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Russland: "Schwerer Schlag" – Wie lange reichen Putins Reserven noch?


Militärökonom Keupp
"Ein schwerer Schlag für den Kreml"

InterviewVon Marc von Lüpke

18.09.2024 - 10:07 UhrLesedauer: 8 Min.
Interview
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Ukrainischer Soldat: Die westlichen Staaten müssen gegenüber Russland Rückgrat zeigen, sagt Marcus Keupp.Vergrößern des Bildes
Ukrainischer Soldat: Die westlichen Staaten müssen gegenüber Russland Rückgrat zeigen, sagt Marcus Keupp. (Quelle: Efrem Lukatsky/AP/dpa)

Russlands Kriegsführung ist brachial, die eigenen Verluste an Soldaten und Material sind immens. Wie lange reichen die russischen Reserven? Militärökonom Marcus Keupp schätzt die Lage ein.

Die russische Armee schont weder das Leben der eigenen Soldaten noch das knapper werdende Material im Krieg gegen die Ukraine. Diese zunehmende Schwäche kompensiert der Kreml, indem er alte Ängste vor einem übermächtigen Russland im Westen nutzt, analysiert Marcus Keupp.

Im Interview erklärt der Militärökonom, aus welchem Grund er russische Drohungen gen Westen für heiße Luft hält, wie knapp Russland an Material sei und wie die westlichen Staaten Stärke demonstrieren könnten.

t-online: Herr Keupp, wann werden Russland Soldaten und Material im Krieg gegen die Ukraine ausgehen?

Marcus Keupp: Russland geizt bereits mit Material – zumindest im Augenblick. Denn es lässt sich beobachten, dass die russische Armee weniger davon einsetzt, zumindest an der Front, an der sie vorwärtsgeht. Das wäre der Frontbereich von Kostjantyniwka bis Pokrowsk in der Oblast Donezk. Dort bewegt sich vor allem die Infanterie, Russland schickt seine Soldaten in "Fleischangriffe", bei denen sie gegen die ukrainischen Stellungen anlaufen, weitgehend ohne materielle Unterstützung. Das ist ungeheuer verlustreich für Russland, aber offensichtlich verspricht sich Putin etwas davon.

Was genau?

Der Kreml wird diese Art von Kriegsführung einsetzen, solange sie eine Wirkung erzielt: Putin will schiere Angst verbreiten, bei den Ukrainern, ja, aber auch bei den Menschen im Westen, denen die Medien diese schreckenserregenden Bilder immer wieder vorspielen. Neue Soldaten, um die in "Fleischangriffen" getöteten zu ersetzen, kann der Kreml gegenwärtig ausreichend heranziehen.

Wie lange aber reichen die Bestände an Panzern und anderem Material? Sie haben einmal den Oktober 2023 als Zeitpunkt vermutet, an dem Russland den Krieg strategisch verloren haben würde.

Massive Verluste kann sich Putin gar nicht mehr leisten. Auf die Frage, wann Russland die Masse an Material ausgehen wird, haben Osint-Analysten (Open Source Intelligence, Anm. d. Red.) unterschiedliche Schätzungen errechnet: Die optimistischen gehen von Ende 2025 aus, die pessimistischen von Ende 2027. Alles unter der Voraussetzung, dass die bisherige Abnutzungsrate bleibt. Bislang verheizt Russland sein Material gnadenlos. Die Zeit arbeitet definitiv gegen Putin und sein Regime. Tatsächlich war der Oktober 2023 der Zeitpunkt, an dem sich die Situation für Russland dramatisch verschlechtert hat – denn die einsatzfähige Reserve war bereits damals fast vollständig vernichtet.

Zur Person

Marcus Matthias Keupp, Jahrgang 1977, ist Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. Der habilitierte Betriebswirt geht in seiner Forschung klassischen militärökonomischen Fragen nach und befasst sich auch mit der Sicherheit von Versorgung und kritischer Infrastruktur. 2019 erschien sein Buch "Militärökonomie", das inzwischen auch in englischer und französischer Sprache erhältlich ist. Anfang 2025 erscheint sein Buch "Spurwechsel. Die Welt nach Russlands Krieg".

Russlands Lager waren mit Panzern aber doch weiterhin gut gefüllt? Wenn auch mit älteren und uralten Modellen?

Das ist der entscheidende Punkt. Russland zehrt von seinen Reserven aus der Sowjetzeit, es produziert angesichts der Abnutzungsrate zu wenige Panzer und repariert auch zu wenige beschädigte. Deswegen rollen uralte T-72 und T-62 Richtung Front. Das russische Material wird immer älter und schlechter. Wenn Russland diese Art der Kriegsführung fortsetzt und laufend weiter Material opfert, dann steht die russische Armee Ende 2027 tatsächlich ziemlich blank da.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Entwicklung an der Front?

