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Russland im Ukraine-Konflikt: Wladimir Putins zynisches Machtspiel


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Russland im Ukraine-Konflikt
Plötzlich sind sie selbst von der Angst getrieben

Von Maxim Kireev, St. Petersburg

Aktualisiert am 11.12.2021Lesedauer: 5 Min.
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Einblick in Videogipfel: Joe Biden warnt Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt. (Quelle: Reuters)
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Russland sieht seine Taktik im Ukraine-Konflikt scheitern. Nun droht der Kreml mit einer Invasion des Nachbarlandes. Dahinter steckt eine für Putin bedrohliche Entwicklung.

Mal wieder hält Russland den Westen und die Ukraine in Atem. Seit Wochen studieren Militärexperten Satellitenbilder russischer Truppenbewegungen in Grenznähe zur Ukraine. Brüssel und Washington drohen bereits mit neuen Sanktionen, während die US-Regierung parallel offenbar Optionen für eine Evakuierung seiner Staatsbürger aus der Ukraine prüft, sollte Russland tatsächlich einmarschieren.

Russlands Präsident Wladimir Putin scheint die Situation zu genießen. Kaum einen öffentlichen Auftritt ließ er zuletzt aus, um gegen den Westen und die Ukraine zu sticheln. Mal forderte Putin schriftliche Garantien für einen Verzicht auf eine weitere Erweiterung der Nato-Militärallianz und sprach dabei von "roten Linien" Russlands.

Mal freute er sich bei einem Auftritt vor russischen Diplomaten, dass Russland den Westen unter Spannung halte und forderte seinen Außenminister auf, diesen Zustand "möglichst lange aufrechtzuerhalten". Nur so könne garantiert werden, dass russische Forderungen ernst genommen würden. Lediglich vor dem Treffen mit US-Präsident Joe Biden hat Putins Sprecher etwas versöhnlichere Töne angeschlagen.

Putin lässt keinen Zweifel an seinem Ziel

Doch auch wenn nach dem virtuellen Gipfel am Dienstag vorübergehend so etwas wie Entspannung einkehrt. Sie dürfte nicht von langer Dauer sein. Um zu verstehen, was der russische Präsident mit seinen Eskalationsrunden im Schilde führt, lohnt es sich, hinter die Fassade seiner Äußerungen zu blicken. Dann werden Moskaus mittel- und langfristige Ziele klar.

Tatsächlich hat Wladimir Putin in den letzten Jahren kaum Zweifel daran gelassen, dass er strategisch vor allem die ehemaligen Sowjetrepubliken Belarus und Ukraine an Russland binden möchte. Mindestens in einer wirtschaftlichen und politischen Union unter Moskaus Schirmherrschaft, wenn nicht in einem gemeinsamen Staat. Nicht umsonst betrachtete er die Annexion der Krim als eine seiner größten Errungenschaften.

Gleichzeitig hat der russische Präsident mehrfach betont, dass er die Völker Russlands und der Ukraine, aber auch von Belarus, im Grunde als eine Nation betrachtet. Erst in diesem Sommer legte Putin in einem Essay dar, dass die ukrainische Unabhängigkeit zum Scheitern verurteilt sei.

Viel spricht gegen eine russische Invasion

Auf den ersten Blick scheint es folgerichtig, dass Putin versuchen könnte, die Ukraine irgendwann mit Gewalt an sich zu reißen. Gleichwohl sehen die meisten Beobachter in Moskau, sowohl kremlnahe als auch unabhängige, derzeit weitaus weniger Anlass, über einen großflächigen Krieg Russlands mit der Ukraine nachzudenken, als die Öffentlichkeit im Westen oder in Kiew.

Dafür gibt es gute Argumente. Zum einen reicht der jetzige russische Truppenaufmarsch, die Rede ist von 90.000 Soldaten, die potenziell auf 175.000 Mann aufgestockt werden können, noch lange nicht aus, um die Ukraine schnell und ohne größere Opfer zu überrollen. Zudem müsste Moskau mit deutlich härteren Sanktionen rechnen, die weit über eine Stilllegung der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 hinausgehen.

Doch noch viel wichtiger ist: Es ist völlig unklar, wie Putin mit einer besetzten und feindselig gestimmten Ukraine weiter verfahren sollte. Das Land auf diese brutale Art und Weise dauerhaft zu einem Vasallen zu machen, erscheint unrealistisch. Selbst 2014 musste Russland seine Offensive in der Ukraine in erster Linie deswegen stoppen, weil die Hoffnung auf eine breite Unterstützung prorussischer Separatisten in Teilen der Ukraine westlich von Donezk und Luhansk sich nicht bewahrheitet hatte.

