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Zum journalistischen Leitbild von t-online.USA-Impflotterien als Vorbild für Deutschland Die unerwartete Wirksamkeit
Trotz großer Fortschritte scheint auch in Deutschland die Bereitschaft zum Impfen zu sinken. Ein Problem, dem die USA schon lange mit kuriosen Lotterieaktionen begegnen. Das hat einen entscheidenden Vorteil.
Ob kostenlose Burger-Menüs in New York oder kostenlose Jagdlizenzen in Maine – in den USA lassen sich Behörden und Unternehmen immer weitere Ideen einfallen, um die ins Stocken geratene Impfkampagne wieder zum Laufen zu bringen. So gibt es Gewehre und Pickup-Trucks in West-Virginia oder gar Gratis-Cannabis, Bier, Wein und Cocktails im Bundesstaat Washington.
Zwar wird das von US-Präsident Joe Biden eigentlich schon für den 4. Juli angekündigte Ziel weiterhin verfehlt: 70 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner sollten inzwischen mindestens einmal geimpft sein. Aber dennoch geht die Impfkurve weiter nach oben, wenngleich immer langsamer. Was also ist von derlei Gratis-Kampagnen überhaupt zu halten? Sollte Deutschland solche Aktionen ebenfalls anstreben, wenn auch hier wie zuletzt die Lust aufs Impfen wegen sinkender Inzidenzen allmählich nachlässt?
Kathleen Silard ist die Vorsitzende eines Krankenhauses in Stamford im Ostküsten-Bundesstaat Connecticut, nördlich von New York City. In einem Gastbeitrag für die US-Zeitung "The Hill" schrieb sie kürzlich vollkommen begeistert von dem landesweiten Erfolg, mittels öffentlicher Lotterien viele Impf-Zögerer vom Mitmachen beim Impfen gegen das Coronavirus zu überzeugen.
"Nachdem in diesem Frühjahr die erste COVID-19-Lotterie im Bundesstaat Ohio ins Leben gerufen wurde, stieg die Teilnahme an Impfprogrammen im Bundesstaat um 45 Prozent", schrieb Silard. Auch Kalifornien habe einen Anstieg um 22 Prozentpunkte bei der dortigen Impfkampagne verzeichnet, nachdem der Gouverneur Freizeitparktickets im Wert von rund 3,8 Millionen Euro verlosen ließ.
Finanzielle Anreize wirken bei Unentschiedenen
Belegen lässt sich ein direkter Zusammenhang dieser Lotteriekampagnen und einem Anstieg der Impfungen zwar nicht. Während im republikanisch regierten Ohio noch immer lediglich 48 Prozent der Bürger ihre erste Impfung bekommen haben, sind es im demokratisch regierten Kalifornien inzwischen mehr als rund 61 Prozent. Dass vielmehr die grundsätzliche politische Einstellung mit der Impfbereitschaft korreliert, legt eine kürzlich erschienene Studie der Kaiser Family Foundation (KFF) nahe.
Aber immerhin: Die Umfrage der KFF ergab, dass tatsächlich 31 Prozent der Zögerer sich von einer staatlichen Lotterie-Aktion, bei der sie eine Million Dollar gewinnen könnten, überzeugen lassen würden. Selbst Absolut-Verweigerer gaben zu zehn Prozent an, sich von möglichen Geldgewinnen umstimmen zu lassen.
Auch deshalb überzeugen die Krankenhauschefin Kathleen Silard diese Aktionen derart, dass sie in ihrem Artikel sogar vorschlägt, dieses Konzept auch auf andere Krankheiten und deren Prävention zu übertragen. Das sei für den Staat deutlich günstiger, als etwa jeden einzelnen Menschen mit Geldbeträgen zu belohnen, wie es manche Staaten auch schon versucht hätten. Es sei unerheblich, warum dieser Lotterie-Mechanismus bei den Menschen funktioniere. Wichtig sei, dass er funktioniere. "Irrationale Verhaltensweisen könnten mit irrationalen Verlockungen verändert werden", schrieb Silard. Das sei allemal besser, als Menschen Angst zu machen. "Wer will schon ans Sterben denken, wenn man daran denken kann, Millionär zu werden?"
Knauseriges Deutschland?
In Deutschland hingegen wird diese Diskussion eher zaghaft geführt. Im Interview mit t-online sagte etwa der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, Anreize wie Geschenke für Geimpfte seien nicht angemessen. "Wir müssen die Menschen vom Wert der Impfung überzeugen. Und nicht mit billigen Tricks arbeiten." Er glaube, dass die Impfbereitschaft zunehmen werde, weil die Menschen sehen würden, dass der Wert der Impfung unmittelbar spürbar sei.
