t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikAuslandInternationale Politik

Syrien | Eskalation im Bürgerkrieg: Droht Deutschland eine weitere Fluchtwelle?


Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Kämpfe in Syrien
Türkei als Schlüssel: Wird Europa destabilisiert?


Aktualisiert am 04.12.2024 - 07:28 UhrLesedauer: 4 Min.
Player wird geladen
Animierte Karten zeigen, wo die Rebellen in Syrien vorstoßen. (Quelle: t-online)

Die Kämpfe in Syrien haben schon jetzt Zehntausende Menschen gezwungen, in andere Teile des Landes zu fliehen. Ein Experte schätzt ein, ob nach der erneuten Eskalation im Bürgerkrieg erneut Fluchtbewegungen nach Europa drohen.

Am vergangenen Mittwoch hatten die Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und verbündete Rebellengruppen im Norden Syriens eine überraschende Großoffensive gegen die Truppen des syrischen Assad-Regimes gestartet. Dabei gelang es ihnen, neben zahlreichen Ortschaften auch die Millionenstadt Aleppo nahezu vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Kämpfer der Opposition bewegen sich mittlerweile auf die wichtige Stadt Hama zu.

Die Kämpfe haben UN-Angaben zufolge in den vergangenen Tagen fast 50.000 Menschen in die Flucht getrieben, unter den Vertriebenen sind auch Tausende syrische Kurden. Bilder aus Syrien zeigten lange Schlangen von mit Matratzen und Decken beladenen Fahrzeugen, die sich auf einer Autobahn in Richtung Osten bewegten.

Könnte der wiederaufflammende Konflikt nun erneut dazu führen, dass eine große Anzahl von Menschen Syrien verlassen muss? Dazu hat t-online mit dem Terrorismusexperten Hans-Jakob Schindler gesprochen.

t-online: Herr Schindler, spätestens seit dem Waffenstillstand, den Russland und die Türkei 2020 ausgehandelt haben, war es verhältnismäßig ruhig in Syrien. Warum flammt der Konflikt nun wieder auf?

Hans-Jakob Schindler: Für Gruppen wie Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ist die Situation derzeit ideal, um Offensiven zu starten. Die Verbündeten ihres Gegners, des Assad-Regimes, stehen unter immensem Druck: Die libanesische Miliz Hisbollah ist durch den Konflikt im Libanon und die gezielten Angriffe Israels stark geschwächt. Der Iran kämpft mit den Folgen von Israels Verteidigungsschlägen, massiven Sanktionen und innenpolitischen Unruhen. Und Russland ist durch den Krieg in der Ukraine so ausgelastet, dass es seine militärische Präsenz in Syrien erheblich reduzieren musste.

Hat das Assads Regime geschwächt?

Eigentlich noch nicht. Russland und der Iran stehen weiterhin hinter Assad. Russische Luftangriffe hatten zuletzt begonnen, zivile Ziele und die Stellungen der Gruppen der HTS-Koalition zu bombardieren, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Es hat Assad aber unter erheblichen Druck gesetzt, dass er Gebiete verloren hat, insbesondere in Aleppo.

(Quelle: Uli Sapountsis)

Zur Person

Hans-Jakob Schindler war bis 2018 Chefberater des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu unterschiedlichen Terrorgruppen und der Entwicklung der globalen terroristischen Bedrohung. Heute ist er Senior Director der gemeinnützigen internationalen Organisation Counter Extremism Project (CEP), die das Ziel verfolgt, der Bedrohung durch Extremismus entgegenzuwirken.

Wird Assad versuchen, die Gebiete zurückzuerobern?

Das ist momentan unwahrscheinlich, da sein Regime militärisch nicht stark genug ist. Sollten seine Unterstützer jedoch wieder an Stärke gewinnen, könnte er es versuchen. Wenn sich zum Beispiel die Hisbollah militärisch erholt oder Russland wieder mehr Kapazitäten hat – etwa durch eine Veränderung der Situation in der Ukraine –, könnte Assad versuchen, diese Gruppen wieder zurückzudrängen.

Werden solche Entwicklungen wieder zu einer langen Eskalation führen?

Ob die Kämpfe länger andauern, ist bislang ungewiss. Das hängt aber stark von der Dynamik der aktuellen HTS-Koalition ab. Die schnellen Gebietsgewinne haben sie zwar motiviert, doch ihr Erfolg steht auf wackligen Beinen. Entscheidend ist, ob sich ihnen weitere Gruppen anschließen. Doch genau daran gibt es Zweifel: Die führende Rebellengruppe HTS gilt als islamistische Hardliner-Terrororganisation, deren Machtübernahme viele Gruppen strikt ablehnen. Ohne solche Unterstützung und bei schweren Verlusten könnten die Rebellen gezwungen sein, die Offensive zu beenden.

