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Zum journalistischen Leitbild von t-online.EU-Konflikt mit Belarus Es droht die Kernschmelze
Alexander Lukaschenko ist nicht der erste Autokrat, der Migranten als Druckmittel benutzt. Das Problem: die Erpressung funktioniert. Europa bietet denen, die es zerstören wollen, weiterhin Angriffspunkte.
Das Chaos ist unbeschreiblich. Am Dienstag stürmen erneut Hunderte Migranten auf die polnische Grenze zu. Nach den Nächten im Wald sind sie durchgefroren, wütend und verzweifelt. Sie werfen Steine auf die polnischen Grenzschützer, auch Rauchgranaten fliegen – letztere haben sie offenbar von der belarussischen Armee bekommen. Polen reagiert mit Wasserwerfern und Tränengas, vereinzelt werden auch Warnschüsse abgegeben.
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Am Abend lässt der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko die Migranten in ein Logistikzentrum bringen, es kehrt eine trügerische Ruhe ein. Das heißt aber auch: Das Regime in Minsk lässt sein Druckmittel gegen die Europäische Union nicht aus dem Land, die Krise ist nicht vorbei.
Immer deutlicher wird in diesen Tagen: Die Erpressung durch den letzten Diktator Europas ist schamlos, aber sie funktioniert. Plötzlich reden europäische Staatschefs wieder mit Lukaschenko, der so isoliert war, dass er zeitweise nur noch vom russischen Präsidenten Wladimir Putin Aufmerksamkeit bekam. Nun könnte zu einem Kompromiss mit einem Autokraten kommen, der nach dem offensichtlichen Betrug bei der vergangenen Wahl in Belarus eigentlich keinen legitimen Machtanspruch mehr hat. Wie konnte es so weit kommen?
Europa hat sich in eine schwache Position manövriert: Die EU-Sanktionen gegen Belarus sind nur ein stumpfes Schwert und zeigen kaum Wirkung. Gleichzeitig bietet das Scheitern Europas in der Flüchtlingsfrage jenen, die die Union in Trümmern sehen möchten, eine große Angriffsfläche. Diese ungelösten Probleme sind nicht nur für die Gemeinschaft eine Gefahr, sondern sie greifen einen elementaren Kern der EU an: die humanistische Wertebasis. Jede neue Eskalation einer Flüchtlingskrise bringt Europa der Kernschmelze näher.
Die Mitgliedstaaten können sich seit jeher über die Verteilung von Geflüchteten nicht einigen. Während Staaten wie Polen, Ungarn oder Österreich Kompromisse blockieren, wurden Italien und Griechenland lange Zeit mit dem Problem allein gelassen. Die europäische Solidarität scheitert an dieser Stelle, auch aus Angst vor rechtspopulistischen Kräften in vielen Ländern.
Zeitpunkt der Eskalation geplant
Diese Schwäche nutzt Lukaschenko nun aus, wobei der Zeitpunkt dieser Eskalation kein Zufall ist. Europa ist auch aus anderen Gründen derzeit verletzlich. Es kämpft nicht nur gegen die vierte Welle der Corona-Pandemie, die politischen Schwergewichte können sich eine erneute Flüchtlingskrise nicht leisten.
Deutschland ist nach der Bundestagswahl noch mit sich selbst beschäftigt, drei Parteien ringen um einen Koalitionsvertrag und Angela Merkel ist nur noch geschäftsführende Kanzlerin mit schwindender Macht. Auch in Frankreich stehen im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen an, Emmanuel Macron kann eine weitere Krise zum Wahlkampfauftakt nicht gebrauchen. Und doch ist sie nun da.
Migration als Druckmittel, das ist für die EU nicht neu. Immer wieder haben Staaten zuletzt den Konflikt gesucht – und Migranten gezielt den Weg in die Staatengemeinschaft gewiesen. Marokko lockerte im Mai die Grenzkontrollen zur spanischen Nordafrika-Exklave Ceuta. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte im Februar 2020 die Grenze entlang des Flusses Evros zu Griechenland für geöffnet. In beiden Fällen machten sich Tausende Migranten auf den Weg in die EU – die betroffenen Staaten reagierten mit Härte, die EU billigte dies.
