Verhaftet in der Türkei Zwei richteten ihre Maschinengewehre auf mich
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Meinen Mann hatten sie schon verhaftet. Dann kam die Polizei nachts in meine Wohnung in Istanbul – um auch mich und meinen kleinen Sohn zu holen.
Seit sie meinen Mann vor drei Wochen verhaftet hatten, schlief ich schlecht. Auch in dieser Nacht stand ich gegen drei Uhr auf und lief ruhelos durch unsere Istanbuler Wohnung. Irgendwann legte ich mich dann doch wieder neben unseren kleinen Sohn Serkan, und mir fielen zum Glück die Augen zu.
Auf t-online.de berichtet Meşale Tolu exklusiv im Podcast über ihre Erlebnisse rund um ihre Festnahme in der Türkei.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, höchstens ein oder zwei Stunden. Plötzlich schreckte ich hoch. Vom Hausflur drangen Lärm und laute Stimmen zu mir, Tritte und dumpfe Schläge. Ein Krachen, wieder ein Krachen. Als wollte jemand unsere Türe aufbrechen. Jetzt hörte ich Männerstimmen brüllen: "Polizei! Mach die Türe auf! Mach auf!"
Meşale Tolucoremedia:///cap/blob/content/85471718#data, geboren 1984, ist Journalistin. Infolge des gescheiterten Putsches in der Türkei wurden sie und ihr kleiner Sohn 2017 als politische Gefangene für fast acht Monate inhaftiert. Auch ihr Mann wurde verhaftet. Weitere Monate durften sie das Land nicht verlassen. Noch immer kämpft sie für ihren Freispruch – und schreibt über die Politik in der Türkei.
Ich sprang aus dem Bett, lief in den Flur und rief: "Ich mach ja auf, schreien Sie nicht so, es ist ein kleines Kind in der Wohnung!"
Dann schob ich den Riegel zurück. Im selben Moment krachte die Tür auf, ich sprang unwillkürlich zur Seite, um nicht verletzt zu werden. Dunkel gekleidete Männer mit schwarzen Masken vor dem Gesicht schoben sich in den Flur, zwei richteten ihre Maschinengewehre auf mich. Die Ziellampen an ihren Gewehren blendeten in der Dunkelheit meine Augen. Ich erkannte nur die Waffen. Sie drückten mich zu Boden und einer setzte mir sein Knie in den Rücken, um mich zu fixieren.
"Nein!", schrie ich, als die Männer in die Zimmer unserer Wohnung stürmten, "nicht dorthinein, da schläft mein Sohn! Bitte lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!"
Aber schon drängten mehrere Männer mit hochgerissenen Maschinengewehren in unser Schlafzimmer.
"Mama, Mama, Mama!", hörte ich Serkans Hilferufe. Sein Schreien, sein Weinen war so voller Angst und Panik, wie ich es noch nie gehört hatte. Kein Wunder! Er war nicht nur brutal aus dem Schlaf gerissen worden, er war völlig allein, ich war nicht an seiner Seite und um ihn standen furchteinflößende maskierte Männer mit Gewehren.
"Lassen Sie mich zu meinem Sohn! Sie hören doch, welche Angst er hat! Ich bin alleine mit ihm, es ist sonst niemand da!", rief ich.
"Wo ist denn dein Ehemann?", erhielt ich höhnisch zur Antwort. Wütend schrie ich: "Ihr habt ihn doch festgenommen. Was wollt ihr denn noch?" Statt einer Antwort schlug ein Maskierter meinen Kopf auf den Boden. Dann knurrte er: "Schrei uns nicht an. Hast du verstanden? Schrei uns niemals an!"
Sein Kumpan drückte sein Knie noch fester in meinen Rücken.
