Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schlachtfeld Ostsee "Russlands Angriffe könnten etwas Gefährlicherem dienen"
Russland tritt in der Ostsee immer aggressiver auf und bedroht vor allem die baltischen Länder. Politikexperte Julius von Freytag-Loringhoven rät Deutschland und der Nato zu entschlossenem Widerstand.
Zerstörte Datenkabel, gesprengte Pipelines, eine Schattenflotte maroder Öltanker: Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist die Ostsee zum Schauplatz der Konfrontation zwischen Russland und der Nato geworden.
Erst am Freitag warnte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) eindringlich vor Russlands hybriden Attacken in der Ostsee. "Es passiert täglich", sagte Pistorius bei einem Besuch des Marinefliegerstützpunkts im niedersächsischen Nordholz. Er kritisierte, dass es "einige bei uns in Deutschland gibt, die das immer noch nicht wahrhaben wollen". Das beklagt auch der Russland-Experte Julius von Freytag-Loringhoven. Mit ihm sprach t-online darüber, wie Deutschland und die Nato der Bedrohung durch Russland besser begegnen kann.
Herr von Freytag-Loringhoven, was verspricht sich Russland von den Attacken auf Datenkabel und Pipelines in der Ostsee?
Julius von Freytag-Loringhoven: Der Kreml versucht systematisch, Verunsicherung in den Nato-Staaten zu verursachen. Davor warnen die baltischen Länder besonders Deutschland schon länger, sogar bereits vor der Großinvasion Russlands auf die Ukraine. In Deutschland hat man diese Attacken aber eher als unbedeutende Geschichten abgetan. Seit dem Überfall auf die Ukraine ist nicht mehr auszuschließen, dass Russlands hybride Angriffe etwas Gefährlicherem dienen könnten.
Zur Person
Julius von Freytag-Loringhoven, geboren 1981, leitet seit Oktober 2024 die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung in den baltischen Staaten am Standort Vilnius. Von 2012 bis 2020 leitete er das Moskauer Büro der FDP-nahen Stiftung. Von Freytag-Loringhoven studierte Politik, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in St. Petersburg, München und Brüssel.
Und zwar?
Der Vorbereitung einer tatsächlichen militärischen Intervention im Ostseeraum.
Jeder hybride Angriff könnte also der Auftakt zu einer größeren militärischen Aktion Russlands sein?
Ja, zumindest geht man in den baltischen Staaten davon aus, dass Russlands Angriff auf die Ukraine nur der Anfang ist. Sie fürchten, dass das eigene Territorium getroffen werden könnte, sobald Russland seine Position in der Ukraine gefestigt hat und sich seinen nächsten strategischen Zielen widmen kann. Das erklärte Ziel Putins ist es schließlich, den Untergang des sowjetischen Imperiums ungeschehen zu machen.
Und Deutschland?
Deutschland hat einen russischen Angriff im Baltikum für eher unwahrscheinlich gehalten. Wir sind stets davon ausgegangen, dass die Nato-Mitgliedschaft der baltischen Länder Russland abschreckt. Aber die Frage ist, wie abschreckend ein Angriff auf das Militärbündnis für Russland noch ist. Immerhin geht Russland viel größere Konfrontationen ein, als wir immer gedacht haben.
Teilen Sie denn die Furcht der Balten?
Als ich 2008 Freunde auf der Krim besuchte und die mir erzählten, dass Russland dort einmarschieren will, habe ich das nicht geglaubt. Ähnlich habe ich 2022 falsch gelegen mit der Einschätzung, dass Putin keine Großinvasion in die Ukraine wagen würde. Deswegen bin ich sehr viel vorsichtiger geworden. Das Bedrohungsszenario der Balten sollten wir nicht abtun.
Aber sehen Sie konkrete Hinweise für die Vorbereitung einer russischen Intervention im Baltikum?
Nun ja. Ähnlich wie vor der Krim-Annexion und der Invasion im Osten der Ukraine 2014 versucht Russland, die russischsprachige Bevölkerung in den baltischen Staaten zu russischen Staatsbürgern zu machen.
Wie geht der Kreml da konkret vor?
Sie erhalten russische Pässe und bekommen von der Propaganda eingeschärft, dass sie nur unter dem Schutz des Vaterlands Russlands frei und ohne Diskriminierung leben können. Gleichzeitig erleben wir regelmäßige Störmanöver in der Ostsee durch russische Schiffe und Flugzeuge. Damit stellt sich für uns sehr viel ernster die Frage, wie bereit wir sind, für die Verteidigung des Baltikums einzustehen. Die gleichen Berechnungen stellt Russland an.
Braucht die Nato eine eigene Schattenflotte, um angemessen auf Russlands hybride Angriffe zu reagieren?
Die Nato wird sicher keine Schattenflotte aufstellen. Sie muss aber in der Lage sein, auf ähnliche Weise russische Infrastruktur zu zerstören. Im Moment ist die Nato nur in der Lage, Schiffe der russischen Schattenflotte festzusetzen, wenn sie schon etwas getan haben. Wir müssen in der Lage sein, Russland von solchen Manövern abzuschrecken.
Welches Kalkül könnte der Kreml bei einem Angriff auf die Nato-Länder im Baltikum verfolgen?
