USA nach "Roe v. Wade" Frenetischer Jubel und unbändiger Zorn
Das Abtreibungsurteil des Supreme Courts spaltet die USA. Landesweit entluden sich die Emotionen – Freude und Entsetzen gleichermaßen.
Frenetischer Jubel auf der einen, unbändiger Zorn auf der anderen Seite: Die historische Entscheidung des Supreme Court in Washington, das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung nach fünf Jahrzehnten zu kippen, hat heftigste Reaktionen in den USA ausgelöst und stellt das Land vor eine Zerreißprobe. Landesweit gingen am Freitag Befürworter und Gegner der Entscheidung des höchsten US-Gerichts auf die Straße.
Vor dem Supreme Court versammelten sich Anhänger beider Lager und brachen entweder in Jubel oder in Zorn aus. "Es ist hart, sich vorzustellen, dass man nun in einem Land lebt, in dem Frauen nicht als menschliche Wesen respektiert werden", sagte die Demonstrantin und zweifache Mutter Jennifer Lockwood-Shabat. Abtreibungsgegnerin Gwen Charles dagegen war begeistert: "Auf diesen Tag haben wir lange gewartet", so die 21-Jährige.
"Vermutlich reaktionärster Oberster Gericht in der Geschichte"
Aus Protest gegen die Entscheidung der Richter gingen auch in New York, Miami und dutzenden weiteren US-Städten tausende Demonstranten auf die Straße. In New York skandierte eine wütende Menge: "Abtreibung ist ein Menschenrecht, nicht nur für die Reichen und Weißen." Gouverneurin Kathy Hochul sprach vom "vermutlich reaktionärsten Obersten Gericht in der Geschichte unserer Nation". Die Demokratin versprach, New York werde wie auch andere liberale Bundesstaaten ein "sicherer Hafen" für alle sein, die in ihren eigenen Staaten keine Abtreibungen vornehmen lassen können.
Im US-Bundesstaat Missouri hingegen demonstrierten Abtreibungsbefürworter vor der letzten Klinik, die dort bislang noch Abtreibungen vornahm. Missouri und mehrere weitere Bundesstaaten erklärten im Gefolge der Entscheidung bereits ein Abtreibungsverbot.
Der Supreme Court hatte am Freitag das seit 1973 landesweit geltende Grundsatzurteil aufgehoben, das mit der Bezeichnung "Roe v. Wade" Geschichte geschrieben hatte. Durch die Entscheidung wird in den USA die rechtliche Situation von vor 50 Jahren wieder hergestellt: Schwangerschaftsabbrüche sind zwar nicht automatisch illegal, den einzelnen US-Bundesstaaten steht es jedoch frei, diese zu erlauben, einzuschränken oder gänzlich zu verbieten.
Bereits am Freitag hatten in mehreren Großstädten der USA Tausende Menschen spontan gegen das Urteil protestiert, darunter in der Hauptstadt Washington, in New York, Los Angeles, San Francisco, Chicago, Austin, Denver und Philadelphia. In New York demonstrierten allein im Washington Square Park in Manhattan mindestens 1000 Menschen für das Recht auf Abtreibung. Demonstranten hielten am Freitagabend (Ortszeit) Schilder mit Aufschriften wie "Mein Vergewaltiger hat mehr Rechte als ich" in die Höhe und skandierten Slogans wie etwa "Abtreibung ist ein Menschenrecht". In den nächsten Tagen dürften weitere Demonstrationen folgen.
Wie positionieren sich die US-Staaten?
Die US-Bundesstaaten dürfen über das Recht auf Abtreibung entscheiden. In rund der Hälfte der Staaten dürfte Abtreibung jetzt stark eingeschränkt oder verboten werden.
In vielen Staaten wie etwa Missouri oder Oklahoma drohen Ärzten, die Abtreibungen durchführen, lange Gefängnisstrafen. Die Gouverneure unter anderem aus Kalifornien, Oregon, Washington, Massachusetts, New Jersey und New York bekannten sich hingegen zu ihrer liberalen Haltung bezüglich Abtreibungen. Frauen können nun theoretisch in diese Staaten reisen, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Allerdings können sich das viele nicht leisten. Befürchtet wird, dass wieder vermehrt Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.
In Staaten wie Arkansas, Kentucky oder Louisiana sind Abtreibungen durch das Urteil nicht mehr erlaubt – auch nicht bei Vergewaltigungen oder Fällen von Inzest. Ausnahmen gibt es in der Regel nur für medizinische Notfälle. Eine Reihe liberaler Staaten kündigte dagegen an, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche weiter schützen zu wollen.
Einige Staaten hatten Verbotsgesetze vorbereitet für den Fall einer anderen Rechtssprechung – sogenannte Trigger Laws. In einigen Bundesstaaten treten sie nun sofort in Kraft, in anderen dauert es etwa einen Monat. In manchen Staaten braucht es eine formale Bestätigung des Generalstaatsanwalts oder Gouverneurs.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP