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Ukraine | Historiker: "Russland wird diesen Krieg nicht verlieren"


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Historiker Baberowski
"Vermutlich wird Putin der Sieger sein"


10.01.2024Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident will weiterhin den Sieg erringen, sagt Historiker Jörg Baberowski.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident will weiterhin den Sieg erringen, sagt Historiker Jörg Baberowski. (Quelle: Mikhail Metzel/dpa)
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Horrende Verluste an der Front, dazu die Isolation durch den Westen: Russlands Regime sollte mittlerweile friedenswillig sein, so die Hoffnung. Doch Wladimir Putin setzt weiter auf Sieg, warnt der Historiker Jörg Baberowski.

Eine ukrainische Offensive an der Front, dazu der Wirtschaftskrieg des Westens – eigentlich sollte Russland längst geschwächt und besiegt am Verhandlungstisch sitzen. Doch es ist anders gekommen. Wladimir Putin residiert weiterhin im Kreml, wähnt sich offensichtlich stärker als zuvor, Russlands Kollaps ist ausgeblieben. Jörg Baberowski, einer der führenden Osteuropahistoriker, hat diese Entwicklung früh vorausgesagt – unter anderem in mehreren Interviews mit unserer Redaktion in den vergangenen zwei Jahren.

Nun bekräftigt Baberowski in einem neuen Gespräch seine Prognose: "Russland wird diesen Krieg nicht verlieren." Wie der Russlandexperte zu dieser Einschätzung kommt, weshalb er der deutschen Außenpolitik dringend mehr Pragmatismus empfiehlt und Putin samt Entourage keineswegs "verrückt" sei, erklärt Baberowski hier:

t-online: Professor Baberowski, an der Front in der Ukraine herrscht ein blutiges Patt, die russische Armee erleidet große Verluste. Wie sicher ist Putins Herrschaft?

Jörg Baberowski: Putins Regime ist stabil. Russland wird diesen Krieg nicht verlieren, Putins Herrschaft nicht zusammenbrechen.

Warum sind Sie da so sicher?

Die Regierung versteht sich darauf, die Bevölkerung hinter sich zu versammeln, indem sie den Krieg als eine Auseinandersetzung mit dem Westen verkauft. Die meisten Oppositionellen haben nach dem Angriff auf die Ukraine das Land verlassen. Die Rüstungsproduktion läuft auf Hochtouren, Russlands Wirtschaftsleistung ist durch die Sanktionen nicht eingebrochen. Auch werden die Sanktionen auf geschickte Weise umgangen, andere Staaten kompensieren, was der Westen nicht mehr leisten will. Im Gegensatz zur Ukraine werden in Russland keine Soldaten mobilisiert, sondern durch finanzielle Anreize angeworben. Die Soldaten kommen fast ausschließlich aus den ländlichen Randregionen. So kommt es, dass die Bevölkerung in den großen Städten die Auswirkungen des Krieges nicht spürt.

Die meisten dieser Rekruten sind aber nicht kriegserprobt, weshalb an der Front Tausende sterben. Kann Putin mit dieser zynischen Strategie wirklich siegen?

Die ukrainischen Rekruten sind auch nicht kampferprobt; die meisten Soldaten, die 2022 noch auf dem Schlachtfeld waren, tot oder verwundet. Es kommt am Ende darauf an, wer diesen Abnutzungskrieg, in dem es gar nicht mehr darauf ankommt, was die Soldaten wirklich können, länger aushält. Die westliche Unterstützung für die Ukraine lässt nach. In vielen europäischen Ländern spielt dieser Krieg in der öffentlichen Wahrnehmung eine geringere Rolle als in Polen oder Deutschland, in den USA beginnt der Präsidentschaftswahlkampf und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Der Kreml beobachtet diese Entwicklungen sehr genau. Macht hat, wer warten kann.

Zur Person

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt der Historiker den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Am 11. Juli 2024 wird Baberowskis neues Buch "Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich" erscheinen.

Verfolgen Putin und seine Entourage immer noch ihr Maximalziel, wollen also die gesamte Ukraine unterwerfen?