Eine Anfang Mai erschienene Studie der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Fragestellung "Wie lässt sich die Impfbereitschaft in der Bevölkerung erhöhen?" untersuchte hingegen immerhin die möglichen Auswirkungen finanzieller Anreize. Zwar ging es nicht um Lotterien –vorstellbar wäre etwa das Verlosen von Bahncards 100 oder von Automobilen der Marke Tesla –aber immerhin um mögliche Geldbeträge von 25 oder 50 Euro, die pro Person ausgezahlt werden könnten. Die Wissenschaftler der Studie kamen zu dem Ergebnis, dass die finanziellen Angebote durchaus einen Effekt auf die Impfbereitschaft hätten. Ganz besonders in der Gruppe der noch Unentschiedenen, aber auch in der Gruppe der Zögerer und Skeptiker. Zwar könnten die finanziellen Anreize nicht die alleinige Lösung sein, so die Autoren, wohl aber in Kombination mit anderen Anreizsystem wie etwa dem Versprechen von Freiheiten.
In einem Interview mit dem "Spiegel" kritisierte der Spieltheoretiker und Verhaltensökonom Axel Ockenfels kürzlich die Corona-Politik der Bundesregierung als insgesamt "zu zaghaft, zu knauserig und zu risikoscheu". Zur Steigerung der Impfmotivation riet er im nächsten Schritt deshalb zu einer Impflotterie. An dieser sollten alle Bürger automatisch teilnehmen. Gewinnen könnte aber nur, wer bereits geimpft ist. Ockenfels sprach sich für hohe Millionenbeträge aus, weil so "die Lotterie zum interessantesten Gesprächsthema Deutschlands" werden könnte.
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Das Impfthema präsent halten
Tatsächlich liegt der echte Gewinn der kuriosen Impfaktionen in den USA darin, dass die Medien landesweit und sogar international darüber berichten. Die National Governors Association (NGA), eine Organisation, in der alle US-Gouverneure vertreten sind, listet auf ihrer Webseite derzeit alle staatlich organisierten Impf-Anreizaktionen von Alabama bis West Virginia. In Illinois verschenkt die Regierung 50.000 Eintrittskarten für die Freizeitparks Six Flags. Kalifornien lockt mit kostenlosen Surfkursen in San Diego. Auf Hawaii gibt es Pizza, Spa-Besuche oder Gutscheine für Low-Carb-Produkte.
Aber so kreativ die USA auch um Impflinge werben, tatsächlich können die Anreizprogramme vom kostenlosen Fahren auf dem Talladega Superspeedway in Alabama bis zum College-Vollstipendium und zu maßgefertigten Jagdgewehren in West Virginia über eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: Zwar liegt in vielen US-Bundesstaaten die Impfquote bereits bei um die 70 Prozent. In 22 von 50 US-Bundesstaaten aber haben nicht einmal 50 Prozent der US-Bürger ihre erste Impfung erhalten. Die niedrigste Erst-Impfquote haben derzeit Idaho und Mississippi mit gerade mal 36 Prozent. Gefolgt von Louisiana, Wyoming und Alabama mit 38, 39 und 40 Prozent. Texas, Alaska, Kentucky und Nevada kratzen immerhin an der 50-Prozent-Marke, was immer noch 20 Prozentpunkte von Bidens Impf-Ziel entfernt ist.
Von diesen 22 "Unter-50-Prozent-Staaten" werden fast alle von Gouverneuren der Republikaner regiert, nur in Louisiana, North Carolina, Kentucky und Nevada tragen Gouverneure von den Demokraten die politische Verantwortung. Vor wenigen Tagen warnte deshalb der Immunologe und Chefberater des US-Präsidenten in Gesundheitsfragen, Anthony Fauci, es dürfe nicht dazu kommen, dass es "zwei Amerikas" gebe – ein geimpftes und ein nicht-geimpftes. Die gesundheitlichen Gefahren einer solchen Spaltung zwischen den oft ländlicher geprägten republikanischen "Red States" und den eher urbanen demokratischen "Blue States" sind bekannt: Im nicht geimpften Teil der Bevölkerung können sich neue Virusmutanten, wie die aktuelle Delta-Variante, rasant verbreiten und dann zu immer neuen, noch resistenteren Mutationen führen, die dann wiederum auch die schon geimpften Menschen gefährden könnten.
