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Ukraine-Krieg: "Damit will Putin uns jetzt massiv schaden"


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Russland gegen den Westen
"Damit will Putin uns jetzt massiv schaden"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 12.12.2022Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Russlands Machthaber wird den Krieg weiterführen, sagt Historiker Orlando Figes.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Machthaber wird den Krieg weiterführen, sagt Historiker Orlando Figes. (Quelle: Pavel Bednyakov/imago-images-bilder)

Russlands Krieg verläuft desaströs, aber Putin lässt nicht von der Ukraine ab. Historiker Figes erklärt den Hass des russischen Präsidenten auf den Westen.

Wladimir Putin bekriegt die Ukraine und hält den Westen für schwach. Woher stammt diese Verachtung? Russlands Hass auf den Westen sei jahrhundertealt, sagt Orlando Figes, der die russische Geschichte seit Jahrzehnten erforscht. Welche Fehler der Westen im Umgang mit Moskau gemacht habe, welche historische Demütigung Russland nicht vergessen könne und weshalb ein baldiger Friede mit der Ukraine unwahrscheinlich sei, erklärt der Historiker im Gespräch.

t-online: Professor Figes, warum verachtet Wladimir Putin den Westen eigentlich so sehr?

Orlando Figes: Putin hasst den Westen mit Inbrunst. Er hält uns für dekadent und schwach. Seine Verachtung kommt nicht von ungefähr, er befindet sich historisch gesehen in bester Gesellschaft – seit dem 19. Jahrhundert feinden bestimmte russische Intellektuelle den Westen an.

Auslösendes Ereignis war damals der Krimkrieg von 1853 bis 1856, in dem insbesondere die westlichen Großmächte Frankreich und Großbritannien dem Zarenreich eine verheerende Niederlage zufügten.

Russland verlor nicht nur den Krieg, es erlitt eine Erniedrigung. Jedenfalls in den Augen der Zeitgenossen. Denn das Zarenreich musste nicht nur seine Ansprüche auf Moldau und die Walachei aufgeben, sondern auch seine Schwarzmeerflotte auflösen. Damit war Russlands Demütigung perfekt. Denn bis dahin war in der Vergangenheit keine andere besiegte europäische Großmacht zur Abrüstung gezwungen worden – auch nicht Frankreich, das unter Napoleon Bonaparte Jahrzehnte zuvor einen Großteil Europas bekriegt hatte.

Die anderen Großmächte betrachteten Russland damals nicht als Teil Europas.

Das ist richtig. Russland wurde von den anderen europäischen Großmächten mit China gleichgesetzt. 1842 wurden China beim Ende des Ersten Opiumkriegs ebenfalls überaus demütigende Friedensbedingen diktiert. Wenn Putin nun in unserer Gegenwart "doppelte Maßstäbe" und "Heuchelei" in Bezug auf Russland beklagt, dann hat dies genau wie seine Vorwürfe von westlicher "Russophobie" und "Missachtung" seinen Ursprung im damaligen Krimkrieg.

Orlando Figes, Jahrgang 1959, lehrt Geschichte am Birkbeck College der University of London. Figes ist einer der besten Kenner der Geschichte Russlands und veröffentlichte zahlreiche Bücher, die zu Bestsellern avancierten. Seine Darstellung "Die Tragödie eines Volkes" über die Russische Revolution ist ein Standardwerk. Gerade erschien "Eine Geschichte Russlands".

Russlands politischer und wirtschaftlicher Niedergang nach dem Ende der Sowjetunion 1991 kam hinzu.

Putins Denken ist bis heute vom Kalten Krieg geprägt, als der Westen der Feind war. Dieses Schema bedient die russische Propaganda perfekt, denn viele ältere Menschen in Russland teilen diese Mentalität. Dazu tritt die Erfahrung der Neunzigerjahre: Die Menschen haben damals einen Großteil ihrer wirtschaftlichen Sicherheit eingebüßt, der Status ihres Landes als Supermacht war ebenfalls dahin. Die antiwestliche Rhetorik des Kremls findet aus diesen Gründen fruchtbaren Boden.

