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Unabhängigkeit von Putin? EU lässt anderen Autokraten profitieren


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Gas-Abkommen mit Aserbaidschan
Unabhängigkeit von Putin? Ein anderer Autokrat profitiert


Aktualisiert am 24.07.2022Lesedauer: 6 Min.
Von der Leyen, Aliyev und Putin: Aserbaidschan hat sowohl mit der EU als auch mit Russland engere Zusammenarbeit vereinbart.Vergrößern des Bildes
Von der Leyen, Aliyev und Putin: Aserbaidschan hat sowohl mit der EU als auch mit Russland engere Zusammenarbeit vereinbart. (Quelle: Montage: U.Frey/t-online/ZUMA Press/SNA/ITAR-TASS/imago-images-bilder)
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Die EU lässt sich mehr Gas aus Aserbaidschan liefern – einem Land, das von Demokratie und Menschenrechten weit entfernt ist. Doch anders geht es kaum.

Händeschütteln mit dem Autokraten, dabei freundlich lächeln. Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag nach Aserbaidschan reiste, hatte sie ein Ziel: Das Land soll mehr Gas nach Europa liefern. Die Abhängigkeit von Russland muss schließlich abnehmen. Am Ende des Treffens stand eine Absichtserklärung: Aserbaidschan will bis 2027 doppelt so viel Gas liefern wie bisher.

Ein Erfolg für von der Leyen. Doch das Land steht in internationalen Demokratie-Rankings noch schlechter da als Russland – und hat im Krieg mit dem Nachbarland Armenien um die Region Bergkarabach ebenfalls schreckliche Kriegsverbrechen begangen. Wie passt das zusammen mit den europäischen Grundwerten? Diese umfassen schließlich auch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.

"Durch die Gaskrise hat sich die Verhandlungsposition der EU verschlechtert"

Stefan Meister, Südkaukasus-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, sagt: "Die EU ist einfach pragmatisch." Er findet, Mindeststandards sollte die EU eigentlich schon haben, gerade bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Von der Leyen thematisierte diese Themen in Baku öffentlich jedoch nicht. "Durch die Gaskrise hat sich die Verhandlungsposition der EU verschlechtert", sagt Meister. "In Baku weiß man, dass das aserbaidschanische Gas gebraucht wird und die EU es auch ohne Verpflichtungen bei den Menschenrechten kaufen wird."

Ob Katar, Saudi-Arabien oder eben Aserbaidschan: "Es bleibt nichts anderes übrig. Die meisten Länder, die Rohstoffe exportieren, sind Autokratien."

(Quelle: DGAP)


Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Zuvor leitete er zwei Jahre lang das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi, Georgien. Meister studierte Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte und ist Experte für Politik, die politische Ordnung und die Beziehungen der Staaten in Osteuropa, Russland und dem Südkaukasus.

Heftige Kritik an EU-Entscheidung

Dennoch sorgte die Annährung an Aserbaidschan für heftige Kritik: Von einem Doppelstandard ist die Rede. "Weder Putins Russland noch Aserbaidschan sind 'vertrauensvolle Partner'. Wir ersetzen gerade das eine Diktatoren-Gas durch das andere", twittert etwa der Grüne Michael Bloss, Abgeordneter im Europaparlament.

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Christian Mihr, Leiter der Organisation Reporter ohne Grenzen, schrieb: "Zur Info, Aserbaidschan steht auf der ReporterOG-Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 154 von 180". Auch von der Linken kam Kritik: "Es kommen immer neue Menschenrechtsverbrecher und Diktatoren hinzu, von denen wir Energie beziehen", sagte Żaklin Nastić, Sprecherin für Menschenrechte der Linke-Bundestagsfraktion, der Zeitung "Neues Deutschland".

Das Land unter der Regierung von Präsident Ilham Aliyev landete 2021 im Demokratie-Index der Zeitschrift "The Economist" sogar noch hinter Russland – auf Platz 141 von 167. Das Kremlregime wurde auf Platz 124 gelistet. Allerdings stammt das Ranking aus der Zeit vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Der jahrhundertealte Territorialkonflikt

Doch auch Aserbaidschan ist in einen gewaltsamen Territorialkonflikt verwickelt. Es geht um Bergkarabach – eine De-facto-Republik, auf die sowohl Aserbaidschan als auch das Nachbarland Armenien Anspruch erheben. Die Zugehörigkeit des überwiegend von Armeniern bewohnten Gebietes Bergkarabach ist seit Jahrhunderten umstritten. 1921 wurde Bergkarabach von der Führung der Sowjetunion Aserbaidschan zugesprochen.