Der Plan geht nicht auf

Bislang hat der Kreml gegenüber der Ukraine eine Strategie des Aussitzens verfolgt und auf eine günstige Gelegenheit für neuen Druck gewartet. Ein Pfeiler dieser Strategie in Bezug auf die Ukraine war in den vergangenen Jahren das umstrittene Minsk-Abkommen. Würde es umgesetzt, würde die heute teils besetzte Ostukraine in Kiews Obhut zurückkehren. Als Region unter russischem Einfluss und mit Sonderrechten ausgestattet könnte sie die Politik in der Ukraine mitbestimmen.

Russland glaubt damit, eine engere Bindung der Ukraine an den Westen dauerhaft zu verhindern. Irgendwann, so die Hoffnung der Kremlstrategen, würden die Ukrainer den Glauben an den europäischen Kurs verlieren und wieder eine prorussische Regierung wählen. Immer wieder betont der Kreml deshalb, dass das Minsker Abkommen alternativlos und nicht verhandelbar sei.

In letzter Zeit wird jedoch immer deutlicher, dass dieser Plan nicht aufgehen kann. Der Rückhalt unter den russischsprachigen Ukrainern für russlandfreundliche Parteien und Bewegungen blieb trotz einiger Achtungserfolge bei Wahlen überschaubar. Zur gleichen Zeit hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij dafür gesorgt, dass einige russischsprachige TV-Sender als Sprachrohre der moskaufreundlichen Opposition ihre Lizenz verloren haben. Der Oligarch und Putin-Freund Wiktor Medwedtschuk, der die Sender finanziert hat, sitzt seit Monaten unter Hausarrest. Ihm wird Landesverrat vorgeworfen.

Sogar eine ukrainische Offensive ist plötzlich Thema

Parallel dazu investiert Kiew in die Modernisierung seiner Armee, beschafft neue Waffen. Darunter sind auch türkische Kampfdrohnen vom Typ Bajraktar, denen die Separatisten im Osten des Landes bislang nichts entgegenzusetzen haben. Zudem spricht sich Kiew ganz offen für eine Mitgliedschaft in der Nato aus und führte in diesem Jahr mehrere Übungen mit der westlichen Militärallianz durch.

So hat die Taktik des Aussitzens Putin seinem Ziel nicht nähergebracht. Vielmehr muss Moskau fürchten, dass der Status quo sich zu seinen Ungunsten verschiebt und sein langfristiges Ziel, die Ukraine zurück in die eigene Einflusssphäre zu zerren, in unerreichbare Ferne rückt. Vor allem in den letzten Monaten reift in Moskauer Führungsetagen die, wenn auch bislang unbegründete, Angst, dass die Ukraine sich die abtrünnigen Gebiete im Osten des Landes militärisch zurückholen könnte.

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Noch im Frühjahr warnte Putins Donbass-Bevollmächtigter Dmitry Kozak, ein ukrainischer Einmarsch im Donbass würde das Ende der Ukraine als Staat bedeuten. Dies mag wie ein Hirngespinst von Moskaus Hardlinern klingen. Doch für Putin dürfte eine solche Option durchaus realistisch erscheinen. Zumal die ukrainischen Streitkräfte mittlerweile genug Schlagkraft hätten, um zumindest die Separatisten zu zerschlagen, würde Moskau ihnen nicht den Rücken stärken.

Putin braucht eine realistische Drohkulisse

Der einzige Ausweg für Putin liegt nun darin, die ukrainische Führung abzuschrecken. So soll auch der Westen vor weiterer Unterstützung gewarnt werden.

Dmitry Trenin, einer der führenden Moskauer Experten für Sicherheitspolitik und Chef des Think Tanks Carnegie Center, bezeichnete die russischen Manöver in seiner jüngsten Analyse als Versuch, den Gegner von für Russland unerwünschten Handlungen abzuhalten. Der Erfolg dieser Taktik hänge jedoch davon ab, wie realistisch die militärische Drohung daherkommt.

Zumindest in Letzterem scheint Wladimir Putin bislang erfolgreich gewesen zu sein. Inwieweit die Situation sich dadurch jedoch dauerhaft zugunsten Moskaus verändert, bleibt zweifelhaft.

Doch selbst wenn der unwahrscheinliche und bislang unvorstellbare Fall eintritt, dass die Nato Russland schriftliche Sicherheitsgarantien gibt und auf jeglichen militärischen Beistand für die Ukraine verzichtet, wäre das für Putin nur ein Teilerfolg. Sein eigentliches historisches Ziel geht weit darüber hinaus und liegt in Kiew und in Minsk.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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