Russland fragt sich: Heißt der Bündnisfall der Nato wirklich, dass wir auf einen Angriff militärisch reagieren würden? Oder ist dazu im Westen schon niemand mehr bereit? Wenn ich ein Szenario aufstellen darf –
Gerne.
Angenommen, russische Truppen erobern in einem schnellen Manöver Narva (Estlands drittgrößte Stadt und Zentrum der russischsprachigen Bevölkerung, Anm. d. Red.). Startet Deutschland dann wirklich eine Generalmobilisierung gegen Russland? Diese Frage müssen wir uns ernsthaft stellen, wenn wir die russische Entscheidungsfindung verstehen wollen.
Wäre Deutschland einer solchen Eskalation gewachsen?
Wir haben zu lange davon gesprochen, und Kanzler Olaf Scholz ist das beste Beispiel dafür, dass wir deeskalieren wollen, um Russland nicht zu weiteren Angriffen zu provozieren.
Aber?
Wenn man einem Widersacher, der zu gewissen Eskalationen bereit ist, sagt, dass man auf keinen Fall eskalieren will, hat man dem Widersacher gegenüber auch keinerlei Abschreckung. Und dann wird der Andere immer so weit gehen, wie er eben kann.
In diesem Fall Wladimir Putin.
Genau. Und innerhalb dieser Überlegungen ist ein begrenzter Angriff auf einzelne Regionen und Städte in Litauen, Lettland und Estland ganz sicher Teil der militärischen Planungen der Russen.
Haben die Nato-Brigaden in Litauen, Lettland und Estland einen Abschreckungseffekt auf Putin?
Diese Brigaden haben ganz sicher einen politischen und bis zu einem gewissen Grad auch einen militärischen Abschreckungseffekt. Deshalb war es für Litauen auch so entscheidend, dass die deutsche Brigade tatsächlich in Litauen steht. Es gab am Anfang die Diskussion, ob die Bundeswehr eine Brigade bereithalten sollte, die aber erst im Ernstfall nach Litauen verlegt würde. Aber da hat Boris Pistorius Fakten geschaffen und gesagt, die Brigade muss auch dauerhaft in Litauen stationiert sein. Damit hat er ein wichtiges politisches Signal gesendet.
Warum tun sich die Nato-Anrainer der Ostsee angesichts dieser Bedrohungslage so schwer damit, stärker gegen Russlands hybride Attacken vorzugehen?
Das Problem ist, dass hybride Angriffe und Störmanöver durch die Schattenflotte immer verschleiert sind. Das bedeutet, dass wir und die Nato uns umstellen müssen, um die Akteure, die für Russland arbeiten, zu identifizieren.
Erklären Sie das bitte.
Wenn wir im Kalten Krieg vor allem russische Kriegsschiffe im Blick behalten mussten, muss die Nato jetzt neue Wege finden, auch die zivile Schifffahrt überwachen und kontrollieren zu können. Hybride Attacken zeichnet gerade aus, dass das Zivile und das Militärische irgendwie vermischt sind. Das ist die Nato nicht gewohnt.
Welche Folgen hat das?
Es mangelt an Abstimmung. Die Koordinationsstellen und Kommunikationswege zwischen den Natoländern und der Nato als Institution sind nicht gut genug aufgestellt. Wir haben zu viele unterschiedliche Verwaltungen und rechtliche Zuständigkeiten, die besser koordiniert werden müssen. Aber es dauert eben Zeit, bis die Kommunikationswege wieder aufgebaut sind, die nach dem Kalten Krieg angeschafft wurden.
Können Deutschland und die Nato sich mehr von den baltischen Ländern abschauen?
Sicherlich. Deutschland ist hier ein besonders schlechtes Beispiel, wegen des Föderalismus. Wir haben mehr als 20 Bundes- und Landesbehörden – von der Bundesanstalt für Gewässerkunde bis zur Wasserschutzpolizei Schleswig-Holstein –, die alle zuständig sind für maritime Aufgaben und koordiniert werden müssen. In den jungen baltischen Staaten ist das viel schlanker organisiert.
Warum geht Deutschland diese Probleme nicht entschlossener an?
Die Erkenntnis, dass es diese Koordinierungsprobleme gibt, ist da. Das hören wir sowohl aus der Bundeswehr und der Nato als auch in zivilen Strukturen. Das Problem ist der fehlende politische Wille, massive Veränderungen durchzusetzen, wie die Zuständigkeiten zwischen Bund- und Länderbehörden neu zu organisieren oder schnell dem Bedrohungsszenario entsprechend aufzurüsten. Wer sich in Deutschland mit maritimer Sicherheit beschäftigt, hat das längst verstanden.
Was muss die nächste Bundesregierung zuerst angehen?
Die Institutionen brauchen eine konkrete Reformagenda von der Bundesebene, damit diese Erkenntnisse auch schnell umgesetzt werden. Um militärische Fähigkeiten entsprechend der realen Bedrohung erweitern zu können, braucht es dauerhafte finanzielle Umschichtungen im Bundeshaushalt und eine radikale Verkürzung von Planzeiten.
Herr von Freytag-Loringhoven, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonat mit Julius von Freytag-Loringhoven am 8. Januar