Lukaschenko hat sicherlich genau hingeschaut, als Erdoğan im Streit um Seegrenzen mit Griechenland die Schleusen öffnete. Die Lage war ähnlich chaotisch wie die gegenwärtige Eskalation an der belarussisch-polnischen Grenze. Die EU war hilflos, Brüssel sprach von "hybrider Kriegsführung", Griechenland schickte mehr Soldaten an die Grenze, am Ende griff Kanzlerin Merkel zum Telefonhörer und musste im Gespräch mit Erdoğan deeskalieren. Das Leid der Geflüchteten war groß, Menschenleben wurden für ein politisches Machtspiel geopfert. Genau wie heute.
Pakt mit Autokraten
Die Türkei ist jedoch nicht Belarus. So schwer sich die Europäische Union mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen teils aggressiver Rhetorik tut, die Türkei bleibt ein wichtiger Partner und ist zudem Nato-Mitglied. Dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko hingegen hält der Westen Wahlfälschung und eine skrupellose Unterdrückung der Opposition vor. Wirtschaftlich ist Belarus abhängig von Russland, EU-Wirtschaftssanktionen zeigen kaum Wirkung.
Der Ausweg, den die EU 2016 im Konflikt mit der Türkei aus dem Dilemma wählte, ist teuer. Um der großen Fluchtbewegung zu begegnen, schloss sie damals ein Abkommen mit der Türkei. Es sieht vor, dass Ankara gegen unerlaubte Migration in die EU vorgeht und Athen illegal auf die Ägäis-Inseln gelangte Migranten zurück in die Türkei schicken kann.
Im Gegenzug wollte die EU für jeden zurückgeschickten Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen und das Land finanziell bei der Versorgung der Geflüchteten unterstützen. Auf den Ägäis-Inseln entstanden in der Folge Lager, in denen Migranten bis heute unter teils unwürdigen Bedingungen leben. Die scheidende Bundesregierung betrachtet das Abkommen als Erfolg: Es habe dazu beigetragen, dass viel weniger Menschen unerlaubt über das Mittelmeer kommen.
Lösung in den Händen von Autokraten
Im Gegenzug machte sich die EU jedoch erpressbar. Sie gab Autokraten wie Putin, Erdoğan oder Lukaschenko ein Mittel in die Hand, um Europa strategisch zu spalten und Zugeständnisse zu erwirken.
Migrationskrisen erscheinen für sie besonders effektiv, um Zwietracht innerhalb der EU zu säen und gleichzeitig Zugeständnisse für autokratische Regime zu erpressen.
Doch gibt es überhaupt andere Möglichkeiten, gar einen Ausweg? Es ist unwahrscheinlich, dass die EU auch Lukaschenko bezahlen wird – zumindest nicht direkt. Letztlich war sein Vorgehen zu plump, es wäre ein massiver Gesichtsverlust mit einer katastrophalen Außenwirkung für Brüssel, wenn der belarussische Machthaber erfolgreich ist.
Diese Optionen wären nun denkbar:
- Festung Europa: 2015 war der Aufschrei in Berlin noch groß, als der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einen Grenzzaun bauen ließ – es erinnerte viele an den Eisernen Vorhang. Mittlerweile sind die Zweifel weggewischt. Polen befestigt – auch mit Rückendeckung Deutschlands – seine Grenze zu Belarus. Es wird nicht der letzte Zaun an einer EU-Außengrenze sein, die Union schottet sich weiter ab. Polen will aber keine ausländischen Truppen zur Grenzsicherung ins Land lassen, weil es dadurch seine Souveränität gefährdet sieht.
