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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestag Bekommt die AfD das "schärfste Schwert" in die Finger?

Für ein wichtiges Kontrollinstrument der Opposition fehlen AfD, aber auch Grünen und Linken die Mehrheiten. Die Grünen überlegen nun, die Regeln zu ändern. Am meisten freuen dürfte sich darüber die AfD.
Im Wahlkampf war es Ziel und Traum der AfD: Mindestens 25 Prozent der Sitze im Parlament zu gewinnen, um Untersuchungsausschüsse in rauen Mengen einsetzen zu können. Knapp verfehlte die in Teilen rechtsextreme Partei ihr Ziel. Nun aber könnte sie es womöglich doch noch erreichen – ausgerechnet dank einer Initiative der Grünen.
Die Opposition hat in der Demokratie eine wichtige Funktion: Sie soll die Regierung kontrollieren. Um das zu tun, hat sie im Bundestag einige Minderheitenrechte. Das berühmteste Recht ist das sogenannte "schärfste Schwert" der Opposition: Sie kann einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Dafür muss sie im Bundestag jedoch eine bestimmte Mehrheit zusammenbekommen. Mindestens ein Viertel der Abgeordneten muss derzeit einem entsprechenden Antrag zustimmen.
Sollten Union und SPD nun erfolgreich eine Regierung bilden, bestände die Opposition künftig aus der AfD, den Grünen und der Linkspartei. Das Problem: Grüne und Linke zusammen verfehlen diese Mehrheit – ebenso wie die AfD, mit der beide auch auf keinen Fall zusammenarbeiten wollen. Wird es in den nächsten Jahren also keine Untersuchungsausschüsse mehr geben können, schlicht weil die Mehrheit ohne die AfD fehlt? Klemmt das "schärfste Schwert" der Opposition?
Grüne: "Da werden wir nachsteuern müssen"
Als eine Journalistin das die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann am Dienstag im Bundestag fragt, wird die überraschend deutlich: "Ich denke, da werden wir nachsteuern müssen", sagt sie. Man habe schon einige Male in der Geschichte des Bundestags die Situation gehabt, dass verbriefte Rechte der Opposition nicht gehalten werden konnten. "Und wir haben dann immer im demokratischen Konsens Lösungen dafür gefunden."
Die Grünen verträten diese Auffassung, sagt Haßelmann: "Wir können an so einer Stelle nicht abhängig sein von der AfD und der extremen Rechten im Deutschen Bundestag."
In der Tat ist das Quorum für Minderheitenrechte wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses etwa 2014 schon einmal heruntergesetzt worden. Damals lag es zunächst bei 25 Prozent und wurde auf rund 20 Prozent reduziert. Auch damals geschah das, weil Grüne und Linke gemeinsam ihre Oppositionsrechte gegen eine damals wirklich noch große Koalition aus Union und SPD nicht hätten durchsetzen können.
Allerdings gab es damals etwas anderes nicht: eine AfD im Bundestag. Die hat diesmal sogar etwas mehr Abgeordnete als Grüne und Linke zusammen. Würde man das Quorum also einfach heruntersetzen, könnte auch die AfD Untersuchungsausschüsse einsetzen – und zwar allein.
Für die AfD wäre das ein Geschenk
Fraktionsspitze und Abgeordnete der AfD reagieren entsprechend erfreut, als sie sich am Dienstag zur konstituierenden Sitzung ihrer neuen Fraktion treffen, die nun 152 Abgeordnete zählt. "Wir sind sehr gern gesprächsbereit, Frau Haßelmann", sagt Fraktionschef Tino Chrupalla t-online.
Für die AfD wäre eine Veränderung des Quorums ein Geschenk. Die Partei hat mit dem Ziel von Untersuchungsausschüssen im Wahlkampf geworben. Rund zwei Wochen vor der Wahl sagte AfD-Chefin Alice Weidel im ZDF in einer Talkrunde zur besten Sendezeit: Sie hoffe darauf, 25 Prozent der Sitze zu erreichen, um allein Untersuchungsausschüsse einsetzen zu können. Als Beispiel nannte sie einen Corona-Untersuchungsausschuss oder einen zur Sprengung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee.
Und das ist kein leeres Versprechen. Die AfD hat in der Vergangenheit im Bundestag schon versucht, Untersuchungsausschüsse zu ganz unterschiedlichen Themen zu lancieren. Darunter: Corona, Stellenbesetzungen und familiäre Verquickungen im Umfeld der Bundesregierung, Finanzskandale wie Cum-Ex und Wirecard. An diesem Dienstag forderte AfD-Landeschef Björn Höcke aus Thüringen bei "The Pioneer" eine "Aufarbeitung der Merkel-Ära, am besten auch im Rahmen eines Untersuchungsausschusses".
Den Abgeordneten ist präsent, dass sie die nötige Mehrheit nur knapp verpasst haben. Immer wieder heißt es in Gesprächen: Leider fehlten nur eine Handvoll Sitze. Die Idee der Grünen, das Quorum zu senken, bezeichnet der Abgeordnete und AfD-Bayern-Chef Stephan Protschka als "natürlich interessant für die AfD", wenn das erlaube, Ausschüsse einzurichten, "die uns jetzt wegen sechs fehlenden Abgeordneten verwehrt bleiben".
Haben die Grünen diese Nebenwirkung ihres Vorschlags auf dem Schirm? Als Grünen-Fraktionschefin Haßelmann am Dienstag darauf angesprochen wird, sagt sie noch mal, was sie vorher schon gesagt hat: "Ich glaube, wir können uns auf keinen Fall abhängig machen von der AfD." Zu Diskussionen aber wird das alles trotzdem noch führen.
- Eigene Recherchen
- bundestag.de: Minderheitenrechte im Parlament neu geregelt (Archiv aus 2014)