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Anti-Taliban-Proteste in Afghanistan: Gewalt gegen Demonstranten


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Gewalt gegen Demonstranten
"Die Taliban sind Barbaren"


Aktualisiert am 09.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Chaos und Angst: Während einer Demonstration in Kabul sollen Mitglieder der radikal-islamistischen Taliban mitten in der Menge geschossen haben. (Quelle: t-online)

Bei Anti-Taliban-Protesten in Afghanistan kam es zu brutalen Übergriffen auf Teilnehmer und Journalisten. Der Ex-Regierungsbeamte Djawad* schloss sich der Demonstration spontan an – als er plötzlich Schüsse hörte. Hier erzählt er, was er erlebte.

Am Dienstag haben in mehreren Städten Afghanistans Tausende Menschen gegen die Taliban protestiert. Sie folgten damit einem Aufruf von Ahmad Massoud, dem Anführer des bewaffneten Widerstands im Pandschir-Tal, der nach dem Vordringen der Islamisten zur nationalen Revolte aufrief. Im Kabuler Stadtzentrum marschierten Hunderte vor den Präsidentenpalast und die pakistanische Botschaft, skandierten "Freiheit", "Solidarität mit Pandschir" und "Nieder mit Pakistan". Der pakistanischen Regierung werfen sie vor, die Taliban bei ihrem Eroberungsfeldzug massiv unterstützt zu haben.

Der Protest endete gewaltsam. Auf Videos und Bildern von Demonstranten ist zu sehen, wie Taliban mit ihren Waffen bedrohlich auf die Menge zielen und in die Luft schießen.

"Es fühlte sich an, als wären wir unaufhaltbar"

Einer der Demo-Teilnehmer war Djawad*. Er schloss sich dem Protestzug spontan an und filmte das Geschehen mit seinem Smartphone. "Die Energie war einzigartig. Überall mutige Frauen und Männer, die für ihre Freiheit kämpfen. Es fühlte sich an, als wären wir unaufhaltbar", erzählt er.

Kurze Zeit später drehte sich die Stimmung. Auf einem der Videos, die Djawad mit seinem Smartphone filmte, hört man ihn plötzlich schreien: "Waffen, Waffen!" Dann ging alles ganz schnell, erzählt er:

"Die Taliban richteten ihre Gewehre auf uns, schlugen auf Demonstranten ein und feuerten in die Luft. Es roch nach rauchenden Gewehrläufen und Tränengas. Alle rannten hektisch durcheinander. Panik machte sich breit, weil wir dachten, die Taliban würden einen Selbstmordattentäter in die Menge schicken. Ich war barfuß, weil ich meine Schuhe zuvor einer Frau gegeben hatte, die keine mehr hatte. Ich rannte also barfüßig durch die Menge, hörte, wie Patronen über meinen Kopf hinwegflogen und bekam alle paar Meter einen Schlag mit dem Gewehrkolben in den Rücken. Es war die Hölle."

"Es sind Barbaren"

Djawad heißt eigentlich anders, möchte seine Identität aber aus Sicherheitsgründen geheim halten. Als hochrangiger Ex-Regierungsbeamter und enger Mitarbeiter von Ex-Vizepräsident Amrullah Saleh, der sich im Pandschir-Tal dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hat, fürchtet er, zur Zielscheibe der Extremisten zu werden. t-online kennt seine echte Identität.

Er musste die Erlebnisse des gestrigen Tages erst verarbeiten, erzählt Djawad. Seine Verletzungen – Wunden an Kopf, Rücken und Knie, wie er sagt – redet er klein, erzählt stattdessen von Freunden, die es schlimmer erwischt habe. "Ich habe gesehen, wie ein Taliban-Kämpfer eine Frau geschlagen hat, weil sie versuchte, eine Blutung am Kopf zu stoppen und dabei kurz ihr Kopftuch abnahm. Es sind Barbaren", sagt er.