In diesem Krieg wechseln sich Phasen von Abnutzung und Bewegung ab. Derzeit findet vermehrt Bewegung statt, beide Seiten versuchen, etwas zu erreichen. Die Russen versuchen sich dahin zu bewegen, wo die ukrainische Abwehrfront am schwächsten ist. Dabei handelt es sich um den erwähnten Frontbogen von Kostjantyniwka bis Pokrowsk. Warum ist die Abwehrfront dort so schwach? Weil die Ukraine tatsächlich einen taktischen Fehler begangen hat, denn sie ging davon aus, dass sie das dort gelegene Awdijiwka würde halten können. Wenn die Russen nun durchbrechen, dann stoßen sie auf relativ wenige Hindernisse in der nachgelagerten Etappe. Im Süden sieht es besser für die Ukraine aus, die Russen rennen zwar laufend gegen die Saporischschja-Front an, erzielen aber bisher keine Durchbrüche.

Wie wahrscheinlich ist aber ein Durchbruch der russischen Armee im Norden?

Die Ukrainer improvisieren jetzt, indem sie im Hinterland neue Verteidigungsstellungen errichten und die Geländetopografie nutzen, um den Vormarsch der Russen verzögern zu können. Wie erfolgreich das alles sein wird, bleibt abzuwarten. Die "Fleischangriffe" der Russen sind ungeheuer verlustreich, sie fordern ungeheuer viele Opfer und sind obendrein sehr langsam, aber Russland rückt dort vor.

Nun hat die ukrainische Armee ihrerseits russisches Territorium in Kursk besetzt. Bindet das nicht Truppen, die dringend zur Verteidigung gebraucht werden?

Nicht unbedingt. Zumindest auf dem Papier hat die Ukraine eine aktive Reserve von einer Million Mann. Inwiefern sie eine größere Anzahl davon mobilisieren und ausstatten kann, ist eine andere Frage und hängt auch von der westlichen Unterstützung ab. Aber die Invasion Kursks zeigt, dass die Ukraine – anders als bisweilen behauptet – keineswegs am Ende ist. Immerhin ist der ukrainische Einmarsch Richtung Kursk die erste Invasion Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg, als die Wehrmacht einfiel. Psychologisch gesehen ist das ein schwerer Schlag für den Kreml.

Die ukrainische Armee steht weiterhin in Kursk. Ist das ein Zeichen der Schwäche Russlands?

Die erste Frage, die sich mir beim Bekanntwerden der Kursk-Offensive stellte, war: Wo ist die russische Reserve? Beantwortet ist sie bis heute nicht. Wenn ein Gegner irgendwo einbricht, ist es die wichtigste Aufgabe, diesen Einbruch mittels der Reserve abzudichten. Die Russen haben Luftangriffe geflogen, ja, aber viel mehr ist nicht passiert. Die Ukrainer machen nun in Kursk das, was die Russen im Donbas gemacht haben: Sie graben sich ein, sprengen die Brücken und sabotieren die Verkehrswege. Je länger die Russen das zulassen, desto schwieriger wird es, die ukrainische Armee wieder zu vertreiben. Dieser erfolgreiche Vorstoß der Ukrainer zeigt aber doch vor allem eines: Wir sollten uns dringend von unseren Märchenerzählungen über Russland und die Ukraine verabschieden.

Welche sind das?

Russland gilt vielen als Land der unendlichen Ressourcen, wo Menschen und Material unendlich nachgeschoben werden können. Die Ukraine erscheint dagegen als kleine, arme Nation, die immerzu kurz vor dem Bankrott stehe. Beide Bilder stimmen nicht. Ob das an alten verfestigten Bildern in Deutschland liegt oder von den Medien insinuiert wird, ist schwer zu sagen. Also, nein, Russland ist weit schwächer, als viele wahrhaben wollen, und die Ukraine ist weit stärker.

Gleichwohl ist die Ukraine auf Waffenhilfe angewiesen.

Selbstverständlich. Wie dramatisch die Lage schnell werden kann, haben wir gesehen, als Russland das milliardenschwere US-Hilfspaket für die Ukraine bis in den Frühling hinein blockieren konnte. Ohne westlichen Nachschub ist die Ukraine nicht kampffähig. Punkt. Aber wie stände es um Russland ohne Drohnen und Raketen aus dem Iran? Oder Artilleriemunition aus Nordkorea? Das sagt doch auch eine Menge aus über die angeblich so bedrohliche Umstellung Russlands auf Kriegswirtschaft. In unserem Denken über Russland finden die objektiv rationale und die emotionale Ebene einfach nicht zusammen: Seit Kriegsbeginn predige ich, dass man auf die Karten und die Abnutzungsraten schauen sollte. Aber durchgesetzt hat sich der rationale Ansatz noch nicht überall. Das gilt auch für eine mögliche Wiederwahl Donald Trumps ins Weiße Haus.

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Bitte erklären Sie das.

Bei den Ängsten der Europäer und insbesondere der Deutschen geht es gar nicht um die Person Trump an sich. An Trump macht man vielmehr die eigenen Lebenslügen fest. Wer garantiert denn die Freiheit, die Deutschland genießt? Wer spannt den nuklearen Schutzschirm über Europa? Und wer schreitet ein, wenn die Lage bedrohlich wird? Die Antwort lautet stets: die USA. Militärisch gesehen ist Deutschland ein Trittbrettfahrer der Vereinigten Staaten von Amerika. Und nun hat man Angst vor dem Verlassenwerden, personifiziert in der Person von Donald Trump.

