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US-Abzug in Syrien: "Offensive der Türkei wäre eine Gefahr für Europa"


Abzug von US-Soldaten
"Erdogans Offensive in Syrien wäre eine Gefahr für Europa"


Aktualisiert am 08.10.2019Lesedauer: 6 Min.
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Abschied aus Nordsyrien: Ein Konvoi amerikanischer Militärfahrzeuge fährt auf einer Hauptstraße im Nordosten des Landes.Vergrößern des Bildes
Abschied aus Nordsyrien: Ein Konvoi amerikanischer Militärfahrzeuge fährt auf einer Hauptstraße im Nordosten des Landes. (Quelle: ANHA/ap)

Der Abzug von US-Soldaten aus Nordsyrien verändert die Lage in der Region. Experten warnen, die angekündigte Offensive der Türkei könnte dramatische Entwicklungen provozieren – auch für Europa.

Die USA räumen in Syrien das Feld für eine Offensive der Türkei gegen die Kurden. Nach der Ankündigung des Weißen Hauses vom Sonntagabend gaben die US-Truppen gestern die wichtigen Kontrollposten Ras al-Ain und Tal Abjad im Norden Syriens nahe der türkischen Grenze auf. Bei Twitter verbreitete Videos zeigten Konvois amerikanischer Militärfahrzeuge, die sich im Morgengrauen nahe der Grenze aufmachten und in Richtung Landesinnere fuhren.

US-Präsident Donald Trump verteidigte den Schritt mit den Worten, es sei an der Zeit, sich von diesen "lächerlichen endlosen Kriegen" zu verabschieden und "unsere Soldaten nach Hause zu bringen". Nun müssten die "Türkei, Europa, Syrien, Iran, Irak, Russland und die Kurden" die Situation lösen. "Wir sind 7.000 Meilen entfernt und werden (die Terrormiliz) IS erneut niederschlagen, wenn sie irgendwo in unsere Nähe kommt."

Mit dem Abzug zumindest eines Teils der amerikanischen Truppen droht eine neue gefährliche Eskalation in der Region. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan plant seit Langem eine Militäroffensive gegen die syrische Kurdenmiliz in Nordsyrien. Ankara betrachtet die Miliz wegen ihrer Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terrororganisation. Die Kurden ihrerseits haben Widerstand angekündigt. Unklar ist aber auch, was mit den Tausenden IS-Kämpfern passiert, die in Lagern im Norden Syriens von den Kurden festgehalten werden. Ein neuerlicher Krieg, so warnen Experten, könnte die Region weiter destabilisieren – und auch Gefahren für Europa bringen.

Keine Einigung über Pufferzone

Eine solche Wendung war zuletzt nicht unbedingt abzusehen. Die Türkei und die USA hatten sich noch im Sommer auf den Aufbau einer Sicherheitszone im Nordirak geeinigt. Im September begannen gemeinsame Patrouillen im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Bis zuletzt aber gab es Meinungsverschiedenheiten, die nun offenbar zum Zerwürfnis führten. In einem Telefonat mit Trump soll Erdogan darüber verärgert gewesen sein, dass der mit den USA vereinbarte Aufbau der Zone nicht vorankomme.

Woran lag es? Nils Wörmer, Experte für Außen-, Sicherheits- und Europapolitik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, sagt: "Die USA wollten einen fünf Kilometer breiten Pufferstreifen, der Kurden und Türken voneinander fernhält und international kontrolliert wird. Die Türkei hingegen bestand auf einer bis zu 32 Kilometer breiten Zone unter ihrer Führung. Das würde eine Verschiebung ihres Territoriums auf einer Länge von 480 Kilometern entlang der Grenze bedeuten. Die Pläne gingen einfach zu weit auseinander."

In der Zone plant die Trükei die Ansiedlung von über einer Million Flüchtlingen, die derzeit noch in türkischen Lagern leben. Wörmer spricht von einer "riesigen demografischen Umwälzung". Der Türkei-Experte und Politikwissenschaftler Burak Copur wird noch deutlicher. "Das Vorhaben ist nichts anderes als eine zwanghafte Deportation von hilfsbedürftigen Menschen und eine türkische Kolonialisierung mit demographischen Mitteln", sagt Copur zu t-online.de. "In dieser Zone wird der syrische Bürgerkrieg nur weiter ausgetragen werden, wenn Millionen von arabischstämmigen syrischen Flüchtlingen in das von Kurden besiedelte Gebiet zwangsdeportiert werden sollen."