Was die Machthaber im Kreml wirklich denken, wissen wir nicht. Aber wir können ihre Handlungen deuten. Vor einem Jahr, als sich die russische Armee aus Cherson und dem Raum Charkiw zurückziehen musste, hätte es vielleicht die Möglichkeit für einen Kompromissfrieden gegeben. Jetzt aber scheint es so, als wolle Putin alles haben, was er bekommen kann.

Die ganze Ukraine?

Die ganze Ukraine. Oder eben das, was militärisch erreichbar ist.

Wie sollte das erreichbar sein?

Die Zeit arbeitet für Russland. Die russische Armee hat aus ihren Fehlern gelernt, sie hat im vergangenen Sommer und Herbst gezeigt, dass mit ihr noch zu rechnen ist. Die ukrainische Infrastruktur wird mit Raketen und Drohnen attackiert, die russische Kriegswirtschaft liefert, was die Armee braucht.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Rückeroberung aller russisch besetzten Teile seines Landes als Kriegsziel ausgegeben. Ist dieses Ziel überhaupt noch realistisch?

Selenskyj weiß so gut wie jeder vernünftige Mensch, dass dieses Ziel nicht erreichbar ist. Seine Generäle werden es ihm gesagt haben. Jede Verhandlung beginnt damit, dass Forderungen erhoben werden, von denen man dann abrücken muss. Nur in Deutschland melden sich "Experten" zu Wort, die glauben, dieser Krieg könne für Russland ähnlich enden wie für die Wehrmacht im Jahr 1945.

Wie dann?

Ich weiß es nicht. Vermutlich wird Putin der Sieger sein, wenigstens aber nicht der Verlierer. Und die Gegner von einst werden sich an einem Tisch versammeln und verhandeln. Der Krieg wird enden, wenn die Erschöpfung ihm ein Ende setzt. Der Moment der Erschöpfung aber wird Russland wahrscheinlich größeren Nutzen bringen als der Ukraine.

Das müssen Sie erklären.

Im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 erlitt das Zarenreich auf dem Schlachtfeld eine verheerende Niederlage. Deshalb glaubten die japanischen Unterhändler bei den anschließenden Friedensverhandlungen, weitreichende Forderungen durchsetzen zu können. Doch Sergei Witte, der Leiter der russischen Delegation, fragte die japanischen Diplomaten, ob sie denn wirklich glaubten, bis nach St. Petersburg vorstoßen, Russland erobern und dauerhaft niederwerfen zu können? Die japanischen Unterhändler verstanden sehr wohl, dass von der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen nicht sie, sondern Russland am Ende profitiert hätte. Aus Klugheit verzichteten sie auf Reparationen und gaben sich mit der Hälfte Sachalins zufrieden.

Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine heute?

Die Ukraine wird Russland nicht besiegen. Im besten Fall mag sie mit westlicher Unterstützung die russische Armee davon abhalten, weitere große Geländegewinne zu erzielen. Aber die Erschöpfung der Ukrainer wächst ebenso wie der Unmut unter den Soldaten darüber, in einem Krieg geopfert zu werden, den sie nicht gewinnen können. Von der Euphorie der ersten Monate ist in der ukrainischen Armee nur noch wenig zu spüren. Wer kann, versucht, sich der Mobilisierung zu entziehen.

Auch in den Unterstützerstaaten macht sich Ernüchterung breit. In Deutschland hat die Regierung mit diversen Krisen zu kämpfen.

Wenn in diesem Jahr die Energiepreise steigen, die Belastungen zunehmen, wird die Regierung den Bürgern nicht mehr vermitteln können, dass der Krieg, den die Ukraine gegen Russland führen müsse, auch Deutschlands Krieg sei. Je länger dieser Krieg dauert, desto weniger Menschen werden sich auch in Deutschland für ihn begeistern. Das ist das Schicksal aller Demokratien: dass Stimmungen Wahlen und Entscheidungen beeinflussen. Putin muss darauf keine Rücksicht nehmen.

