Terroristen hatten offenbar Plan Wie hebelte die Hamas Israels modernste Sicherheitstechnik aus?
Selbst modernste Grenzschutzanlagen hielten den Terrorangriff nicht ab. Die Hamas kannte sich offenbar bestens aus.
Die Hamas-Terroristen wussten bei ihrem Großangriff offenbar sehr genau, wo es Lücken in der israelischen Sicherheitsstruktur am Gazastreifen gibt. Videoaufnahmen eines Hamas-Kommandeurs, der später getötet wurde, zeigen, wie die Angreifer gezielt einen Kommandoposten der israelischen Aufklärung finden konnten. Die "New York Times" berichtet, dass eine Einheit von zehn Angreifern aus dem Gazastreifen eine Karte im Besitz hatte, die ihre Ziele markierte. Sie seien durch eine unverschlossene Tür ins Gebäude gelangt. Dort erschossen sie zwei israelische Soldaten und betraten den Computerraum.
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Die US-Zeitung hat die Videoaufnahmen geprüft und erachtet sie als echt. Sie seien ein Beispiel dafür, wie die Hamas offenbar sehr genau wusste, wie sie über ein Gebiet von knapp 77 Quadratkilometern eindringen, 120 Geiseln nehmen und mehr als 1.300 Menschen töten konnten.
Offenbar ohne, dass weder der sonst so gepriesene israelische Geheimdienst Mossad noch die Armee (IDF) den Hauch einer Ahnung hatten, bereiteten die Terroristen ihre Attacke sorgfältig vor. So seien Drohnen eingesetzt worden, um die israelische Kommunikation und Kameraüberwachung auszuschalten. Traktoren und Sprengkörper durchbrachen den Zaun und Barrikaden, 2.100 Terroristen drangen durch diese Löcher ein – mit kleinen Pickups oder Motorrädern.
Hochmoderne Grenzanlage auf 65 Kilometer Länge
Dabei handelt es sich um eine hochmoderne Grenzanlage: Zwei Metallzäune, sechs Meter hoch, obendrauf Stacheldraht, unten Beton, der bis in den Boden reicht. Gesichert war die Grenze außerdem mit Sensoren, Kameras und Wachtürmen. 140.000 Tonnen Eisen und Stahl, schreibt der "Spiegel", seien auf einer Länge von 65 Kilometern verbaut worden.
"Diese Barriere, ein kreatives, technologisches Projekt ersten Ranges, beraubt die Hamas einer der Fähigkeiten, die sie zu entwickeln versuchte", lobte der damalige Verteidigungsminister Benny Gantz bei einer Zeremonie anlässlich der Fertigstellung im Jahr 2019 das Projekt.
Unklar ist noch, woher die Hamas ihr Detailwissen hatte, diese Barriere jetzt zu überwinden. Aus Tel Aviv heißt es, man wolle nach Kriegsende genau untersuchen, wie es den Angreifer gelingen konnte, Israel so zu überraschen – immerhin eine der weltweit am besten ausgerüsteten Armeen.
Audrey Kurth Cronin, Leiterin des Carnegie Mellon Instituts für Sicherheit und Technologie in den USA, benennt gegenüber dem "Spiegel" zwei Gründe: Israel hätte sich aufs Westjordanland konzentriert und sich zu sehr auf die Technik der Grenze verlassen.
Dabei könnte auch geholfen haben, dass man die Hamas unterschätzt habe. Der Westen sei davon ausgegangen, dass die Terrororganisation zunehmend die Verwaltung in Gaza übernommen habe. Hamas ließ die Israelis glauben, sie sei "mit der Regierung von Gaza beschäftigt", sagte Ali Barakeh, ein Hamas-Führer, am Montag in einem Fernsehinterview. "Die ganze Zeit über bereitete sich die Hamas unter dem Tisch auf diesen großen Angriff vor", fügte er hinzu. Das sieht auch Cronin so: ""Sie gingen in diesem Fall fast wie Aufständische oder wie ein Pseudostaat vor, mit umfassender Planung, genug Leuten, Koordination und gezielter Feuerkraft für einen überwältigenden Angriff."
