Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über Anschlag bei Moskau "Russland eskaliert bereits massiv"
Ein Terroranschlag erschütterte Russland, der "Islamische Staat" hat sich dazu bekannt. Doch Wladimir Putin und sein Regime beschuldigen die Ukraine – und mit ihr den Westen. Welche Folgen dies haben könnte, analysiert Oberst Markus Reisner.
Terroristen verübten einen Anschlag nahe dem russischen Machtzentrum Moskau, die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) reklamiert die Tat für sich. Machthaber Wladimir Putin und sein Regime spinnen allerdings Intrigen, nach denen die Ukraine als Drahtzieherin im Hintergrund fungiert habe. Beweise bleibt Russlands ewiger Präsident allerdings schuldig.
Wie geschwächt ist Putins Stellung nun? Wird der Terroranschlag zu einer verstärkten Aggression Russlands gegen die Ukraine führen? Und wie sollten sich die westlichen Staaten verhalten? Diese Fragen beantwortet Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
t-online: Herr Reisner, der "Islamische Staat" hat sich zu dem Terroranschlag nahe Moskau bekannt, Wladimir Putin und sein Regime versuchen allerdings, die Tat der Ukraine anzuhängen. Was bezweckt der Kreml damit?
Markus Reisner: Putin und seine Entourage wollen die Ukraine und den Westen noch weiter diskreditieren – gerade und vor allem bei der russischen Bevölkerung. In den russischen sozialen Medien lässt sich eindeutig beobachten, wie der Anschlag dem Westen in die Schuhe geschoben wird. Beweise für diese Behauptung finden sich allerdings keine.
Auf stichhaltige Beweise kommt es in Putins Russland doch gar nicht mehr an?
So ist es. Selbst als sich der "Islamische Staat" zu dem Anschlag bekannt hatte, wurde dies sofort in die ideologische Konstruktion eingebaut. Denn der "Islamische Staat" wäre nichts weiter als eine Terrororganisation, die vom Westen aufgebaut worden sei. Das ist eine von vielen abstrusen Theorien, die gerade in die russischen sozialen Medien wabern – und reichlich geteilt werden.
Und die nicht hinterfragt werden?
Da gibt es kaum kritische Fragen. Reichlich wird darüber diskutiert, warum die Täter Geld erwartet hätten für den Anschlag und sich nicht in die Luft gesprengt haben wie bei früheren Anschlägen. Das deute angeblich auf eine auswärtige Beauftragung durch Hintermänner hin. Wie etwa den ukrainischen Geheimdienst. Die Realität ist allerdings eine andere. Gerade der "Islamische Staat" hat als Terrororganisation die Taktik aufgegeben, dass sich seine Anhänger bei Anschlägen in die Luft sprengen mussten.
Zur Person
Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker und Leiter des Instituts für Offiziersausbildung des österreichischen Bundesheeres an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".
IS-Terroristen sollten nach Möglichkeit entkommen und an anderer Stelle weiterkämpfen?
Die Terroristen des IS sollten töten und dabei maximale Grausamkeit anwenden, ja. Dann war ihre Flucht vorgesehen. Der IS unterscheidet zwischen dem "Istishhad", also dem Selbstmordattentäter, und den "Igimash", dem Kämpfer, der töten und überleben sollte. Insofern passen die aktuellen Geschehnisse ins Schema, allerdings ohne, dass dies in Russland entsprechend zur Kenntnis genommen wird. Im letzten Jahr hat die Ukraine wiederum der Rat aus den USA erreicht, durch Kampagnen hinter den russischen Frontlinien für Verunsicherung und Furcht zu sorgen. Das wird nun als Vorwand genommen, die Ukraine des Anschlags zu bezichtigen. Dabei war von Terroranschlägen selbstverständlich niemals die Rede.
Bei der Beerdigung des Kremlgegners Alexej Nawalny Anfang März zeigte sich, dass die russische Opposition im Land selbst noch existiert. Wird Putin nun auch gegen sie vorgehen?
Putin und seine Entourage nutzen den Anschlag für ihre Zwecke aus. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung wird das Regime die Schrauben noch enger anziehen. Unliebsame Vereine, Vereinigungen und Personen können noch leichter Opfer von Repressalien werden, alles unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes.
Putins Sicherheitskräfte gehen alles andere als rechtsstaatlich und zimperlich vor.
Es kursiert ein aktuelles Video, das vier der Tatverdächtigen zeigt. Diese Männer sind offensichtlich gefoltert worden. Warum wird ein derartiges Video veröffentlicht? Es zeigt, dass das Regime mit äußerster Brutalität vorgeht, Putin will niemanden ungestraft lassen – genau dieser Eindruck soll entstehen. Nicht bei uns im Westen, wir sind Putin völlig egal. Sondern bei der russischen Bevölkerung. Bei diesen Menschen soll mittels des Informationsraums Stimmung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden.
Verfangen diese Parolen derart breit?
Ich fürchte, ja. Das Problem besteht darin, dass wir andere Gesellschaften immer mit unserem eigenen persönlichen Wertesystem zu erklären versuchen. Die russische Gesellschaft funktioniert aber anders – das zeigt sich an der Einsatzführung des russischen Militärs. In westlichen Armeen soll jedem Soldaten das eigene Überleben in Gefechtshandlungen so gut es eben geht ermöglicht werden. Der russischen Armee ist es zweitrangig, wie viele Soldaten bei der Erreichung eines Ziels sterben.
Gegen wen oder was soll die russische Bevölkerung mobilisiert werden?
Das entscheidet Putin. Dieser Anschlag dient dem Kreml nun zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen. Für das Regime ist das eine Freikarte, der Westen gilt als schuldig, wie der Blick in die russischen sozialen Medien zeigt.
Das Putin-Regime hat Erfahrung darin, Terroranschläge für seine Zwecke zu instrumentalisieren. 1999 kam es in Russland zu einer Serie von Bombenanschlägen auf Hochhäuser, tschetschenische Separatisten sollen die Taten der offiziellen Darstellung zufolge begangen haben. Zahlreiche Experten vermuten allerdings den Geheimdienst FSB dahinter, um Putins Popularität zu erhöhen.
So ist es. Bei den Wahlen damals hat Putin auch ein entsprechend gutes Ergebnis eingefahren. Jetzt müssen wir vorsichtig sein, was geschehen wird.
Großbritannien hat Russland bereits davor gewarnt, den Anschlag bei Moskau als Rechtfertigung für eine Intensivierung der Kriegsführung gegen die Ukraine zu missbrauchen.
Russland eskaliert bereits massiv, wir befinden uns inmitten dieser Phase. Die Russen haben drei schwere Luftangriffe in den letzten Tagen durchgeführt. Gerade findet die zweite strategische Luftkampagne der Russen mit diesen immer wieder aufeinanderfolgenden heftigen Angriffen ihre Kulminationsphase.
Haben die westlichen Staaten Möglichkeiten, der russischen Desinformation entgegenzuwirken?
Gegen diese alternative Realität anzugehen? Das ist quasi ein Ding der Unmöglichkeit. Die russische Seite fühlt sich derart bestärkt in ihren Überzeugungen, dazu wird der Informationsraum derart mit Falschinformationen bespielt. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Putin in Russland keineswegs so umstritten ist, wie wir das gerne hätten. Sein kürzliches Wahlergebnis von 87 Prozent ist mit Sicherheit manipuliert worden – was aber keineswegs bedeutet, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung seine Politik nicht gutheißen würde.
Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Markus Reisner via Telefon