USA versprachen den Kurden Schutz

Auf kurdischer Seite wurde die Entscheidung Washingtons mit großer Enttäuschung aufgenommen. Das Vertrauen und die Zusammenarbeit mit den USA sei zerstört, sagte ein Sprecher der von den Kurden dominierten Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF). Die SDF, die wesentlich von der PKK-nahen YPG-Miliz gestellt werden, galten bislang als wichtigste Verbündete der USA in Syrien im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat. Gemeinsam gelang es, die Terrormiliz im Frühjahr territorial zu besiegen. Auch nachdem sich die USA und die Türkei auf die Schaffung der Sicherheitszone geeinigt hatten, sicherte das Pentagon den Kurden weitere Unterstützung durch Waffen und Fahrzeuge zu. Einen einseitigen Einmarsch der Türkei in Syrien bezeichnete Washington damals als inakzeptabel.

In einem Schreiben warnte das SDF-Kommando am Montag vor negativen Folgen einer türkischen Invasion für den Kampf gegen den IS sowie für Frieden und Stabilität in der Region. "Wir sind entschlossen, unser Land zu verteidigen. Wir rufen Kurden, Araber und Assyrer auf, zusammenzurücken und die SDF bei der Verteidigung des Landes zu unterstützen."

Hinter Trumps Kehrtwende vermutet Sicherheitspolitik-Experte Wörmer innenpolitische Gründe. "Eine klare Linie in der US-Syrien-Politik hat es ja schon lange nicht mehr gegeben. Auch in Afghanistan ist seine Strategie gescheitert, die gegenüber Nordkorea auch. Mit Blick auf den US-Wahlkampf im kommenden Jahr musste er jetzt einen außenpolitischen Erfolg liefern. Er hatte seinen Wählern ja versprochen, US-Soldaten aus den Konflikten in Nahost zurückzuholen."


Ob Trump den Syrien-Abzug wie geplant durchziehen kann, bleibt abzuwarten. Der einflussreiche republikanische Senator Lindsey Graham sprach von einer "impulsiven Entscheidung des Präsidenten", die "kurzsichtig und unverantwortlich" sei. Für den Fall, dass der Plan vorangetrieben werde, wolle er eine Resolution in den Senat einbringen, um die Entscheidung umzukehren, kündigte er auf Twitter an.

Ein US-Regierungsvertreter betonte, der Abzug betreffe nur 50 bis 100 Angehörige von Spezialeinheiten, die ins Landesinnere verlegt würden – von insgesamt noch rund 1.000 US-Soldaten in Nordsyrien.

Trump selbst sprach am Montag wüste Drohungen gegen die Türkei aus. Sollte das Land im Syrien-Konflikt irgendetwas tun, was er als tabu betrachte, werde er "die Wirtschaft der Türkei total zerstören und auslöschen", schrieb er auf Twitter.

Warnungen vor einem Wiedererstarken des IS

In Europa blickt man mit Sorge auf die Entwicklungen in Nahost. Brüssel warnte die Türkei vor einer Militäroffensive gegen die Kurden. Ein Krieg würde "nicht nur das Leiden von Zivilisten verstärken und zu massiven Vertreibungen führen", sondern bedrohte auch laufende politische Bemühungen für eine Beilegung des Syrien-Konflikts, sagte eine EU-Sprecherin. Frankreich wies zudem auf die Gefahren durch die Terrormiliz IS hin, die nach wie vor beträchtlich seien.

Sorgen bereiten vor allem die rund 10.000 gefangenen IS-Kämpfer sowie weitere Zehntausend Angehörige in den Lagern der syrischen Kurden. Ein Kommandeur der SDF warnte jüngst vor einer Revolte im Lager al-Hol, in dem schätzungsweise 70.000 Menschen untergebracht sind. "Der IS formiert sich im Camp neu. Wir können das nicht zu 100 Prozent kontrollieren, uns fehlen die Ressourcen. Die Situation ist ernst."