Nun gilt der Westen in Putins Augen als schwach, zugleich war er aber unbestreitbar Sieger im Kalten Krieg. Wie passt das zusammen?

Putin hält den Westen für dekadent, was in seinen Augen Schwäche darstellt. Darum verabscheut er uns auch so sehr. Eine Zeit lang hat der Westen Putin auch Anlass dazu gegeben, ihn für schwach zu halten. Wenn die westliche Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014 nicht so harmlos gewesen wäre, wäre die Situation heute möglicherweise eine andere.

Also respektiert Putin nur das, was er als "Stärke" empfindet.

Leider, ja. Nun hat der Westen Russland nach 1991 deutlich spüren lassen, dass er sich als Sieger empfand. Was wiederum für weitere Ressentiments bei der russischen Bevölkerung sorgte. Die Nato nahm dann in der Folge Staaten als neue Mitglieder auf, ohne die Bedenken Russlands zu berücksichtigen – und verpasste die Gelegenheit, Moskau fest in die neuen europäischen Sicherheitsstrukturen einzubinden. Auf dieser Basis konnte Putin seine antiwestliche Ideologie errichten – Russlands Groll auf uns ist immerhin jahrhundertealt. Der berühmte amerikanische Diplomat Georg F. Kennan warnte 1998 noch ausdrücklich vor der Erweiterung der Nato mit Staaten, die einst dem Warschauer Pakt angehört hatten: "Selbstverständlich wird es eine üble Reaktion seitens Russlands geben." Niemand hat auf ihn gehört.

Moment! Anfang des Jahrtausends kamen noch ganz andere Töne aus Putins Mund. Von Frieden und Zusammenarbeit mit dem Westen war damals die Rede.

Anfang 2000 zeigte Putin tatsächlich Ambitionen, die russische Wirtschaft stärker mit der westlichen zu verzahnen. Informell soll sich Moskau sogar erkundigt haben, ob eine russische Mitgliedschaft in der Nato zukünftig realistisch wäre. Verschiedene Ereignisse führten dann zu einer Abkehr von dieser Strategie, eines war die Intervention der Nato im Kosovokrieg aufseiten der Kosovo-Albaner 1999 gegen Serbien.

Serbien war zu diesem Zeitpunkt nicht nur enger Verbündeter Moskaus in der Region, Russland sieht sich auch als dessen Schutzmacht.

Richtig. Russland betrachtet sich seit langer Zeit als panslawische Hegemonialmacht, das Ziel besteht in der Herstellung einer politischen und kulturellen Einheit aller slawischen Völker. Soweit die Theorie. In der Praxis hatte sich Zar Nikolaus I. schon 1853 während des Krimkriegs eine panslawistische Erhebung auf dem Balkan erhofft, wurde allerdings enttäuscht. Ein Gefühl der Enttäuschung machte sich dann auch in den späten Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Russland wegen seiner Behandlung durch den Westen breit.

Was will Russland denn genau?

Respekt.

Der Westen hat eine Menge Respekt vor Russland. Einmal wegen unserer Abhängigkeit von russischen Rohstoffen, dann auch wegen Putins Atomwaffen.

Es ist eine andere Form von Respekt – eine, die viel mit Emotionen zu hat. Die demütigende Erfahrung, die Russland nach Ende des Krimkriegs erlebt hat, ist ein Beispiel.

Sie zitieren in Ihrem neuen Buch "Eine Geschichte Russlands" Peter den Großen, den Putin zu einem seiner historischen Vorbilder erkoren hat. "Vorher kannte uns kein Mensch auf der Welt, aber jetzt müssen sie uns respektieren", schrieb der Zar, nachdem er im Großen Nordischen Krieg 1721 über die vorherige Großmacht Schweden gesiegt hatte.