Dagegen gab es immer wieder Proteste, bis Ende der 1980er Jahre die Situation eskalierte. Die christlichen Armenier in der Region spalteten sich vom muslimisch geprägten Aserbaidschan ab. Als schließlich Armenien in den Konflikt einstieg, kam es zum ersten Krieg zwischen den Ex-Sowjetrepubliken. Gemeinsam mit der Armee Bergkarabachs brachte Armenien die Region unter seine Kontrolle. 1994 wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, gegen das Aserbaidschan immer wieder verstieß.


Im August 2020 kam es erneut zum Krieg. Aserbaidschan startete mit militärischer Unterstützung aus der Türkei eine Offensive, die nach sechs Wochen mit einem Waffenstillstandsabkommen unter russischer Vermittlung endete. Armenien sieht Russland historisch als Schutzmacht – obwohl Moskau erst spät in den Konflikt eingriff. Das Abkommen sprach rund zwei Drittel der Region erneut Aserbaidschan zu, weshalb es als Erfolg für das Land gewertet wird. Russische Truppen sollen nun die Einhaltung des Abkommens kontrollieren – und werden so zum Sicherheitsgaranten. "Ohne russische Präsenz würde Aserbaidschan die umstrittene Region erobern", sagt Südkaukasus-Experte Meister.

Kämpfe in Bergkarabach, Verhandlungen in Moskau und Brüssel

Doch trotz des offiziellen Waffenstillstands wird noch immer gekämpft: Im November starben nach Gefechten im Grenzgebiet mindestens sechs armenische und sieben aserbaidschanische Soldaten. Im Dezember lud der russische Präsident Wladimir Putin den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev und den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan zum Krisengespräch nach Moskau. Im gleichen Monat initiierte auch EU-Ratspräsident Charles Michel ein Treffen.

Im März eskalierte dann erneut die Gewalt, drei armenische Soldaten starben durch einen Drohnenangriff. Aus Armenien kam dabei der Vorwurf, aserbaidschanische Truppen seien in einen Bereich vorgedrungen, der von den russischen Friedenstruppen kontrolliert werde – eine No-Go-Area für die Kriegsparteien. Wieder appellierte Moskau, das Waffenstillstandsabkommen einzuhalten – während die russischen Truppen längst in die Ukraine einmarschiert waren.

Ein klares Signal aus Moskau

Die Invasion der Ukraine habe auch die Situation in Bergkarabach brenzliger gemacht, sagt Politologe Meister: "Man hat gesehen, dass Russland bereit ist, in die postsowjetischen Länder einzumarschieren. Das ist ein klares Signal, an Aserbaidschan und Armenien, aber auch an Georgien: Wenn ihr euch von Russland weg orientiert, droht euch das Gleiche wie der Ukraine."

Außerdem habe Russland Truppen aus Bergkarabach abgezogen, um sie in der Ukraine einzusetzen. "Aserbaidschan hat zeitweise darüber nachgedacht, die Situation auszunutzen, um weitere Gebiete zu erobern", berichtet Meister. Diese Gefahr sei noch immer nicht gebannt.

Frieden so wahrscheinlich wie lange nicht mehr

Dennoch scheinen die internationalen Bemühungen zu fruchten: Anfang April verständigten sich Aliyev und Paschinjan unter EU-Vermittlung auf die Aushandlung eines Vertrages. "Es war lange nicht mehr so wahrscheinlich, dass es zu einem Friedensabkommen kommt", sagt auch Experte Stefan Meister. Jedoch sei der innenpolitische Druck, keine Zugeständnisse zu machen, auf beiden Seiten hoch. "Die Situation kann jederzeit wieder eskalieren. Es ist ein sehr schmaler Grat, auf dem aktuell balanciert wird."

Gleichzeitig tragen die Parteien ihren Konflikt auch vor dem wichtigsten UN-Gericht aus: Armenien und Aserbaidschan verklagen sich gegenseitig, unter anderem wegen rassistischer Diskriminierung. Der aserbaidschanische Präsident machte während des Krieges aus seinem Hass auf Armenier keinen Hehl: Armenische Menschen bezeichnete er wiederholt als "Hunde" und "Ratten", während er mit dem Vormarsch seiner Truppen prahlte: "Wir treiben sie jetzt heraus, wir werden sie wie Hunde jagen", so Aliyev in einer Rede im Oktober 2020.