Kommunikation der israelischen Armee ausgeschaltet
Während Raketen in Richtung Israel flogen, machten sich gleichzeitig Terroristen auf den Weg, um offenbar vorher ausgewählte Ziele anzugreifen – Militäreinrichtungen und Kibuzze. In kurzer Zeit überwältigten sie die israelischen Grenzposten. Nach Recherchen der "New York Times" wussten sie genau, wo sie die Computerzentren in den Armeeeinrichtungen finden konnten. Sie zerstörten die Rechner, legten Teile der Kommunikation der IDF lahm. Drohnen hätten Sprengladungen auf Funktürme an der Grenze abgeworfen. Das wiederum verzögerte die Meldungen der israelischen Soldaten an andere Einheiten über den Angriff. Viele waren wehrlos, konnten sich und die nahen Zivilisten nicht verteidigen.
Dokumente der Hamas, die an einem der getöteten Soldaten gefunden wurden, legten nahe, dass die Terrororganisation bestens organisiert war. Es gab Aufklärer, Saboteure und Fahrer sowie Helfer, die mit Mörsern Feuerschutz geben sollten. In einem der Dokumente aus dem Jahr 2022 wurde detailliert aufgeschrieben, wie aus verschiedenen Seiten ein Kibbuz eingenommen werden soll.
Es gab Schätzungen, wie groß der Widerstand sein könnte und wieviele Fahrzeuge die israelischen Soldaten zur Verfügung haben. Während des Angriffs sollten weitere Helfer an wichtigen Kreuzungen darauf achten, ob Israel Nachschub schickt. Und: In den Papieren war damals schon davon die Rede, dass Geiseln genommen werden sollen. Sie wurden auch in der Vergangenheit dazu genutzt, mit Israel zu verhandeln und Hamas-Mitglieder aus der Haft zu befreien.
Beim Angriff vor einer Woche zeigte sich, wie genau diese Pläne waren. Selbst auf die Kameras hätten die Angreifer geschossen, berichtet eine Grenzsoldatin dem "Spiegel", "bis wir irgendwann gar nichts mehr beobachten konnten". Schließlich sei ihr und ihren Kameraden gesagt worden, dass ihnen nur noch eins bleibe: "um unser Leben rennen, in den Schutzraum".
"Da war niemand, der die Gesamtlage verstand"
Die israelischen Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen reagierten offenbar chaotisch. Brigadegeneral Dan Goldfus sagte der US-Zeitung, dass er in Tel Aviv war, als die Attacken begannen. Er sei sofort Richtung Süden gefahren – ohne dass es einen Befehl gegeben habe. Dann habe er andere Soldaten informieren wollen – viele gingen nicht ans Telefon. "Da war niemand, der die Gesamtlage verstand", sagte er.
Als er am Ort des Geschehens war, traf er auf andere Soldaten und Zivilisten. Sie hätten spontan entschieden, was zu tun sei – und mit einer Gegenattacke begonnen. Dabei seien auch Kommunikationseinrichtungen zurückerobert worden. Sie überwältigten die zehn Terroristen, die die Armeeeinrichtungen überfallen und den Computerraum besetzt hatten. Auf den Videoaufnahmen des Hamas-Kommandeurs ist laut Zeitung zu sehen, wie er erschossen wird – die Kamera fällt hin und zeigt kurz seinen Kopf.
Der teure Zaun und die moderne Technik haben die Hamas nicht abhalten können. Darin sieht die amerikanische Expertin einen wichtigen Grund: Israel habe sich zu sehr auf neue technische Methoden verlassen, aber weniger auf menschliche Quellen. So hat die Grenzanlage den Bewohnern auf der israelischen Seite ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, was sich vergangene Woche als falsch herausstellte.
- nytimes.com: "The Secrets Hamas Knew About Israel’s Military" (englisch, kostenpflichtig)
- spiegel.de: "So hat die Hamas Israels Grenzanlage überwunden" (kostenpflichtig)
- nbcnews.com: "'Top secret' Hamas documents show that terrorists intentionally targeted elementary schools and a youth center" (englisch)
- timesofisrael.com: "Why did Israel think a border fence would protect it from an army of terrorists?" (englisch)