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Ukraine-Krieg: "Putin bedient sich der Sprache eines Vergewaltigers"


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Expertin über Russlands Aggression
"Die Folgen könnten apokalyptisch sein"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 11.10.2023Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident will wortwörtlich als "starker" Mann gelten.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident will wortwörtlich als "starker" Mann gelten. (Quelle: Stanislav Krasilnikov/dpa)

Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Warum? Weil im chauvinistischen Weltbild des Landes nur Stärke zähle, erklärt Politologin Sabine Fischer.

Wladimir Putin will Russland die Ukraine einverleiben, Nationalismus und Imperialismus seien seine Beweggründe. So lautet eine weitverbreitete Erklärung für die russische Aggression. Das greift zu kurz, sagt die Osteuropaexpertin Sabine Fischer, die gerade das Buch "Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten" veröffentlicht hat. Warum in Russlands Gesellschaft Stärke mehr als alles andere gelte und weshalb auch nach Putins Ende die Gefahr noch lange nicht vorbei sei, erklärt Fischer im Gespräch.

t-online: Frau Fischer, für Russlands Aggressivität gibt es zahlreiche Erklärungsansätze. Wladimir Putin sei ein Imperialist, so heißt es, gar ein neuer Hitler. Sie sagen: Russland ist eine chauvinistische Macht. Was meinen Sie damit?

Sabine Fischer: Chauvinismus ist eine Kombination aus drei Bestandteilen: aggressiver Nationalismus, Sexismus und Autokratie. Jeder Faktor ist für sich bereits bedrohlich, vereint im Chauvinismus steigert sich die Gefahr noch weiter. Das macht Russland so ungeheuer bedrohlich.

"Ob du es willst oder nicht, du wirst es hinnehmen müssen, meine Schöne", drohte Wladimir Putin der Ukraine kurz vor dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022. Kommt hier der Faktor Sexismus zum Ausdruck?

Ja. Putin bedient sich der Sprache eines Vergewaltigers. Seit 2014 ist die Ukraine im russischen Diskurs mehr und mehr "feminisiert" worden, sie wurde als "Memme", als "Hure" bezeichnet, gar zum Vergewaltigungsopfer stilisiert. Sexismus ist immer eine Quelle der Gewalt, am Beispiel Russlands lässt sich das sehr gut demonstrieren. Auch wenn der Sexismus längst nicht nur in Russland existiert.

Putin verwendet nicht nur eine aggressive, frauenverachtende Sprache, sondern pflegt seit vielen Jahren auch einen extremen Männlichkeitskult, wie Sie in Ihrem neuen Buch "Die chauvinistische Bedrohung" schreiben.

Russlands Präsidenten durften wir in verschiedensten Posen "bewundern": Wie Putin mit nacktem Oberkörper im Fluss stehend angelte, wie er mit einem U-Boot abtauchte oder er einen Tiger streichelte. Wenn dieser auch betäubt gewesen ist. Unvergessen auch Putin zu Pferd, erneut mit nacktem Oberkörper. Dieser ganze Kult der Männlichkeit um ihn herum lässt sich aber nur verstehen, wenn wir in die Neunzigerjahre zurückblicken.

Sabine Fischer, Jahrgang 1969, ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Kürzlich hat die Osteuropaexpertin ihr Buch "Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten" veröffentlicht.

Als in Russland chaotische Zustände herrschten und mit Boris Jelzin ein schwerer Alkoholiker im Kreml regierte?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre erlebte Russland wie alle postsowjetischen Staaten eine tiefgreifende Transformationskrise. Politik, Gesellschaft und die Wirtschaft waren erschüttert: Viele Menschen – und besonders viele Männer – haben diese Krise als Erniedrigung empfunden. Die entsprechenden Auswirkungen äußerten sich dann bald, als nationalistische, chauvinistische und sexistische Positionen in den politischen Diskussionen immer sichtbarer und stärker geworden sind. Boris Jelzin verkörpert für viele Menschen bis heute die damalige Schwäche Russlands.

Sportlich, abstinent und durchsetzungsstark bis hin zu unerbittlich: Putin inszenierte sich ab 2000 dann als das Gegenteil seines Vorgängers.

So ist es. Putin und sein Regime förderten und etablierten Strukturen des Patriarchats und der Maskulinität in einer extremen und aggressiven Form. Putin will als beinharter Kerl gelten – nichts ist ihm wichtiger. Das russische Soziologenpaar Tatjana Rjabowa und Oleg Rjabow hat von einer "Remaskulisierung Russlands" durch das Putin-Regime gesprochen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der "russkij muschik", der "russische Kerl", der stark und verlässlich sei, immer bereit, Russland zu verteidigen.