Ist es denn nicht unser Krieg? Putin hat doch dem ganzen Westen Feindschaft geschworen.

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Putin hat dem Westen Feindschaft geschworen – aber dieser Schwur richtet sich nach innen, an die russische Bevölkerung. Putin weiß sehr gut, dass er einen Krieg gegen das westliche Militärbündnis nicht gewinnen könnte. Die rhetorischen Inszenierungen sollen die öffentliche Meinung steuern, den Kampfeswillen stärken. Und dennoch werden sich die Beziehungen zwischen Russland und den westlichen Staaten irgendwann wieder normalisieren – das weiß Putin ebenso gut wie Scholz oder Biden. Früher oder später werden die Staaten des westlichen Militärbündnisses Strategien, die nicht erfolgreich waren, revidieren, so wie Russland aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren ziehen wird.

Sie kritisieren eine Moralisierung der Politik. Was soll denn aber an der Unterstützung der Ukraine auch auf dieser Basis falsch sein?

An der Unterstützung der Ukraine ist nichts falsch, wenn sie sich mit nüchternen Erwägungen und realistischen Zielen verbindet. Die Moralisierung der Politik ist der Versuch, Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen und die Augen vor dem Machbaren zu verschließen. Diese Moralisierung des Politischen ist schon im Irak und in Afghanistan gescheitert, weil die politischen Entscheidungsträger sich mit den Möglichkeiten und Grenzen militärischer Interventionen nicht befassen wollten.

Was müsste stattdessen erfolgen?

Es müssten Fragen beantwortet werden: Was geschieht, wenn dieser Konflikt militärisch nicht mit einem Sieg der Ukraine endet? Wenn Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt? Wie kann vermieden werden, dass sich Kriege dieser Art wiederholen? Wie soll das Verhältnis zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen Europas nach dem Ende des Krieges eingerichtet werden? Man kann diese Fragen nicht mit dem Hinweis beantworten, man sei moralisch im Recht, könne sich aber leider nicht durchsetzen. Die Moralisierung der Politik erhebt Ansprüche, die sie nicht einlösen kann. Eine realistische Außenpolitik ist auch im Interesse der Ukraine.

Was meinen Sie damit?

Wer moralische Erwägungen zum Maßstab politischen Handelns erhebt, dürfte Öl und Gas weder aus Iran noch aus Aserbaidschan beziehen. Deutschland macht mit Aserbaidschan gute Geschäfte. Aber wer interessiert sich für das Schicksal der Armenier, die aus Berg-Karabach vertrieben wurden? Wer die Außenpolitik moralisiert, wird sich am Ende unangenehmen Fragen stellen müssen.

Deutschland ist bisher der zweitgrößte Waffenlieferant für die Ukraine. Dabei galt Kanzler Scholz zu Beginn der Invasion als Zauderer.

Scholz ist zu Beginn der russischen Invasion bedächtig aufgetreten, irgendwann aber hat er sich dem moralischen Druck nicht mehr widersetzen können, der auf ihn ausgeübt wurde. Auch das Kanzleramt kann sich Stimmungen nicht entziehen, ganz gleich, wer sie inszeniert. Politiker wollen Wahlen gewinnen. Und anfangs dominierte in der veröffentlichten Meinung tatsächlich die Auffassung, dass die Lieferung von Waffen aller Art den Krieg beenden werde. Sie hat ihn leider verlängert.

Deutlich frühere und deutlich umfangreichere Lieferungen von westlichen Waffensystemen hätten die Lage aber ebenso zugunsten der Ukraine wenden können.

Das ist eine Illusion. Wie oft ist in den vergangenen zwei Jahren schon verkündet worden, dass die Lieferung bestimmter Waffensysteme den Krieg endgültig zugunsten der Ukraine entscheiden werde? Nichts dergleichen ist geschehen. Denn Waffen müssen ersetzt, gewartet und bedient werden, und sie müssen im Dienst einer sinnvollen Strategie stehen. Ich kann nicht erkennen, dass auch nur eine dieser Bedingungen erfüllt worden ist.

Jetzt befinden sich beide Kriegsparteien in einem Patt. Was wäre Ihr Ratschlag für die Bundesregierung?

Die Regierung wäre gegenwärtig wahrscheinlich gut beraten, ihre Forderungen von gestern zu überdenken und sich zu überlegen, wie ein Szenario aussehen müsste, das dem Krieg ein gutes Ende setzt und auch ihr eigenes politisches Überleben sichern könnte.

Ist Putin überhaupt noch für Pragmatismus und Vernunft zugänglich?

Putin berechnet mit kühlem Kopf, was er tut. Er ist keineswegs verrückt. Deshalb kann man sich darauf auch mit kühlem Kopf einstellen.

Wie erklären Sie dann die Tiraden, in denen Deutschland mit nuklearer Verwüstung gedroht wurde?

Welchen Gewinn könnte Putin davon haben, Deutschland nuklear zu verwüsten? Diese martialischen Inszenierungen dienen der Mobilisierung von Gefolgschaft im Inneren, sie sollen den Bürgern in Russland zeigen, dass die Regierung mächtig, die Armee stark ist, sich alle Welt vor ihr fürchtet. Putin legitimiert seine territorialen Ansprüche historisch, so wie es alle Krieger tun, die glauben, ein Anrecht auf das Land des Nachbarn zu haben. Für die einen ist die Krim das Land der Ukrainer, für die anderen Heimat der Russen. Manche wissen noch, dass dort einmal Griechen, Armenier und Tataren lebten. Und wer vom Nationalismus noch nicht vergiftet worden ist, weiß, dass die Vergangenheit nicht die Vorbereitung der Gegenwart ist. Putin weiß es auch.

Selbst wenn Putin kein Fanatiker sein sollte, führt er den Staat doch wie ein Mafiapate. Wie lässt sich mit so einem Mann verhandeln?

Das ist ganz einfach: Die Mafia handelt ausschließlich zu ihrem Vorteil – ihre Strategien sind deshalb berechenbar. Wer sich von moralischen Erwägungen, von Leidenschaften leiten lässt, ist es nicht.

Wie kann Deutschland einen Beitrag leisten, Russland künftig wieder einzubinden?

Deutschland und Russland verbindet eine lange Tradition gegenseitigen Austausches. Dieses kulturelle Kapital sollte die Regierung nutzen, um Einfluss zu nehmen. In der Vergangenheit war Deutschland Lieferant für Ideen und Technik, Russland für Rohstoffe aller Art. Diese Beziehung war zum Nutzen beider Seiten. Schon Immanuel Kant hat in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" den Vorschlag unterbreitet, Länder ökonomisch so eng zu verzahnen, dass sie aus der gegenseitigen Umklammerung nicht mehr ausbrechen und auch kein Interesse mehr daran haben können, gegeneinander Krieg zu führen. Die Nachkriegsordnung wird nur Bestand haben, wenn es gelingt, ein Sicherheitssystem zu errichten, in dem Russland und die Ukraine einen Platz finden.

Diesen Weg hat auch Deutschland jahrelang verfolgt. Er ist offensichtlich gescheitert, wie Russlands Angriff auf die Ukraine gezeigt hat.

Es war nicht Willy Brandts Ostpolitik, die diesen Krieg verursacht hat. Er vollzieht sich vielmehr auf einem Terrain, das durch die Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 bereitet worden ist. Die Republiken der Sowjetunion waren wirtschaftlich und kulturell einst eng miteinander verzahnt. Was spräche dagegen, wenn die Ukraine sich mit der Europäischen Union verbände, aber auch mit der Russischen Föderation verflochten bliebe? Deutschland hat nach 1945 von solcher Integration profitiert, ist Teil einer stabilen Friedensordnung geworden, ungeachtet der Vernichtungsgewalt, mit der die Nationalsozialisten Europa verheert hatten. Russland wird nicht verschwinden. Deshalb haben wir keine andere Wahl, als mit dieser Wirklichkeit zurechtzukommen.

Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski
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