- Einreise der Migranten: Die einfachste Lösung für die EU wäre, die Migranten einreisen zu lassen und die Menschen, die kein Asyl bekommen können, in ihre Heimatländer auszufliegen. Momentan sind es nur ein paar Tausend Geflüchtete. Polen fürchtet aber eine Sog-Wirkung. Es möchte nicht dauerhaft zum Transitland werden und bleibt hart. Dabei könnte diese Variante Lukaschenko sein Druckmittel nehmen. Insbesondere, wenn die EU es mit Sanktionen schafft, weitere Flüge mit Migranten aus Istanbul oder Doha nach Minsk zu unterbinden.
coremedia:///cap/blob/content/91157150#imageData - Humane Kontrollen: "Wenn man das Spiel der Abschreckung mit Lukaschenko gewinnen will, dann muss man bereit sein zu einer Brutalität mit tödlichen Konsequenzen, die alles Bisherige in den Schatten stellt", meint Migrationsexperte Gerald Knaus. Er wirbt schon seit Längerem für "Konzepte humaner Kontrolle", an denen die EU in den vergangenen Jahren gescheitert sei.
Im Fall Belarus schlägt Knaus die Kooperation etwa mit der Ukraine oder mit Moldau vor, ähnlich wie beim EU-Türkei-Abkommen. Von einem Stichtag an sollten die Asylverfahren aller Migranten, die über Belarus in die EU kommen, etwa in der Ukraine bearbeitet werden. Zwar lehnte Kiew das bereits ab. Die EU müsse der Ukraine jedoch ein "wirklich großzügiges Paket der Unterstützung" anbieten, von dem diese selbst etwas hätte, meint der Experte. - Druck auf Russland: Putin ist der Schlüssel, ohne Rückendeckung des Kremls wird Lukaschenko nicht gehandelt haben. Auch wenn die EU kaum Druckmittel auf Lukaschenko hat, so kann sie mit Russland verhandeln. Moskau ist beispielsweise stark an einer Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2 interessiert. Es hat kein Interesse an zusätzlichen Nato-Truppen im Baltikum und Putin möchte auch unbedingt die EU-Sanktionen nach der Krim-Annektierung loswerden. Europa würde sich aber erneut erpressbar machen und damit wohl Putins Kalkül aufgehen.
Europa im Dilemma
Aktuell versucht vor allem Deutschland den Konflikt über Russland zu lösen. Erst sprach Merkel mit Putin, der wiederum ein Telefonat von Lukaschenko mit der Kanzlerin initiierte und am Tag danach auch selbst mit Lukaschenko redete. Erst nach dem Gespräch mit dem russischen Präsidenten hat Lukaschenko entschieden, Logistikzentren für Migranten einzurichten.
Der Ablauf zeigt: Putin möchte nicht allein für die Handlungen des belarussischen Machthabers verantwortlich gemacht werden, deshalb brauchte er auch das Gespräch zwischen Merkel und Lukaschenko. So kann der Kreml weiterhin das Narrativ spinnen, dass Belarus auf eigene Faust handelt. Tatsächlich dürfte er die Fäden in der Hand halten.
Der Preis für sein erstes Entgegenkommen ist unklar. In der internationalen Diplomatie werden derartige Deals eher im Hintergrund gemacht. Doch der Fall verdeutlicht, dass Europa wieder gefangen ist zwischen der Erpressung eines Autokraten und dem moralischen Selbstverständnis, keine humanitäre Katastrophe zulassen zu wollen. Migrationskrisen werden die EU immer wieder einholen, bis die europäische Gemeinschaft eine gemeinsame Antwort auf das Problem gefunden hat. Es wird Zeit.
- Eigene Recherchen
- MDR: Belarus: One-Way-Ticket für Flüchtlinge und Migranten
- NZZ: Als die Sorge vor einer neuen Flüchtlingskrise umging
- SRF: Lukaschenko schickt Hilfe für Migrantenkinder ins Grenzgebiet
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa