Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Großbritannien vor dem Brexit Ein wenig drinbleiben oder ganz raus, das ist die Frage
Morgen ist D-Day in London, dann erleidet Theresa May eine Niederlage im Parlament über ihren Kompromiss mit der EU. So viel ist klar, ansonsten ist alles unklar.
Was immer auch der Brexit für Großbritannien und Europa bedeuten mag, eines hat die Auseinandersetzung schon bewirkt: Sie hat das Land vergiftet. Sie gibt uns eine Ahnung davon, was einer alten, stabilen Demokratie widerfahren kann, wenn sie sich entlang eines fundamentalen Problems halbiert.
Was als Akt der Demokratie startete, entwickelte sich zu einem Akt der Selbstverstümmelung. Großbritannien ist Klein-Amerika, gespalten in Dafür und Dagegen, für den Brexit und gegen ihn. Das parlamentarische System ist gelähmt und dysfunktional. Dafür haben zuerst die Clowns gesorgt, Leute wie Boris Johnson, der mal ein kurioser Bürgermeister von London war, oder Jacob Rees-Mogg, der wie eine der skurrilen Erfindungen von Monty Python aussieht, aber leider wirklich ein reicher, gelangweilter Snob ist.
Die Clowns haben die Gullys geöffnet – und Spaß daran
Mittlerweile mischt der Mob draußen vor dem Parlament mit und bestimmt die Regeln. Er lauert konservativen Abgeordneten auf, die gegen den Brexit sind, und verunglimpft sie als Faschisten, Verräter, als Nazis. Ein prominenter Onlinekommentator, der von ganz links nach ganz rechts lustwandelte, mokierte sich über Jo Cox, eine Labour-Abgeordnete, die kurz vor dem Referendum von einem Mann ermordet wurde, weil sie gegen den Brexit war. Die Clowns haben die Gullys geöffnet und erfreuen sich auch noch daran.
Vor zweieinhalb Jahren stimmte eine winzige Mehrheit von 51,9 Prozent für den Auszug aus der Europäischen Union. Mehrheit ist Mehrheit, so ist das nun einmal in der Demokratie. Die knappe Mehrheit in einer für ein Land existenziell wichtigen Entscheidung kann aber eine Wunde aufreißen, die lange nicht mehr heilt, wenn überhaupt.
Morgen ist D-Day. Theresa May, die Premierministerin, lässt über ihren Kompromiss abstimmen, wonach Großbritannien noch einige Zeit Mitglied der Europäischen Union bleiben soll und erst nach diesem Übergang gänzlich ausscheidet. Kommt es so, wie es aussieht, lehnen ihre eigenen Parteifreunde die abgemilderte Form des Brexits im Parlament ab. Sie möchten es schärfer, sie hassen Kompromisse und verachten Theresa May, die seit dem Referendum keine besonders glückliche Figur abgab und hilflos gegen ihre destruktiven Gegner ist, was man ihr nicht einmal verdenken kann.
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Verliert sie die Abstimmung, hängt vieles von der Labour Party ab, der linken Opposition. Jeremy Corbyn, ihr Vorsitzender, hat sich darauf festgelegt, einen Misstrauensantrag zu stellen, der vermutlich keine Mehrheit finden wird, womit die Absurdität sich abrundet: Die Regierungspartei verweigert der Premierministerin ihr Vertrauen und schenkt es ihr einen Tag später wieder. Warum? Weil es sonst Neuwahlen gäbe, die Labour aller Voraussicht nach gewinnen würde, was weder die Clowns noch der rechte Mob zulassen wollen.
Pragmatismus ist eine britische Errungenschaft
Das Grundübel liegt in dem grassierenden Mangel an Ernsthaftigkeit. Es war David Cameron, der damalige Premierminister, der auf die Idee verfiel, ein Referendum über die Zugehörigkeit zur EU zu halten. Er rechnete mit einer satten Mehrheit wie 1975, als das Land mit einer Zweidrittelmehrheit für den Verbleib gestimmt hatte, trotz aller Ambivalenz gegen Brüssel. Folglich ließen Cameron und seine konservative Partei die Sache einfach laufen.
Die Labour Party machte es nicht besser. Wie die Tories ist sie in Freunde und Feinde der EU gespalten, sodass die Führung sich fein zurückhält, das kennen wir von der SPD. Der Parteichef Corbyn schaute zu, erfreute sich an der Selbstzerstörung der Regierung und hoffte darauf, Premierminister nach Neuwahlen zu werden. Nur eines machte er nicht: Labour zum Fürsprecher, dass Großbritannien in der EU bleibt und schon gar nicht zum Befürworter eines zweiten Referendums über den Kompromiss, den Theresa May aushandelte.
Zu den schönen Errungenschaften, die wir den Briten verdanken, gehört der Pragmatismus. Er ist die kongeniale Denkungsart für die Demokratie, denn er berücksichtigt die Gegenargumente und behauptet nicht, er sei im Besitz der Wahrheit. Pragmatismus ist auch menschlich, indem er im demokratisch Andersdenkenden nicht den Feind sieht, geschweige denn ihm unterstellt, er untergrabe das System. Mehr oder weniger kultiviertes Verhalten ist der Normalfall, den wir gewohnt sind. Gewohnt waren, sollte ich sagen, denn der herkömmliche Pragmatismus ist bedroht, keine Frage. In Großbritannien. In Amerika. In Frankreich. In Italien. In Deutschland, wenn auch erst in den Anfängen.
Momentan hat in Großbritannien niemand die Kontrolle
Theresa May verkörpert den Pragmatismus in seiner geschwächten Form. Sie handelte den Einstieg in den Ausstieg aus und wer wollte, konnte sich denken: Die Briten bleiben drin und wer weiß, wie sie in zwei Jahren darüber denken. Vielleicht haben sie bis dahin gemerkt, dass sie wirtschaftlich, sozial und kulturell unter den Folgen des Brexits leiden und bleiben weiterhin lieber halb drin, als ganz raus zu gehen.
Diesen verschwiemelten Nicht-Ausstieg wollen ihre Gegner verhindern und der Mob sowieso. So bleibt nur die Alternative, dass sich am Ende doch der May-Kompromiss irgendwie durchsetzt oder Großbritannien ohne Vertrag die Europäische Union am 29. März verlässt.
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"Take back control" lautet der Schlachtruf der Brexit-Enthusiasten. Momentan hat in Großbritannien niemand die Kontrolle über den Fortgang der Dinge. Jeder denkt nur von Ereignis bis Ereignis, obwohl jeder behauptet, im Besitz von Wahrheit und Strategie zu sein. Wäre an der Zeit, dass sich irgendjemand zum guten alten Pragmatismus aufrafft. Nur wer?