Das klingt nun sehr tiefenpsychologisch.

Aber es trifft den Kern des Problems. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sich die Entfremdung zwischen Europa und den USA geradezu herbeiwünschen, die Russland für den natürlichen Partner Deutschlands halten. Ich weiß nicht, ob diesen Menschen wirklich klar ist, was es bedeutet, in einer russischen Einflusszone zu leben. Da würde sich mancher wundern. Auch die Verklärung der DDR und der angeblichen Freundschaft zur Sowjetunion im Osten Deutschlands ist gefährlich, ebenso wie die Verklärung des heutigen Russlands. Wenn wir uns davon freimachen, werden plötzlich Dinge möglich.

Welche Dinge?

Russland muss klargemacht werden, dass es die besetzten Gebiete der Ukraine nicht wird halten können. Was bedeutet, dass die russische Nachschubfähigkeit zerstört werden muss. Da kommt zunächst die zu einer Art "Flugzeugträger" ausgebaute Krim wieder ins Spiel, da gehören aber ebenfalls Angriffe ins russische Hinterland mittels Langstreckenwaffen dazu.

Joe Biden hat die Entscheidung zur Freigabe derartiger Angriffe allerdings kürzlich vertagt.

Das ist die eigentlich entscheidende Problematik: Seit Kriegsausbruch hat der Westen gewissermaßen einen Schutzschirm über den russischen Basen aufgespannt. Die Ukraine erhielt zwar westliche Waffen, durfte sie aber zunächst nur auf eigenem Territorium verwenden. Das ist vollkommen absurd. Jede Nato-Armee würde im Konfliktfall die Luftbasen des Gegners ausschalten – und zwar als Erstes und ziemlich schnell. Stattdessen zwingen wir die Ukraine immer noch, einen Krieg zu führen, den keine Nato-Armee so führen würde.

Was ist Ihre Erklärung für dieses Verhalten?

Wir sind Opfer unserer eigenen Ängste, wir fallen immer noch auf Russlands Tricks herein. Putin kompensiert seine Beschränkungen beim Material, indem er die Psyche der Menschen manipuliert. Das macht er ziemlich erfolgreich, wie die westlichen Politiker demonstrieren, die sich immer wieder selbst rote Linien ziehen.

Was tun?

Putins Masche funktioniert genau so lange, bis jemand im Westen endlich Rückgrat zeigt. Nach weit mehr als zwei Jahren Krieg sollte doch einmal jemand erkannt haben, dass die russischen Drohungen nichts als heiße Luft sind. Nehmen wir den Fall an, dass 2022 die Nato den Russen ein deutliches Signal der Stärke gesendet hätte. Nicht mit Truppen am Boden vor Ort, aber etwa durch einen Schutzschild über die Ukraine, wie es die USA, Großbritannien, Frankreich und andere Staaten beim iranischen Luftangriff auf Israel im vergangenen April getan haben. Das hätte Eindruck auf Putin gemacht.

Werden die westlichen Staaten zur Entschlossenheit finden?

Das wäre dringend geboten. Im Kalten Krieg haben die Sowjets den Westen respektiert, was nicht nur an den damaligen Politikern, sondern auch an der mentalen Geschlossenheit der westlichen Gesellschaften gelegen hat. Damit war es bald nach 1989 vorbei, in den Nullerjahren hat Europa systematisch seine militärischen Systeme vernichtet, viele Tausende Panzer. Russland hat diesen Fehler nicht begangen, sondern seine Panzer lediglich eingelagert. Sie rollen heute wieder.

Aber sie werden auch von den Ukrainern in hoher Zahl zerstört?

Das ist der entscheidende Punkt. Europa hat seine konventionellen Armeen zerstört, die russischen Reserven werden durch den Krieg gegen die Ukraine ausgeschaltet. Es steht also Null zu Null zwischen Europa und Russland, nun kommt es auf Geschwindigkeit bei der Aufrüstung an.

Und auf die Bereitschaft, den Ernst der Lage zu erkennen?

Russland nimmt die Sache sehr ernst, da können wir sicher sein. Putin rüstet massiv neu auf. Bei Deutschland und anderen Staaten sind eher Zweifel angebracht, ob sie den Ernst der Lage verstanden haben. Bei der heutigen Kapazität der Rüstungsindustrie können die Russen jeden Tag einen Kampfpanzer bauen. Hochgerechnet auf zehn Jahre haben sie schließlich weit mehr als 3.000 einsatzfähige Panzer, damit wären sie in der Lage, das Baltikum anzugreifen. Wir sollten dann bereit sein, den Russen dieses Abenteuer auszureden. Und das geht nur, indem der Westen militärisch stark und mental entschlossen ist.

Herr Keupp, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marcus Keupp in Zürich
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