Das ist ein gutes Beispiel. Russland will nach seiner Lesart als Teil Europas anerkannt und respektiert werden. Auf tatsächliche oder auch eingebildete Demütigungen und Erniedrigungen reagiert das Land dann entsprechend empfindlich. Deshalb betone ich, dass wir nicht nur die Geschichte Russlands kennen müssen. Sondern auch die russische Geschichtsschreibung. Sie ist von hartnäckigen und langlebigen Mythen durchzogen, derer sich der Staat immer dann bedient, wenn es ihm nützlich erscheint." Europa ist uns nicht nur fremd, sondern sogar feindlich", schrieb der Schriftsteller Nikolai Danilewski 1869. Viel weiter ist Putin heute mit seiner Pseudogeschichte auch nicht.

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Putin bediente sich bei der propagandistischen Vorbereitung seiner Attacke auf die Ukraine nun des Mythos von der einen "russischen Welt", demzufolge die Ukraine eben ein Teil dieser wäre. Und er sie gewissermaßen "heim ins Reich" führen würde.

So ist es. Was die Menschen der Ukraine davon halten, beweisen sie gerade mit ihrem bemerkenswerten Widerstand gegen die russischen Invasoren. Putin nutzt Mythen zur scheinbaren Legitimation seiner Kriege, ebenso zum Umbau Russlands in eine Diktatur. Mein Buch ist deshalb einerseits der Versuch, Putins Ideologie zu entlarven. Andererseits will ich erklären, warum Russland so ist, wie es ist. Denn wir müssen Russland besser verstehen, um alte Fehler nicht zu wiederholen. Dabei ist der Blick in die Geschichte hilfreich: Was Putin über die Ukraine sagt, findet sich so auch bereits bei den imperialistischen russischen Geschichtsschreibern aus dem 19. Jahrhundert.

Putin kontrolliert Russland nun seit Jahrzehnten. Waren seine anfänglichen Avancen gegenüber dem Westen nur Camouflage, um seine Aggression vorzubereiten? Oder hat er tatsächlich zunächst eine Kooperation angestrebt?

Putin hatte sicher keinen Masterplan in der Tasche, es waren viele Schritte notwendig, um an den kritischen Punkt zu gelangen, an dem wir uns jetzt befinden. Die russische Wirtschaft musste zunächst stabilisiert, die Streitkräfte aufgebaut werden. Genau werden wir es vielleicht nie erfahren, was der Kreml im Schilde führte. Zunächst einmal hat Putin aber gewaltig Mist gebaut. Wie der Beginn der Invasion der Ukraine gezeigt hat.

Immer wieder wird Russlands Armee überschätzt. Im Ersten Weltkrieg erhofften sich die westlichen Verbündeten vergeblich eine "russische Dampfwalze", die bis nach Berlin rollen würde, wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben. Ähnliches erwarteten westliche Regierungszentralen dann nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Die russische Armee war 1914 nicht bereit für einen Konflikt vom Ausmaß des Ersten Weltkriegs, 2022 war sie dann nicht bereit für einen Blitzkrieg gegen die Ukraine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei der russischen Generalität große Begeisterung angesichts der Pläne gegen das Nachbarland geherrscht hat. Putin ließ seine Soldaten ins Verderben marschieren.

Stellt sich die Frage, warum Russlands Machthaber überhaupt alles auf eine Karte gesetzt hat.

Vielleicht ist der Krieg eine indirekte Folge der Corona-Pandemie. Putin wurde damals streng abgeschottet, die Isolation hat ihm sicher nicht gutgetan.

Nun haben die Ukrainer den russischen Vorstoß nicht nur stoppen können, sondern auch Territorium zurückerobert. Wie wird der Konflikt nun über die Wintermonate weitergehen?

Die russische Armee greift verstärkt die ukrainische Infrastruktur an. Was ist das Ziel? Millionen ukrainische Zivilisten sollen zur Flucht gezwungen werden. Damit will Putin uns jetzt massiv schaden. Denn er hofft auf Spannungen in den westlichen Staaten.

Halten Sie einen Kompromissfrieden in der näheren Zukunft für möglich?