In Anbetracht der Delta-Gefahr für das ganze Land appellierten nun die drei republikanischen Gouverneure von Arkansas, West Virginia und Utah an ihre Einwohner, die eigene Impf-Skepsis bitte endlich zu überwinden. "In den Red States gibt es wahrscheinlich viele Leute, die sehr, sehr konservativ denken und denken: 'Nun, das muss ich nicht machen.' Aber sie denken nicht richtig", sagte etwa der Gouverneur von West Virginia, Jim Justice, dem TV-Sender ABC. Arkansas' Regierungschef Asa Hutchinson drückte auf CNN seine "große Sorge" aus und sprach von einem "Rennen" gegen die Delta-Variante.
Die Grafik zeigt den prozentualen Anteil der Einwohner in den USA und in Deutschland, die bereits die erste Impfdosis erhalten haben (Quelle: Our World in Data):
Aufklären bleibt wichtiger Faktor
Die kürzlich erschienene Studie der Kaiser Family Foundation gibt indes Aufschluss über die gesellschaftlichen Gruppen, die eine zögerliche bis verweigernde Haltung zum Impfen haben. Die Macher der repräsentativen Umfrage fanden heraus, dass vor allem weiße evangelikale Christen (58 Prozent), junge Menschen im Alter von 18 bis 29 Jahren (55 Prozent), Menschen in ländlichen Gebieten (54 Prozent), Wähler der Republikaner (52 Prozent) und nicht-krankenversicherte Menschen unter 65 (48 Prozent) zögern, sich impfen zu lassen.
Die Wissenschaftler der deutschen Humboldt-Studie konnten hingegen nicht feststellen, dass es einen signifikanten Unterschied gibt zwischen AfD-Sympathisanten und anderen Befragten. Auch eine große Kluft zwischen linkem und rechtem politischem Spektrum konnten sie nicht ausmachen. Umso stärker könnte es sich also hierzulande lohnen, auch auf finanzielle Anreize zu setzen. Die ideologischen Hürden zumindest scheinen in Deutschland weniger stark ausgeprägt zu sein als in den USA.
Wichtig dürfte dies- und jenseits des Atlantiks gleichwohl die Aufklärung von bestimmen Gruppen sein. Die angegebenen Gründe für die eigene abwartende oder sogar abwehrende Haltung in der KFF-Befragung in den Vereinigten Staaten lassen zumindest Rückschlüsse darauf zu, dass es auch dort mit Lotterien und anderen monetären Anreizprogrammen alleine nicht getan ist.
So würde sich ein erheblicher Teil der Zögerer und sogar ein Teil der Komplett-Verweigerer überzeugen lassen, wenn die staatliche Zulassungsbehörde FDA die Impfstoffe nicht nur per Notzulassung, sondern auch im regulären Prüfverfahren erlauben würde. Zu sehr überwiegen derzeit noch die Sorgen vor Nebenwirkungen und Langzeitfolgen. Zu schnell, so der Eindruck vieler, seien die Präparate auf den Markt gekommen, als dass sie ihnen einfach so vertrauen könnten.
In Deutschland und der Europäischen Union wurden die Impfstoffe zwar später und nach einer ausführlicheren Überprüfung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur Ema zugelassen. Dennoch sind auch hierzulande viele Menschen skeptisch. Auch eine gründliche Zulassungsprüfung hilft offenbar nur bedingt, mehr Vertrauen zu erzeugen.
In der KFF-Umfrage für die USA gaben immerhin mehr als 50 Prozent der Befragten an, dass sie bestimmte Impfmythen für wahr halten oder zumindest nicht wissen, ob sie wahr oder falsch sind. Das heißt, mehr als die Hälfte der Befragten war zumindest verunsichert darüber, ob die Impfstoffe etwa zu Unfruchtbarkeit führen könnten, das Erbgut oder Embryos schädigen, oder ob sie sogar Covid-19 durch die Impfung bekommen könnten. Es sind Ängste, Unwissen und Falschmeldungen, die auch in Deutschland verbreitet sind. Dagegen hilft am Ende auch keine Lotterie.
- Eigene Recherchen
- Kaiser Familiy Foundation: KFF COVID-19 Vaccine Monitor (Englisch)
- The Hill: COVID Vaccine lotteries are working (Englisch)
- Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: Wie lässt sich die Impfbereitschaft der Bevölkerung erhöhen?
- Washington Post: 'We are in a race' (Englisch)
- Der Spiegel: "Zu zaghaft, zu knauserig und zu risikoscheu"
- National Governors Association: COVID-19 Vaccine Incentives (Englisch)
- US Coronavirus vaccine tracker (Englisch)