Welche Auswirkungen hat all das auf die Zivilbevölkerung?

Die Kämpfe haben bereits erhebliche zivile Verluste gefordert. In den letzten Tagen wurden mehr als 500 Menschen getötet, darunter viele Zivilisten.

UN-Angaben zufolge mussten in den vergangenen Tagen fast 50.000 Menschen fliehen. Könnte sich das ausweiten?

Bisher handelt es sich vor allem um Geflüchtete, die innerhalb Syriens Schutz suchen. Ich sehe bislang keine Anzeichen dafür, dass sich das ausweitet. Falls die Kämpfe andauern oder sich intensivieren, könnte es aber wieder größere Fluchtbewegungen aus Syrien geben.

Würden diese Fluchtbewegungen dann auch Deutschland erreichen?

Das ist derzeit unwahrscheinlich. Europa und Deutschland sind viel besser vorbereitet als 2015. Die Ausgangslage ist also viel besser. Bevor Geflüchtete in Deutschland ankommen, gibt es viele Mechanismen, die greifen. Stufe eins ist das EU-Abkommen mit Syriens Nachbarland Türkei: Hier werden Geflüchtete nicht nach Europa durchgelassen. Kommen doch Geflüchtete in Europa an, gibt es seit Mai 2024 den EU-Flüchtlingspakt, der eine Verteilung der Geflüchteten auf die Länder der EU vorsieht.

Aber sind diese Mechanismen stabil?

Bisher scheinen sie das durchaus zu sein. Problematisch würde es erst, wenn die Kämpfe wirklich völlig eskalieren und die Türkei nach Millionen von Geflüchteten sagt: Unsere Aufnahmekapazitäten sind überschritten. Dann könnten sie doch mehr Menschen nach Europa durchlassen.

Es gibt auch Länder in der EU, wie Ungarn und Polen, die sich beim Thema Migration querstellen.

Ja, das war vor allem in der Vergangenheit ein Problem. Seit 2015 wurden aber Strukturen geschaffen, um auch mit ihnen Kompromisse zu erreichen, etwa durch finanzielle Anreize. Die EU muss alles tun, um sicherzustellen, dass solche Abmachungen auch wirklich eingehalten werden. Und Deutschland muss als einflussreiches Land mehr darauf pochen.

Es wird ja oft gefordert, gleich an den Fluchtursachen anzusetzen. Können Europa und Deutschland vor Ort in Syrien politisch Einfluss nehmen?

Leider kaum. Europa hat in Syrien kaum Handlungsspielraum. Auch die USA haben 2019 ihre Präsenz reduziert, nachdem das IS-Kalifat zerschlagen worden war. Trump hat sogar versucht, die Truppen gleich ganz abzuziehen. Diplomatische Initiativen wären möglich, aber Russland und der Iran erschweren das. Daher bleibt vor allem die enge Absprache mit der Türkei entscheidend.

Und es gibt noch eine Stellschraube: Man könnte den Terroristen das Geld abdrehen. Wie könnte das gelingen?

Islamistische Gruppen finanzieren sich in Europa etwa durch Drogenhandel, Geldwäsche und vermeintlich humanitäre Spenden. Strengere Überwachung von Geldflüssen und konsequente Sanktionen könnten diese Netzwerke erheblich schwächen. Das ist nicht nur wichtig, um Syrien zu stabilisieren, sondern auch, um Terroranschläge in Europa zu verhindern.

Inwiefern hat die Situation in Syrien Einfluss auf die Terrorgefahr in westlichen Ländern?

Terroristische Gruppen bieten oft anderen Terroristen Schutz. HTS besteht aus Kämpfern, die früher zu Al-Qaida gehörten. Schon jetzt akzeptiert HTS in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Personen und Gruppen, die eindeutig eine terroristische Agenda verfolgen, die über Syrien hinausgeht. Daher können die HTS-kontrollierten Gebiete, ähnlich wie bei den Taliban in Afghanistan, zur Drehscheibe für internationalen Terrorismus werden. Von Syrien aus könnten neue Ressourcen mobilisiert werden, um Anschläge zu planen. Die geografische Nähe zu Europa macht diese Gefahr umso realer.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schindler.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Hans-Jakob Schindler
  • Mit Material der Nachrichtenagentur AFP
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website