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Nach Vorstellung der USA soll die Türkei künftig die Bewachung der inhaftierten Terroristen gewährleisten. Wie das geschehen soll, bleibt offen, wenn derzeit die Kurden dort das Kommando haben. Ein SDF-Sprecher kündigte an, einen Teil der Soldaten von der Bewachung der Lager abzuziehen. Man sei dazu gezwungen, um der türkischen Invasion zu begegnen.

Experte Nils Wörmer warnte vor einem sicherheitspolitischen Vakuum durch einen türkischen Einmarsch in Nordsyrien, von dem der IS profitieren könnte. Die Terrormiliz könnte die Lage nutzen, um sich lokal zu reorganisieren und wieder an Stärke zu gewinnen. Burak Copur rief die Europäer zu schnellem Handeln auf. "Der geplante türkische Angriffskrieg ist auch eine sicherheitspolitische Gefahr für Europa, denn er wird eine neue Flüchtlingswelle in der Region auslösen, und damit werden sich möglicherweise auch freigekommene IS-Kämpfer nach Europa absetzen."

Wann schlägt Erdogan zu?

Es wird abzuwarten sein, wie schnell und in welchem Umfang Erdogan seine Invasionspläne umsetzen wird. Am Montag sagte der türkische Staatschef auf einer Pressekonferenz, der Angriff könne jederzeit beginnen. Allerdings war es in der Grenzregion laut Beobachtern bis auf wenige Waffen- und Truppenbewegungen zuletzt ruhig geblieben. Erdogan verwies auch auf ein Gespräch mit Trump in Washington im November, bei dem es um "die Entwicklungen in der Region" gehen soll. Ob das heißt, dass er mit der Offensive bis dahin warten will, bleibt unklar.

Unklar ist auch, wie stark das türkische Militär einzuschätzen ist. "Auf dem Papier ist das eine starke Armee. Aber sie ist derzeit an mehreren Konflikt-Orten in der Region gebunden, etwa im Irak und im Nordwesten Syriens", sagt Wörmer. Zudem habe die Armee nach den politischen Säuberungen im Nachgang des Putschversuchs 2016 einen enormen Aderlass an Offizieren zu verkraften, was die Qualität der Streitkräfte infrage stelle. "Dem gegenüber stehen die kurdischen Kräfte, die ihre Heimat verteidigen, die vom Westen teilweise gut ausgestattet wurden, und die auf einem Boden operieren, den sie gut kennen."

Auch Copur sieht erhebliche Risiken für einen türkischen Vormarsch in Nordsyrien. "Es ist von heftigen Gefechten auszugehen, denn die Kurden haben ihren Widerstand schon angekündigt. Das wird diesmal kein Spaziergang für die Türkei. Ein 'türkisches Vietnam' ist nicht völlig ausgeschlossen."

Kobane fürchtet um Erfolge des Wiederaufbaus

In den kurdischen Gebieten in Nordsyrien blicken die Menschen derweil mit großer Sorge auf die türkischen Invasionspläne. Die Schrecken des Einfalls der IS-Terroristen in der Stadt Kobane vor fünf Jahren sind noch nicht vergessen. Nun fürchtet man um die Erfolge des Wiederaufbaus.


Der Arzt und Sozialarbeiter Gerhard Trabert aus Mainz, der sich seit Jahren in Kobane engagiert, berichtet von großer Angst in der Stadt. "Die Befürchtungen gab es ja schon die ganze Zeit und die Menschen haben sich auch darauf vorbereitet. Sie wissen, sie haben eigentlich keine Chance gegen die hochgerüstete türkische Armee. Doch sie wollen die basisdemokratischen Strukturen, die sie hier aufgebaut haben, auf keinen Fall preisgeben."

Trabert hofft, dass ein klares Signal der Nato-Partner Erdogan noch stoppen kann. "Ich finde, es ist die Pflicht, einen Bündnispartner, der sich von der Demokratie entfernt hat und der schon einmal völkerrechtswidrig in Afrin in Syrien einmarschiert, in die Schranken zu weisen."

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters
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