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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vergeltungsangriff der Hisbollah "Daran hat Teheran kein Interesse"
Am Sonntagmorgen haben sich Israels Armee und die Hisbollah gegenseitig großflächig angegriffen. Ein großer Krieg sei dennoch nicht zu erwarten, sagt ein Experte.
Gut einen Monat lang haben Beobachter gerätselt: Wird es einen Großangriff des Iran und seiner Verbündeten auf Israel geben? Insbesondere Teheran hatte mehrfach mit Vergeltung gedroht, nachdem Ende Juli zunächst der hochrangige Hisbollah-Kommandeur Fuad Shukr bei einem israelischen Luftangriff in Beirut und wenige Stunden später der Hamas-Auslandschef Ismail Hanija in Teheran getötet worden waren. Israel hat sich nie zur Tötung Hanijas bekannt. Und ein Angriff auf das Land blieb wochenlang aus.
Nun übten die Feinde des Landes doch Vergeltung: Die mit Iran verbündete Hisbollah-Miliz hatte wohl einen groß angelegten Raketenschlag gegen Israel mit Tausenden Geschossen geplant. Doch die israelische Armee kam der Terrororganisation offenbar zuvor. Rund 100 Kampfjets stiegen laut Armeeangaben am frühen Sonntagmorgen auf und zerstörten demnach Tausende von Abschussvorrichtungen der Hisbollah im Süden des Libanon. Israel sprach von einem Präventivschlag. Wenig später feuerte die Miliz dennoch nach eigenen Angaben 320 Raketen in Richtung Israel ab. Israelische Medien berichteten von mehr als 200 Raketen und rund 20 Drohnen. Mehr zu den Angriffen lesen Sie hier.
Die gegenseitigen Angriffe am Sonntagmorgen lassen die Sorge vor einem Flächenbrand in der Region erneut wachsen. Noch immer steht die angekündigte Reaktion des Iran aus. Doch möglicherweise spiegeln diese Sorgen nicht die tatsächliche Situation im Nahen Osten wider. Der Nahost-Experte Ali Fathollah-Nejad sagt im Gespräch mit t-online: "Weder Israel noch die Hisbollah noch der Iran sind derzeit an einem großen Krieg interessiert." Sind die Sorgen vor einer Eskalation also gänzlich unbegründet?
Hisbollah will Informationskrieg Stempel aufdrücken
"Angesichts der gegenseitigen Angriffe zwischen Israel und der Hisbollah müssen wir nun abwarten, was in den kommenden Stunden und Tagen passiert", sagt der Gründer und Direktor des Center for Middle East and Global Order (CMEG). Denn neben dem Austausch militärischer Feindseligkeiten spielt sich der Konflikt auch andernorts ab: "Derzeit tobt auch ein Propagandakrieg zwischen den beiden Seiten", sagt Fathollah-Nejad.
Das lasse sich auch daran erkennen, dass sowohl die Hisbollah als auch Israel von "erfolgreichen" Aktionen sprechen. "Vor allem die Rede von Hisbollah-Chef Nasrallah ist daher insofern interessant, als dass auch er dem Informationskrieg seinen Stempel aufdrücken möchte", so Fathollah-Nejad.
"Ein Angriff des Iran wird wohl kaum kommen"
Dazu passend veröffentlichte die Hisbollah am Sonntag ein Propagandavideo, dass die Ziele ihrer Attacke hervorhob. Dabei handelt es sich um mehrere Militärbasen. Keine davon sei jedoch getroffen worden, teilte die israelische Armee mit. Dafür sind offenbar mehrere zivile Gebäude im Norden Israels beschädigt worden, wie Bilder zeigen. Zudem gibt es Berichte darüber, dass weitere Angriffe auf Israel erwartet werden – am wahrscheinlichsten jedoch aus dem Jemen, wo die ebenfalls vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen zu Hause sind.
Seit Beginn des Gaza-Kriegs zwischen Israel und der islamistischen Hamas vor mehr als zehn Monaten beschießt die mit der Hamas verbündete Hisbollah-Miliz aus dem Libanon fast täglich Ziele im angrenzenden Norden Israels. Das israelische Militär wiederum greift regelmäßig Ziele in dem Nachbarland an.
Fathollah-Nejad spricht von "einer kontrollierten Eskalation" der Situation in der Region. Keine der Konfliktparteien sei an einem großen Krieg interessiert. Der israelische Außenminister Israel Katz erklärte ebenfalls am Sonntag, dass sein Land nicht an einer solchen Eskalation interessiert sei. "Daher wird auch ein von vielen Seiten erwarteter Angriff des Iran auf Israel wohl kaum kommen", sagt Fathollah-Nejad.
"In den Machtzentren des Iran hat man sich darauf verständigt, dass ein solcher Angriff kontraproduktiv wäre", erklärt der Experte weiter. Vielfach sei in Teheran die Rede von einer "Netanjahu-Falle": Der Iran erwarte, dass ein Angriff auf Israel die USA auf den Plan rufen würde. Tatsächlich haben die USA in den vergangenen Wochen vor allem Marineverbände dichter in Richtung Naher Osten verlegt, berichtet die "New York Times". Demnach halten sich zwei Flugzeugträgerverbände sowie ein U-Boot nahe dem Golf von Oman auf.
Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in Kairo
"Daran aber hat Teheran kein Interesse", so der Experte. "Die Mission des neuen iranischen Präsidenten Peseschkian ist Verständigung, um die Wirtschaft seines von Sanktionen gebeutelten Landes zu stärken. Einen Krieg kann er in dieser Situation nicht riskieren." Mehr zur Wahl Peseschkians lesen Sie hier.
Die Angriffe fallen auch in eine Zeit, in der ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas verhandelt wird. An diesem Sonntag sollen erneut in Kairo Unterredungen stattfinden. Der israelische Analyst Ronen Bergman schrieb auf dem Nachrichtenportal "Ynet", angesichts mangelnder Fortschritte bei den Verhandlungen sei die Hisbollah zu der Ansicht gelangt, dass die Zeit für ihre Rache an Israel nun gekommen sei. Die Hamas hatte am Vorabend verlauten lassen, Israel beharre bei den indirekten Gesprächen auf seinen Forderungen.
Ali Fathollah-Nejad wiegelt mit Blick auf die Verhandlungen ab: Zwar hätten die Angriffe durchaus im zeitlichen Kontext der Verhandlungen stattgefunden. "Im Zusammenhang damit sehe ich die Attacken jedoch nicht", sagt der Experte. "Sicherlich aber handelt es sich um ein verschärfendes Moment, das die Gespräche durchaus beeinflussen könnte."
- Telefoninterview mit Ali Fathollah-Nejad
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa