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Putin stürzt Ukraine ins Chaos: Wie viel Ruhe kann sich Steinmeier noch leisten?


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Frank-Walter Steinmeier
Auf dem Hochseil


Aktualisiert am 15.11.2022Lesedauer: 6 Min.
Frank-Walter Steinmeier: Auch im Senegal lässt den Bundespräsidenten die eskalierende Lage in Europa nicht los.Vergrößern des Bildes
Frank-Walter Steinmeier: Auch im Senegal lässt den Bundespräsidenten die eskalierende Lage in Europa nicht los. (Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa)
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Eigentlich sollte es um den Senegal gehen und die Beziehungen zu Deutschland. Doch dann stürzt Putin die Ukraine ins Chaos. Und Steinmeier steht vor der Frage: Wie viel Ruhe will sich der Bundespräsident noch leisten?

Nach der Landung fährt der Regierungsflieger in Zeitlupe über das Rollfeld. Der Airbus kurvt herum, stoppt kurz, dann wieder weiter. Es ist Sonntagabend in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. An Bord des Flugzeugs ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für einen offiziellen Besuch. Doch es dauert, bis er aussteigen kann.

Als dann irgendwann die große Flugzeugtür zur Seite schwingt und Steinmeier ins warme Licht tritt, wird klar, warum das alles so lange ging: Sein Empfang wurde spontan umgeplant. Am Ende der Gangway taucht plötzlich der senegalesische Staatspräsident auf, Macky Sall. Er ist erst kurz zuvor eingetroffen, alles wurde noch rechtzeitig organisiert. Die Blaskapelle spielt die Nationalhymnen, Sall und Steinmeier schreiten die Ehrenformation ab.

Dass der senegalesische Staatschef spontan, entgegen des protokollarischen Plans, für Steinmeier zum Flughafen fährt, ist ein Zeichen der Wertschätzung: Man freut sich hier über den Bundespräsidenten.

Seit 60 Jahren war kein deutsches Staatsoberhaupt im Senegal. Im Vordergrund des Besuchs soll die Impfstoffproduktion in Afrika stehen, die Sicherheitslage vor Ort, die bessere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland. Das war der Plan, zumindest bis Sonntagabend. Dann durchkreuzte ihn Wladimir Putin.

Im Laufe von Steinmeiers Besuch in Afrika eskalierte die Situation um die Ukraine dermaßen, dass er sich wiederholt dazu äußern musste. Eigentlich versucht man das bei Auslandsbesuchen zu vermeiden. Doch am Ende verkürzte der Bundespräsident sogar die Reise und flog vorzeitig zurück. Zu brenzlig ist die Lage in Europa geworden.

Als Bundespräsident hat Steinmeier keinen direkten Einfluss auf die Regierung. Das operative Geschäft, auch in der Russland-Krise, verantworten andere. Allen voran Kanzler Olaf Scholz. Deshalb wurde Steinmeiers Reise im Senegal zu einem Polit-Seismografen, an dem sich mehrere Dinge ablesen lassen: Wie viel politische Normalität ist angesichts des drohenden Krieges möglich? Welchen Impuls setzt das deutsche Staatsoberhaupt? Wie viel Ruhe lässt sich bewahren?

"Fortgesetzt beunruhigt"

Montagmorgen, Empfang Steinmeiers bei Macky Sall im Präsidentenpalast. Palmen im Wind, Soldaten mit Säbeln, wieder das Blasorchester, wieder die Nationalhymnen. Steinmeier spricht anschließend eine Weile allein mit Sall, bei der Pressekonferenz setzt er den Fokus ganz auf seine Reise: Wie gut sich die Demokratie im Senegal entwickelt habe, wie eng die wirtschaftliche Zusammenarbeit sei, wie man die Sahelzone gegen Terrorismus verteidigen könne.

Erst als er von den Journalisten nach der Ukraine gefragt wird, äußert sich Steinmeier zu dem Konflikt. Die Lage an der dortigen Grenze sei "unverändert brisant", er sei "fortgesetzt beunruhigt" über Verletzte und Tote im Donbass. Dass trotzdem zu diesem Zeitpunkt noch die Bereitschaft zu einem Gespräch zwischen Biden und Putin bestehe, sei aber gut. Es gebe "Möglichkeiten, noch das Schlimmste zu verhindern".

Das ist der Tonfall für den Vormittag, auch in Deutschland herrscht zu diesem Zeitpunkt noch vorsichtiges Abwarten. Vielleicht geht ja noch alles gut. Noch kann niemand in Berlin oder Dakar ahnen, was in wenigen Stunden folgt. Noch nicht.

Ein Mittelweg

Es ist nicht ganz einfach für den Bundespräsidenten: Einerseits will er bei diesem Auslandsbesuch seine volle Aufmerksamkeit den einzelnen Stationen im Senegal widmen. Andererseits kann er kaum so tun, als wäre in Europa die Lage völlig unter Kontrolle. Er entscheidet sich also für einen Mittelweg.

Am Montag läuft das offizielle Programm weiter: Steinmeier legt unter anderem den Grundstein für den Neubau des hiesigen Goethe-Instituts. Unruhe kommt erst am Abend auf, als die Meldungen über die Nachrichtenticker rasen: Putin erkennt die besetzten Separatistengebiete in der Ostukraine an, er kehrt dem Minsker-Abkommen den Rücken. Es ist eine politische Bombe. Was nun? Wie viel Sorge ist angebracht? Zunächst sagt Steinmeier nichts weiteres zur Krise.

