Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gegenoffensive der Ukraine So nervös ist Putins Russland
Läuft die ukrainische Offensive schon oder kommt sie noch? Diese Frage stellt sich in Russland nicht nur Wladimir Putin. Seine Landsleute werden mächtig nervös, meint Wladimir Kaminer.
Das Gespenst der "ukrainischen Gegenoffensive", die entweder bereits begonnen hat oder sehr bald beginnen sollte, möglicherweise gar schon eine ganze Weile verdeckt läuft, ihre geheimen Ziele aber nur langsam offenbart, nicht gleich heute oder morgen, aber mit Sicherheit noch diese, spätestens nächste Woche, wahrscheinlich im Süden, aber auch im Norden und überall sonst: Dieser "Geist" hat bereits die Gemüter der Russen mächtig verstört und in den Köpfen der russischen Führung großen Schaden angerichtet.
Im Stress dieses "Wartens auf die Gegenoffensive" haben sich alle Akteure des Kriegstheaters heftig zerstritten. Der Chef des Sicherheitsdienstes schimpfte plötzlich während einer Sitzung des Sicherheitsrats über den Präsidenten und seine fatale Politik, der Präsident brach daraufhin die Videokonferenz ab. Und Jewgeni Prigoschin, Anführer der Söldnerarmee Wagner, drohte, seine Truppen von der Front abzuziehen, "noch bevor die ukrainische Gegenoffensive beginnt". Er bezichtigt die Armeeführung des Verrats.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".
Die Armee hingegen versucht vorsorglich, die Bevölkerung aus annektierten Gebieten in der Ukraine zu "evakuieren". Nach der Detonation der Drohnen über dem Roten Platz wurde wiederum die Bevölkerung Moskaus von der Stadtverwaltung aufgefordert, öfter zum Himmel zu schauen und alle verdächtigen Objekte sofort der Polizei zu melden. Das hat zur Folge, dass Menschen mit Wahrnehmungsstörungen, die unter Ängsten und Phobien leiden oder unter Alkoholeinfluss stehen, beinahe im Sekundentakt unbekannte Flugobjekte bei der Polizei melden.
Meistens handelt es sich dabei um als ukrainische Diversanten verkleidete Teufelchen an Fallschirmen und gepanzerte nachtaktive Fahrzeuge mit Flügeln. Jeden Abend zu Stoßzeiten kurz vor Mitternacht registrieren Polizei und Katastrophenschutz bis zu 300 Anrufe pro Minute. Laut Anweisung der Stadtverwaltung ist die Polizei verpflichtet, auf jeden Anruf zu reagieren.
Warum ausgerechnet Mangos?
Das bringt die Ordnungshüter auf die Palme, denn bis jetzt hatten sie einen viel ruhigeren Job; sie waren eigentlich nur damit beschäftigt, die Kriegsgegner von der Straße zu fegen, vor allem Frauen mit Blumensträußen, die ihre Blumen zu den Denkmälern ukrainischer Dichter oder einfach zu nach Ukrainern benannten Straßen brachten.
Frauen mit Blumen abzufertigen, war für die Polizei bei Weitem nicht so stressig, wie mit den Irren nachts auf Ufo-Jagd über die Dächer zu eilen. "Schaut bitte nicht mehr nach oben", riet die Polizei den Wiederholungstätern, die jeden Abend einen neuen Feind am Himmel sahen. Die gesamte Bevölkerung wird unter der Last einer ständig drohenden ukrainischen Gegenoffensive zappelig, immer wieder versuchen die Menschen, Vorräte zu horten. Wodurch das gewohnte Lebensmittelangebot in den Läden schwand, erzählte mir meine Moskauer Cousine.
Längst bekannte Produkte verschwanden, dafür kamen neue ins Regal, mit denen nicht jeder etwas anfangen konnte. So waren die Tomaten lange Zeit verschwunden – dafür war die ganze Stadt voller Mangos, berichtete die Cousine, als sollte Mango nun zum russischen Nationalgericht werden. An den Kassen in Lebensmittelläden wurden kostenlos Broschüren mit Mango-Rezepten verteilt. "Man kann mit so einer Mango jede Menge anstellen," wunderte sich meine Cousine. Wie die Mangos in das vom Westen sanktionierte Land kamen, ist unklar. Sie tippt jedenfalls auf Indien.
Seit Ankündigung der baldigen Gegenoffensive der Ukrainer stieg die Anzahl der Denunziantenberichte in Russland rasant, die Menschen verpfiffen ihre Nachbarn: Diese würden den Krieg nicht unterstützen oder sich extra Klamotten in den Farben der ukrainischen Flagge anziehen. Schüler denunzierten ihre Lehrer, geschiedene Ehemänner berichteten über die politischen Präferenzen ihrer ehemaligen Frauen, diese zahlten es ihnen mit gleicher Münze heim.
Künstliche Intelligenz hilft
Inzwischen ist es für viele Rentner ein beliebter Sport geworden, Theaterinszenierungen, Filme oder Konzerte zu besuchen, um sich später über politisch unkorrekte Inhalte schriftlich bei den entsprechenden Stellen zu beschweren und die Künstler zu verpetzen. Mit diesen Flausen werden die Postfächer der Sicherheitsdienste vollgestopft, besonders achtsame Bürger schreiben bis zu 600 Anzeigen pro Tag, berichtete neulich der Pressesprecher der Staatssicherheit.
Es wird vermutet, dass diese Berichte mithilfe von Künstlicher Intelligenz, also mit ChatGPT, geschrieben werden. ChatGPT ist in Russland nicht verboten und funktioniert sogar besser als GPS. Nach dem letzten Drohnenangriff in Moskau wurden im Zentrum die GPS-Geräte gestört, die Fahrer konnten ihre Navis nicht mehr nutzen.
Nachdem Instagram, Facebook und etliche andere soziale Netzwerke in Russland als "extremistische Organisationen" eingestuft und verboten wurden, beschloss nun auch Tinder, die beliebte Mobil-Dating-Plattform, bis Ende Juni Russland zu verlassen. Wenn es so weitergeht, wird bald der russische Präsident der einzige Mensch sein, den die Russen jeden Tag aufs Neue kennenlernen können. Den kennen sie aber schon zur Genüge. Es wird also einsam.
"Wir brauchen die westlichen Verkupplungsplattformen nicht", kommentierte der Vizesprecher des russischen Parlaments Tinders Abgang. "Das waren dort sowieso nur Fake-Accounts mit käuflichen Frauen, die bloß Geld verdienen wollen. Wir werden uns an die Jahre unserer Jugend erinnern, denn irgendwie hatten wir uns alle auch ohne Tinder kennengelernt, auf alkoholfreien Tanzabenden mit patriotischer Musik."
Der Vizesprecher schlug vor, in der nahen Zukunft in jedem Bezirk eine Diskothek aufzumachen und Tag für Tag für alle Bevölkerungsschichten Kennenlernabende zu veranstalten. Montag wäre zum Beispiel Ü30, Dienstag Ü40 und so weiter bis Freitag Ü70, natürlich nur mit russischer Musik. Mit weit geöffneten Augen schaut die Welt auf das neue russische Leben. Der Dachschaden durch die ukrainische Gegenoffensive ist enorm.