In diesem Moment rannte Serkan aus dem Zimmer auf den Flur. Schluchzend stürzte er direkt auf mich zu. Was hat er gedacht, als er mich so am Boden liegen sah und diesen maskierten Mann mit seinem Knie auf meinem Rücken? Serkan zitterte am ganzen Leib, er versuchte zu sprechen, aber brachte keinen Ton heraus. Er schluchzte und weinte nur, als er sich zu mir hinunterbeugte.
(…)
Die Sondereinheit der Antiterrorabteilung, die ich an der Schrift auf ihren Westen als "TEM", Kampf gegen den Terror, identifizierte, begann nun mit einer systematischen Durchsuchung unserer Wohnung. Ich hielt Serkan auf dem Arm, wir klammerten uns fest aneinander und schauten fassungslos zu. Einer der Männer kam mit meiner Handtasche aus dem Schlafzimmer und fragte, ob die mir gehöre. Als ich bejahte, öffnete er den Reißverschluss und schüttete den Inhalt auf den Tisch.
"Wo ist dein Ausweis?", herrschte er mich an. "Ach, hier. Meşale Tolu Çorlu. Was ist das für ein komischer Ausweis? Ist das ein Führerschein?"
"Nein, das ist mein deutscher Ausweis", erklärte ich.
"Wo ist dein türkischer Ausweis und dein Pass?", blaffte er, "du bist doch Türkin, du sprichst türkisch."
"Ich habe keinen türkischen Ausweis. Ich bin deutsche Staatsbürgerin, auch wenn ich türkisch sprechen kann."
Nachdem sie mich identifiziert hatten, eröffnete mir einer der Maskierten, vermutlich der Einsatzleiter, die Staatsanwaltschaft Istanbul habe einen Haftbefehl gegen mich erlassen. Mir werde vorgeworfen, Propaganda für eine terroristische Organisation gemacht zu haben. Mehr wurde mir in diesem Moment nicht mitgeteilt. Auf meine Nachfrage herrschten sie mich an, dass ich weder Anwälte noch Familie benachrichtigen dürfe. Selbst die nächsten Verwandten nicht, damit sie auf meinen Sohn aufpassten. Ich war diesen maskierten Männern anscheinend ohne jede Rechte schutzlos ausgeliefert. Ich kannte Bilder von Razzien, wenn wir in der Nachrichtenagentur darüber berichteten: Durchwühlte Schränke, umgeworfene Bücherregale, zerschlagene Türen, zerrissene Fotos und verstreute Papiere auf dem Fußboden. Meine Tür war bereits eingeschlagen, der Inhalt meiner Tasche ausgeleert worden.
(…)
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Und wie schutzlos wir den Blicken der Männer ausgeliefert waren! Wie ich mich bedroht fühlte! Nicht nur wegen meiner leichten Bekleidung, denn ich saß immer noch im Schlafanzug hier, mehr noch wegen meines Sohnes, den ich auf dem Schoß hatte. So wie wir uns gegenseitig hielten, meinten wir zwar, wir wären nicht allein und könnten uns gegenseitig schützen. Aber das war ja eine Täuschung. Serkan konnte mit einem Hieb zerschmettert werden – und war er nicht schon durch den nächtlichen Überfall zutiefst getroffen? Und ich war, mit ihm in meinen Armen, noch zerbrechlicher und angreifbarer als ohnehin, weil ich ihn beschützen musste und nicht einmal nachdrücklich meine Rechte einfordern konnte. Die Männer hätten sich an ihm rächen oder mich vor seinen Augen noch heftiger drangsalieren können. Ich musste alles daransetzen, dass es nicht noch schlimmer ablief. Ich fühlte mich noch ohnmächtiger als vor drei Wochen. Da hatte ich, auch in den Morgenstunden, die Nachricht erhalten, dass mein Mann Suat festgenommen worden war.
- Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "'Mein Sohn bleibt bei mir!': Als politische Geisel in türkischer Haft – und warum es noch nicht zu Ende ist" von Meşale Tolu. Es erscheint am Dienstag, 23. April 2019, bei Rowohlt Polaris, ISBN: 978-3499001017