Vor sieben Jahren war er als SPD-Außenminister im Kabinett von Angela Merkel. Dabei tüftelte er unter anderem die sogenannte Steinmeier-Formel aus, die zur Stabilität des Minsker-Abkommens beitrug.

Als Bundespräsident ist Steinmeier nun in einer völlig anderen Rolle. Jetzt kann er keine Formeln mehr entwickeln, jetzt muss er als Staatsoberhaupt das ganze Land repräsentieren. Die Worte von Staatsoberhäuptern haben Gewicht. Sie können Nationen einen oder spalten. Sie setzen, auch in Deutschland, oft den Tonfall für die öffentliche Debatte. Und zunächst soll der Tonfall zurückhaltend bleiben.

Erst Schule, dann Statement

Am nächsten Tag fährt Steinmeier auf die Insel Gorée vor der senegalesischen Küste. Das Eiland gilt als Symbol für die Verschleppung und Verschiffung von Sklaven. Große Begrüßung der Zivilbevölkerung am Hafen mit Musik und einem Rundgang. Steinmeier besichtigt einige Häuser, wo Sklaven früher gefangen gehalten wurden. Im ruhigen Schritt durch die engen Gassen der Insel.

Um kurz nach 11 Uhr Ortszeit rauscht die nächste Eilmeldung herein: Die Bundesregierung will Nord Stream 2 zumindest vorläufig stoppen. Die gesamte Russland-Strategie der EU steht nun auf dem Spiel, viele vermuten: Es droht ein Krieg in Europa. Vom Bundespräsidenten kommt prompt das Signal: Heute wird er sich äußern, nun sind die Entwicklungen zu dramatisch.

Doch zunächst geht es noch zu einer Mädchenschule. Ganz wie es das Protokoll vorsieht. Steinmeier nimmt an einer Deutschstunde teil, die jungen Schülerinnen haben sich akribisch vorbereitet auf diesen Tag. Sie stellen Steinmeier Fragen, diskutieren über das Frühstück in Deutschland und im Senegal.

Es ist ein bewusstes Zeichen von Steinmeier: Treiben lassen will er sich nicht. Erst Schule, dann Statement. Es sind nur wenige Journalisten zugelassen, doch die Welt soll von Steinmeiers Interesse an der Schule wissen. Es ist seine Art zu sagen, dass die Welt – trotz aller Ernsthaftigkeit der Lage in der Ukraine – noch mehr Probleme hat. Die ebenfalls gelöst werden müssen.

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Grausame Vergangenheit, gefährliche Gegenwart

Trotzdem folgt dann das Statement. Steinmeier steht am Ende eines staubigen Weges auf der Insel und sagt zu Beginn: "Mich berührt heute eine grausame Vergangenheit und eine gefährliche Gegenwart." Es ist klar, was gemeint ist.

Er sei "hochbeunruhigt" von den Nachrichten, die ihn aus Europa erreichten. Die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken sei "nichts anderes als der Bruch des Völkerrechts". Und: "Das ist nicht der Weg in den Dialog, das ist die Suche nach Konfrontation." Es sei zu befürchten, dass das Ende der Eskalation noch nicht erreicht sei. Es sind Worte, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen.

Mit der Ruhe ist es nun weitgehend vorbei, Steinmeier entschließt sich für eine klare und deutliche Antwort auf Putin. Zudem wird am Dienstag beschlossen, dass die Reise verkürzt wird. Anstatt Mittwochmittag zurückzufliegen, steigt er bereits am Dienstagabend in den Regierungsflieger. Auch das ist natürlich ein Signal von Steinmeier: Ich kümmere mich, habe auch in der Ferne nicht vergessen, was passiert.

Ein Baustein einer neuen Zukunft

Doch zunächst fährt er noch zu einem Areal, wo künftig die Firma Biontech Impfstoffe herstellen soll. Die Impfquote in Afrika ist gering, künftig soll auch der Kampf gegen Malaria von den neuen Fabriken geführt werden. Von "großer Hoffnung und großem Ehrgeiz" spricht Steinmeier, die Produktion könne "ein Baustein sein für eine neue Zukunft zwischen den beiden Staaten".

Anschließend braust die Kolonne davon. Nur Steinmeier legt auf dem Weg zum Flughafen noch einen Zwischenstopp ein: Spontan trifft er Recep Tayyip Erdoğan, den türkischen Staatschef. Der ist eigentlich zur Eröffnung eines neuen Fußballstadions gekommen.

Es wirkt ein wenig wie die unfreiwillige Steigerung: Im Laufe der Reise hat sich Steinmeier immer nur vorsichtig geäußert und dabei immer klarere Worte gefunden. Jetzt, kurz vor Abflug, trifft er sogar den türkischen Staatspräsidenten. Plötzlich muss alles sehr schnell gehen, plötzlich ist sogar das möglich im Angesicht der drohenden Eskalation.

Erdoğan gilt eigentlich als Putin-Freund, über sein Außenministerium ließ er aber bereits ausrichten, er halte das Gebaren des Kreml-Autokraten aktuell für "inakzeptabel". Nur welche Ergebnisse erzielt wurden, blieb an diesem Tag erstmal offen. Nur eines ist klar: Ganz zurückhalten aus der alltäglichen Politik kann sich sogar der Bundespräsident angesichts der Lage nicht mehr.

Verwendete Quellen
  • Reise mit dem Bundespräsidenten in den Senegal
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