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Russland: Viele Russen glauben nicht an Putin – das ist der Grund


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Ewiger Präsident?
Viele Russen vermuten Putin tot im Eisfach

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 27.11.2023Lesedauer: 4 Min.
Wladimir Putin: Der Gerüchteküche zufolge sei Russlands Präsident bereits verstorben.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Gerüchteküche zufolge sei Russlands Präsident bereits verstorben. (Quelle: Sputnik/Sergei Savostyanov/reuters)
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Der Kreml ist von Gerüchten umhüllt, das neueste ist eigentlich ein Klassiker: Putin ist angeblich tot und liegt im Eisfach. Was das Ganze soll, weiß Wladimir Kaminer.

Wenn Herrscher zu lange an der Macht sind und ihren Untertanen jegliche Kritik durch Androhung von Gewalt verbieten, bleibt dem Volk nur eines: Fantasie als stille Form des Protests. Das war bereits zu Zeiten der russischen Monarchie so. Solange der Zar sich ruhig verhielt und niemandem mit seinen Weltverschwörungstheorien auf die Pelle rückte, genoss er die Loyalität der Eliten und die Liebe seines Volkes.

Wenn er aber anfing, aus der Reihe zu tanzen, die Staatskasse zu plündern oder gar Kriege anzuzetteln, die nicht zu gewinnen waren, flüsterte das Volk: Das ist nicht unser Zar, der echte ist gestorben! Oder schlimmer noch, er ward von den Verschwörern umgebracht – und durch einen anderen ersetzt, dem er nicht einmal ähnlich sah. Die Füße seien bei dem Neuen zu klein und der Bart sitze zu schief.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich ist sein neues Buch "Frühstück am Rande der Apokalypse" erschienen.

Ein ähnliches Schicksal widerfährt nun Putin, der nächstes Jahr sage und schreibe ein Vierteljahrhundert an der Macht feiern wird. Für Russland ist das allerdings keine Besonderheit. Putin sitzt damit immer noch kürzer auf dem Thron als zahlreiche Zaren, aber immerhin länger als die kommunistischen Führer nach Josef Stalin. Allerdings verbreiten sich zwei Legenden wie ein Lauffeuer seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine.

Der Präsident sei todkrank und werde immer häufiger durch Doppelgänger ersetzt. Im Laufe der Zeit hat sich eine richtige Doppelgänger-Industrie im Internet aufgebaut – die entsprechenden Doppelgänger-Experten erreichen mit ihren Analysen ein Millionenpublikum. Anonyme Insider berichten angeblich etwa aus geheimen Quellen über den Verlauf einer am Ende tödlichen Krankheit des Präsidenten.

Versprecher mit Folgen

Am Anfang hat der Kreml auf Derartiges nicht einmal reagiert. Nun musste allerdings der Pressesprecher der Präsidialadministration dreimal innerhalb eines Monats ausdrücklich betonen, dass es im Kreml nur einen Putin gebe. Der sich zudem bester Gesundheit erfreue und überhaupt nicht daran denke, sein Volk jemals zu verlassen. Diese wiederholten Aussagen haben aber eine gegensätzliche Wirkung.

Denn je öfter der Pressesprecher die Existenz der Doppelgänger leugnet und die ausgezeichnete Fitness des Führers lobt, desto schneller verbreitet sich das Gerücht, dass mit dem Präsidenten tatsächlich etwas nicht stimme. In der Welt der Gerüchte stellt sich allerdings bald die Frage: Wie lange kann und darf man todkrank sein? Sicher nicht eine Ewigkeit.

Entsprechend war es vor einigen Wochen so weit: Gleich mehrere Telegramkanäle verbreiteten die Nachricht, Putin habe sich nach einer misslungenen Operation auf seiner Residenz in Waldai endgültig verabschiedet, die Ärzte seien im Haus isoliert, die Leiche bis auf Weiteres eingefroren worden. Der führende russische Doppelgänger-Analytiker Professor Waleri Solowei postete: "Es ist so weit, der Tyrann ist weg."