Regime scheint ohne Entwicklungshilfe kaum überlebensfähig

Djawads Bericht und die Bilder des gestrigen Protests stehen im Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen der Taliban. Seit ihrer Machtergreifung versuchen die Extremisten, ein weniger brutales Bild abzugeben. Mädchen sollen zur Schule gehen, Frauen arbeiten dürfen, hieß es bisher von den neuen Machthabern. Auch wolle man die Pressefreiheit achten und Terroristen keinen Unterschlupf mehr gewähren. Das Kalkül ist offenbar, eine internationale Isolation zu vermeiden und ein Minimum an außenpolitischer Bindung zum Westen aufzubauen. Ohne die Millionensummen westlicher Entwicklungshilfe scheint das Regime kaum überlebensfähig.

Djawad glaubt indes nicht, dass die Taliban sich verändert haben. "Jahrelang haben sie uns mit Autobomben und Selbstmordattentaten bekriegt. Jetzt wollen sie den Verkehr regeln und eine Demonstration 'sichern'? Das sind Terroristen, die jetzt einen Staat haben. Sie haben gestern ihr wahres Gesicht gezeigt."

Berichte über Kriegsverbrechen

Die Proteste in Kabul, Herat und in Faizabad im Nordosten gingen auch am Mittwoch weiter. Auch der internationale Druck wächst: Gerade veröffentlichte die EU ein Statement, in dem sie die neue Taliban-Regierung als nicht "inklusiv und repräsentativ" bezeichnet. Die Islamisten hätten ihr Versprechen eines Kabinetts, das die ethnische und religiöse Vielfalt Afghanistans widerspiegele, gebrochen. Einer am Dienstag veröffentlichten Liste zufolge sind alle künftigen Regierungsmitglieder Taliban. Keine einzige Frau gehört dazu.

Ob solche Erklärungen mäßigend auf die Taliban wirken, ist zweifelhaft. In sozialen Netzwerken kursieren seit Tagen Berichte von mutmaßlichen Kriegsverbrechen der Taliban im Pandschir-Tal: Panzer würden über Rebellen fahren, die verwundet am Boden liegen, Zivilisten seien ermordet und ihre Leichen in den Fluss geworfen worden, schreiben Nutzer, die dem afghanischen Widerstand nahestehen. Auf Twitter macht der Hashtag #PanjshirGenocide die Runde.

Unabhängig überprüfen lassen sich solche Informationen schwer. Telefon- und Internetverbindungen ins Pandschir-Tal sind derzeit de facto gekappt. Selbst Afghanen, die dort Verwandte haben, berichten, nur sporadisch und per Satellitentelefon Kontakt aufnehmen zu können.

"Wenn sie zu mir nach Hause kommen, ist es vorbei"

Auch Djawad berichtet von gezielten Tötungen von Zivilisten im Omarz-Distrikt in Pandschir. Zwei seiner Cousins seien ermordet, zwei weitere verschleppt worden. Insgesamt 30 tote Zivilisten habe es gestern in seinem Dorf gegeben. Ihm sei bewusst, dass er als nächstes dran sein könnte, sagt er. Seine Familie habe ihn schon vor Jahren angefleht, seinen damaligen Job bei der Regierung aufzugeben und seine Social-Media-Profile zu löschen – aus Angst, die Taliban könnten ihn zur Zielscheibe machen.

Warum er als enger Vertrauter eines der beiden Top-Rebellenführer trotzdem demonstrieren geht? "Nichts zu tun, ist ein langsamer Tod", sagt Djawad.

Mittlerweile sind seine Accounts bei Twitter und Facebook nicht mehr aufrufbar. Auch bei den Protesten, die am Mittwoch in Kabul weitergingen, will er vorerst nicht weiter mitmachen, erzählt er. "Ich setze lieber ein paar Tage aus. Die Taliban haben die gestrige Demo gefilmt, kennen also mein Gesicht und sicher auch meine Adresse. Wenn sie zur mir nach Hause kommen, ist es sowieso vorbei."

*Name von der Redaktion geändert

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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