubten Protest nicht so einfach möglich ist. Denn unter die vielen friedlichen Demonstranten mischen sich eben auch viele mit klar antisemitischen Parolen und solche, die den Staat Israel am liebsten auslöschen wollen.
Die Situation ist mittlerweile so verfahren, dass in diesem Jahr in vielen Städten wohl die Abschlussfeiern ausfallen werden. Die Universitätsleitung der University of Southern California in Los Angeles hat ihre sogenannte Graduation aus Sicherheitsgründen bereits abgesagt. Der jüdische Columbia-Student Jonathan Swill hat auch keine Antwort darauf, wie der Konflikt an seiner Universität am besten beigelegt werden kann. "Ich hoffe auf die Zeit nach den Abschlussfeiern. Dann werden viele einfach nicht mehr auf das Gelände dürfen, weil sie dann exmatrikuliert sind."
Für die Demokraten bleiben die Proteste ein großes politisches Problem. Wenn im August Joe Biden beim Parteitag in Chicago offiziell zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden soll, könnte es erneut eskalieren. Im nahegelegenen Bundesstaat Michigan lebt die größte arabische Minderheit im Land, und der Widerstand gegen den Gaza-Krieg ist besonders hartnäckig. Verschiedene Gruppen, darunter auch viele Studenten, haben bereits große Demonstrationen angekündigt.
- Eigene Recherchen vor Ort in New York
- Interview mit Jonathan Swill
- Interview mit Mohammad Hemeida
- Telefongespräch mit Jack Chrismon aus Austin, Texas