Das wird ein sehr langer Krieg werden, befürchte ich. Der Zeitpunkt für eine Verhandlungslösung ist lange verstrichen. In Teilen der russischen Eliten scheint das Gefühl vorzuherrschen, dass dieser Krieg gewonnen werden muss. Putins Handlanger fürchten nun das Gefängnis. Nein, ich glaube, dass Russland eine schwere militärische Niederlage in der Ukraine erleiden muss: Nur so kann der Putinismus besiegt werden.

Sind sämtliche oppositionellen Kräfte ausgeschaltet, die Putin gefährlich werden könnten?

Putins Regime ist stabil, aber zerbrechlich – das ist meine Beobachtung, seit er in den Kreml einzog. Stabil, weil Putin über enorme Mittel der Repression verfügt. Unzufriedenheit bei den Sicherheitskräften oder den Geheimdiensten zum Beispiel kann er mithilfe der enormen Währungsreserven Russlands unterbinden. Putins Macht ist aber zugleich zerbrechlich, weil er wie jedes autoritäre Regime Protest fürchtet. Revolutionen kommen oft schnell und unerwartet, das ist ihm überaus bewusst. Und die Spannungen in Russland werden zunehmen, genau wie es im Ersten Weltkrieg der Fall war.

In dessen Verlauf die Jahrhunderte währende Herrschaft der Zaren über Russland endete. Welchem Zaren ähnelt Putin in seinem Verhalten am meisten?

Erinnern Sie sich an den großen Raum im Kreml, an dem Putin seine Gäste an diesem absurd überdimensionierten Tisch empfängt? Darin befinden sich die Statuen von drei Zaren und einer Zarin: Peter der Große und Katharina die Große, Alexander I. und Nikolaus I. Das sind Putins Vorbilder.

Peter und Katharina erwarben sich seine Bewunderung durch ihre Eroberungen, Alexander I. verteidigte Russland gegen Napoleon Bonaparte und dessen Grande Armée. Nikolaus I. begann den bereits erwähnten Krimkrieg, den Russland allerdings bald nach seinem Tod 1855 verlor.

Und trotzdem – oder auch deswegen – ähnelt Putin am meisten Nikolaus I., der ab 1825 herrschte. Damals war Europa in Bewegung, es herrschte eine revolutionäre Unruhe, die Nikolaus gewaltige Furcht einflößte. Was tat er? Zur ideologischen Abwehr gegen liberale Ideen ersann der Zar eine Art Dreiklang aus Autokratie, Orthodoxie und Nationalismus, Putin heute macht es nicht viel anders.

Auch in der Praxis setzte Nikolaus I. wie Putin auf Repression.

Nikolaus I. baute einen Polizeistaat auf, verschärfte die Zensur und schickte Missliebige in Arbeitslager – Putin ist heute sein eifriger Nachahmer. Wie sein Vorbild glaubt Putin auch an ein "Heiliges Russland", das eine Art universelle, spirituelle Zivilisation sei. Dieser Anspruch ließ Nikolaus auch gegen einen nicht unerheblichen Teil Europas Krieg führen.

Was zum bekannten Ergebnis führte.

Seinem Ansehen hat es nicht geschadet, russische Nationalisten preisen Nikolaus I. als Helden – weil er gegen den Westen in den Kampf für die spirituellen Werte Russlands gezogen sei. Und ich denke, dass sich Putin genau wie Nikolaus I. auf einer solchen Mission wähnt.

Damals wurde kolportiert, Nikolaus I. habe angesichts des militärischen Desasters seiner Armee im Krimkrieg Suizid begangen.

Wer weiß, welches Schicksal einmal Putin ereilen wird. Historisch gesehen wurden Reformen in Russland oft erst nach militärischen Niederlagen möglich. Zar Alexander II., der Nachfolger von Nikolaus I., befreite nach Russlands Katastrophe im Krimkrieg die Bauern, die ihr Leben bis dahin als Leibeigene gefristet hatten. Hoffen wir, dass sich nach dem Ende des Krieges gegen die Ukraine auch in Russland die Dinge zum Besseren wenden werden.

Professor Figes, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Orlando Figes via Videokonferenz
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