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Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang

Armenien wirft dem Nachbarland zudem Kriegsverbrechen vor. Tatsächlich wurden in Bergkarabach Verbrechen von beiden Seiten dokumentiert, unter anderem ging es um Angriffe auf die Zivilbevölkerung und Folter von Kriegsgefangenen. Besonders viel Aufsehen erregten Videos, die brutale Gewalt von Soldaten gegen Gefangene und Zivilisten zeigten. Hier lesen Sie mehr darüber. (Achtung: Die Inhalte könnten verstörend wirken!)

Damit endet die Liste der aserbaidschanischen Menschenrechtsverletzungen jedoch nicht: Die Organisation Human Rights Watch beklagt allein für das vergangene Jahr, dass Oppositionelle verfolgt werden, Inhaftierte misshandelt und gefoltert, Frauen überdurchschnittlich viel Gewalt ausgesetzt sind und die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist.

"Man macht sich immer abhängig"

Dass die EU Aserbaidschan dennoch für einen geeigneteren Partner als Russland hält, habe zwei Gründe, erklärt Politologe Meister: "Erstens führt Aserbaidschan keinen großangelegten Krieg gegen ein direktes Nachbarland der EU und stellt die europäische Sicherheitsordnung nicht grundlegend in Frage". Der Krieg um Bergkarabach sei ein lokaler, nicht vergleichbar mit dem russischen Angriff auf die Ukraine. "Zweitens ist Aserbaidschan bereits ein wichtiges Lieferland von Öl und Gas nach Europa und könnte auch ein wichtiges Transitland für Rohstoffe aus Zentralasien werden."

Die Abhängigkeit von dem autokratischen Land muss die EU dabei einkalkulieren: "Man macht sich immer abhängig, wenn man von Ländern Rohstoffe bezieht oder durch Länder Pipelines baut – das ist das Risiko", sagt der Experte. Das betrifft nicht nur Aserbaidschan, sondern auch die Türkei. Denn der Südliche Gaskorridor, ein Zusammenschluss von Pipelines vom aserbaidschanischen Gasfeld Shah Deniz bis nach Italien, führt durch das EU-Nachbarland.

Profiteur Erdoğan

So profitiert auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: "Er will zu einem Verteiler für Gas aus der Region werden", so Meister. Zwar hätten sowohl Aserbaidschan als auch die Türkei ein wirtschaftliches Interesse daran, mit der EU zu handeln – und würden das kaum durch Unzuverlässigkeit riskieren wollen. "Aber wir kennen auch Erdoğan. Wenn er eine gute Verhandlungsposition hat, dann nutzt er sie auch."

Und noch etwas stärkt die Verhandlungsposition Erdoğans – jedenfalls so lange, wie das aserbaidschanische Gas für die EU aus dem Shah-Deniz-Feld kommt. Das wird zwar vom britischen Konzern BP betrieben, doch der türkische Staatskonzern TPAO ist mit 19 Prozent der drittgrößte Anteilseigner. 19,99 Prozent sind mit Lukoil gar in russischer Hand – allerdings ist der Konzern nicht staatlich. Der Lukoil-Vorstand hatte sich auch nach Kriegsbeginn noch durchaus kremlkritisch geäußert.

Lächeln fürs Foto – auch mit Putin

Einfluss übt der Kreml in Aserbaidschan dennoch aus – auch wenn das Land sich von Russland nicht abhängig machen will. "Aus aserbaidschanischer Sicht ist Russland der große sicherheitspolitische Akteur in der Region, den man nicht ignorieren kann", sagt Meister. So unterstützt das Land die Ukraine offiziell nicht, sondern nur indirekt, etwa mit humanitärer und finanzieller Hilfe. "Aserbaidschan will Russland nicht provozieren." Ziel des Landes sei eine ausbalancierte Außenpolitik: Mit Beziehungen zur Türkei, zur EU, den USA und zu Russland.

Dazu passt, dass kurz vor dem Gasabkommen mit der EU die Kaspischen Fünf – Turkmenistan, Kasachstan, der Iran, Russland und Aserbaidschan – ebenfalls eine engere Zusammenarbeit vereinbarten. So inszeniert der aserbaidschanische Präsident das Lächeln und Händeschütteln nicht nur mit Ursula von der Leyen, sondern auch mit Wladimir Putin. Die EU wird all das dulden müssen – solange ihr das Gas wichtiger ist.

Verwendete Quellen
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