Nicht zuletzt gegen angebliche westliche Bevormundung und Dekadenz?

Genau. Liberale Werte und politische Korrektheit, Homosexualität, Feminismus oder gar "Gender-Ideologie" sind in dieser Denkweise absolute Feindbilder. In dieser Denkweise ist der Westen "feminisiert", er gilt als schwach und dekadent.

Nun sind Sexismus und Männlichkeitskult kein Novum in der russischen Gesellschaft?

Das ist richtig. Ich beschäftige mich mit Russland seit mehr als 30 Jahren, Anfang der Neunzigerjahre habe ich zum ersten Mal dort gelebt und das Land seitdem unzählige Male bereist. Was mir im Laufe der Zeit immer stärker auffiel, war die zunehmende Entgrenzung von Gewalt – sei es auf der privaten, auf der gesellschaftlichen oder der staatlichen Ebene. Und nicht zuletzt in Sachen Außenpolitik. Um diese Radikalisierung zu verstehen, dürfen wir die sexistische Komponente nicht außer Betracht lassen. Die feministische Perspektive ist notwendig, um die ganze Dimension des Chauvinismus autoritärer Regime zu begreifen.

Zugleich hat das russische Regime den Chauvinismus aber auch in den liberalen Demokratien des Westens gefördert und unterstützt. Putins Vorstellung von Männlichkeit und Führung kam auch bei der deutschen AfD gut an.

Es existieren Überlappungen, fraglos, und Einfallstore für Russlands chauvinistische Politik in unsere liberalen Demokratien. Über den Chauvinismus-Begriff lassen sich diejenigen politischen Kräfte auch gut identifizieren. Was der erste Schritt zu ihrer Eindämmung ist.

Wie aber lässt sich Russlands Aggression eindämmen?

Dieser Politik hätte von Anfang an mit Härte begegnet werden müssen, das haben viele zu spät verstanden. Damit meine ich nicht, dass bereits während der 90er- oder 2000er-Jahre militärische Härte gegenüber Russland angebracht gewesen wäre. Gleichwohl hätten Deutschland und Europa in wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Belangen klare Kante zeigen können. Diese Warnung hätte Putin sehr wohl verstanden.

Wäre es aber nicht spätestens mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und der Entfachung des Krieges in der Ostukraine 2014 Zeit für eine härtere Gangart gewesen? Stattdessen kam Nord Stream 2.

Ein entschiedeneres Vorgehen in der Vergangenheit hätte sicherlich die Möglichkeit eines derartigen Vernichtungskrieges in unserer Gegenwart gemindert. Wir haben nicht rechtzeitig bemerkt, dass unsere Beziehungen zu Russland keine tiefere Substanz mehr hatten – oder wollten es nicht bemerken.

Nun wirkt zumindest Bundeskanzler Olaf Scholz nicht sonderlich entschieden, wenn er der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus weiterhin verweigert.

Grundsätzlich ist es vollkommen richtig, dass die Nato und ihre Mitgliedstaaten peinlich darauf achten, nicht als Kriegsparteien in diesen Krieg involviert zu werden. Die Folgen könnten apokalyptisch sein – und unsere Vorstellungen weit übersteigen. Allerdings überlassen wir Putin die Eskalationsdominanz, wenn wir bei jeder neuen Waffenlieferung die Reaktion des Kremls fürchten.

Sollte die Ukraine also Taurus bekommen?

Ich bin dieser Meinung, ja. Es braucht einfach Realismus für die Lage, in der wir uns derzeitig befinden. Der Ausgang des russischen Krieges gegen die Ukraine ist entscheidend für die Zukunft des Kontinents. Deutschland, seine europäischen Partner und das transatlantische Bündnis müssen alles dafür tun, um eine zumindest in Grundzügen auf konstruktive Kooperation ausgerichtete europäische Sicherheitsordnung zu erhalten. Denn es geht jetzt um alles – angesichts äußerer und innerer Bedrohung der liberalen Demokratie durch den Chauvinismus.

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Bitte erklären Sie das näher.

Wir müssen schlichtweg Räume erhalten, wehrhafte Räume, in denen Demokratien weiter existieren und prosperieren können. Das beginnt mit der Befähigung der Ukraine, ihre territoriale Integrität und ihre Souveränität zu verteidigen.

Vor allem darf Russland aber keinen Erfolg haben mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg. Jedes andere aggressive Regime würde davon ermutigt werden.