Doch am nächsten Tag erschien Putin im Fernsehen, als wäre nichts gewesen. Er wirkte etwas aufgedreht, erkundigte sich bei seinem Landwirtschaftsminister, warum die Preise für Mastgeflügel trotz seiner anderslautenden Anweisung ansteigen. Der junge Landwirtschaftsminister, der zufälligerweise nebenberuflich Sohn des Chefs des russischen Sicherheitsrates ist, hatte vor Aufregung Putins Vaternamen verwechselt – und sprach ihn statt mit dem korrekten "Wladimirowitsch" mit "Wassiljewitsch" an. Der bereits erwähnte Vater des Landwirtschaftsministers gab zudem ein Interview, in dem er über Putin stets in der Vergangenheitsform sprach.

Kampf zwischen "Kühlschrank" und "Glotze"

Nach einigem Zögern tendierte die öffentliche Meinung deswegen schließlich zu der Annahme, dass Zar Putin tatsächlich im Kühlschrank liege. Was ihn aber offensichtlich nicht am Weiterregieren hindert. In der Öffentlichkeit wird er nämlich dem Gerücht nach vom Doppelgänger "Wassiljewitsch" ersetzt. Erstaunlicherweise hatte dies alles überhaupt keine Auswirkungen auf den politischen Kurs des Landes: Russlands Politik ist weder umweltfreundlicher noch sonst wie sanfter geworden.

Die russische Opposition im Ausland reagierte perplex. Seit vielen Jahren wird in diesen Kreisen über den "Kampf zwischen Kühlschrank und Fernseher" diskutiert. Es geht um nichts weniger als die Seelen der russischen Bevölkerung. Irgendwann würde der "Kühlschrank" über den "Fernseher" siegen, sprich die wirtschaftlichen Nöte in Gestalt des leeren Kühlschranks sollten stärker als die über den Fernseher plärrende Propaganda wirken.

Nun scheint der "Kühlschrank" tatsächlich den "Fernseher" besiegt zu haben – aber anders als gedacht. Der angeblich eingefrorene Putin regiert ungeniert aus dem Kühlschrank weiter. Inzwischen ist sein vorgebliches Ableben von allen akzeptiert und nur eine Notiz am Rande, zumal der Doppelgänger Wassiljewitsch ihn sehr glaubwürdig darstellt. Der Glaube, von einem Eingefrorenen regiert zu werden, ist für viele eine Erleichterung – eine Form des stillen Protests – geworden.

In einer Situation, in der bereits ein unvorsichtiges Wort oder gar ein Hemd in der falschen Farbe im Knast enden kann, suchen sich die Menschen zudem immer feinere Protestformen, um Druck abzulassen. In Jekaterinburg zum Beispiel, östlich des Urals, lag bereits Anfang November meterdick Schnee. Jemand baute aus Spaß einen Riesenpenis aus Schnee, der Bürgermeister beschimpfte die Bastler heftig als Heimatverräter und schickte die Polizei los, um den Penis "abbauen" zu lassen.

Einfach dahingeschmolzen

Es kam daraufhin zu einer Kettenreaktion, immer weitere Schneepenisse verbreiteten sich wie eine Epidemie in der Stadt: in den Höfen der Wohnhäuser, auf Autos und sogar vor dem Rathaus. Die Polizei strengte sich an, verlor aber den Kampf. Auf einer Konferenz der Opposition in Berlin deuteten die Eingeladenen diese Penisse sogleich als ein weiteres Zeichen des Widerstandes.

Vielleicht will ein vom mutmaßlich toten Präsidenten zum Schweigen gebrachtes Volk damit seine Unzufriedenheit kundtun, vermuteten die Exilanten. Doch einen Tag später schien in Jekaterinburg völlig unerwartet die Sonne und die Penisse verschwanden von allein.

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