Der Aggressor Russland darf auf keinen Fall belohnt werden – das ist in der Tat die wichtigste Lehre. Die Folgen für unser aller Zukunft wären sonst katastrophal. In der aktuellen Situation muss nun die Ukraine Dreh- und Angelpunkt unserer Bemühungen sein, aber Staaten wie Moldau und Georgien dürfen wir nicht vergessen. Deren Resilienz und Verteidigungsfähigkeit müssen gestärkt werden. Das erfordert viel Energie und massive Investitionen, auch im Rahmen der Europäischen Union. Aber wir haben keine andere Wahl.

Wir haben allerdings eine Wahl der Mittel, die wir einsetzen wollen. Sie plädieren in Ihrem Buch für eine feministische Außenpolitik. Wie kann diese uns helfen?

Zunächst einmal muss uns bewusst sein, dass sich die russische Politik nicht ändern wird, solange dieses Regime an der Macht ist. Was wir seit Beginn der Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 gesehen haben, ist die drastische Beschleunigung aller negativen Trends der letzten Jahrzehnte in Russland.

Aber der Chauvinismus wird doch auch nicht an dem Tage aufhören, an dem Putin abtritt oder stirbt?

Putins Ende ist noch lange keine Lösung, richtig, auch nicht das seines Regimes. Denn der Chauvinismus ist in das Denken und das Handeln der politischen Akteure in Russland und auch der Gesellschaft eingelagert. An dieser Stelle – um auf Ihre Frage zurückzukommen – ist die feministische Perspektive auf vielen Ebenen wichtig. Durch sie wird die Gender-Dimension dieses kolonialistischen Krieges deutlich. Wir hatten bereits über die Feminisierung der Ukraine im russischen Diskurs gesprochen, die ein Teil dieses Prozesses der Entgrenzung von Gewalt ist. Aber die Folgen sind noch viel handgreiflicher.

Sie meinen die sexualisierte Gewalt, die russische Soldaten im Krieg einsetzen?

Russland setzte sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe ein – nicht nur gegen Frauen, auch gegen Männer. Das ist die ultimative Geste der Unterwerfung. Sexualisierte Gewalt spielt also eine große Rolle, wir müssen diese Dimension des Kriegs erkennen. Die feministische Perspektive ist aber auch wichtig, wenn es um die Überwindung der Kriegsfolgen geht. Die ukrainische Gesellschaft erleidet ein massives Trauma durch Gewalt. Das kann zu einem Gewaltzyklus führen, zur Reproduktion von Gewalt auf privater, gesellschaftlicher und staatlicher Ebene. Dem muss entgegengewirkt werden.

Für Wladimir Putin und sein Regime sind die russischen Soldaten eher Kanonenfutter.

So ist es. Die Ukraine geht ganz anders mit den Opfern von Gewalt um. Es gibt Therapieangebote für Kämpferinnen und Kämpfer, die von der Front kommen. In Russland hingegen gibt es einen Helden- und Totenkult. Die Männer, die gekämpft haben, müssen einfach irgendwie klarkommen. Die feministische Perspektive – die in Russland absolut fehlt – hilft, den Blick auf solche Menschen zu richten: Denn diese Traumatisierten bergen ein immenses Risiko für die spätere Reproduktion von Gewalt in der Gesellschaft.

Wie wird es mit Russland und seiner Gesellschaft weitergehen?

Drei Szenarien sind im Augenblick denkbar. Das erste bedeutet Kontinuität: Putin wird an der Macht bleiben oder ein Nachfolger bezieht den Kreml, der die bisherige Politik mehr oder minder fortführen wird.

Dieses Szenario stimmt wenig hoffungsvoll.

Allerdings ist das zweite auch nicht positiv. Denn es würde den Kollaps bedeuten. In diesem Szenario löst ein starker externer Schock – wie ein großer militärischer Erfolg der Ukraine – einen Zusammenbruch aus. Die Risiken wären groß, aber wahrscheinlich würde der militärische Druck auf die Ukraine abnehmen. Es gibt noch das dritte Szenario, das in einer demokratischen Transition besteht.

Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses? Alexei Nawalny, der einflussreichste Oppositionelle, sitzt im Lager, zahlreiche Dissidenten haben Russland seit dem Februar 2022 verlassen.

Ich würde es nicht vollständig ausschließen, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. Trotzdem arbeiten aus dem Exil heraus zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, oppositionelle Politikerinnen und Politiker wie auch Journalistinnen und Journalisten daran, nach Russland hineinzuwirken.

Die russische oppositionelle Politik ist auch eher männlich dominiert.

Fast zu 100 Prozent. Auch hier ist feministische Außenpolitik gefragt. Es geht um die Stärkung und Diversifizierung einer demokratischen Opposition, in der Frauen und andere marginalisierte Gruppen eine Stimme bekommen.

Frau Fischer, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Sabine Fischer via Videokonferenz
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