Rückschritte bei Bürgerrechten befürchtet Chile stimmt über neue Verfassung ab – zum zweiten Mal
Am Sonntag stimmt Chile zum zweiten Mal über eine neue Verfassung ab. Der erste, progressive Entwurf war im vergangenen Jahr durchgefallen.
In Chile hat das Referendum über eine neue Verfassung begonnen. Bei der Abstimmung am Sonntag sollten rund 15 Millionen Wahlberechtigte darüber entscheiden, ob das aktuelle Grundgesetz aus der Zeit der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet durch eine neue Verfassung ersetzt wird. Rechte und konservative Gruppen warben für eine Zustimmung zu dem Entwurf des Verfassungsrats, während linke Parteien und Verbände für eine Ablehnung plädierten.
Der Verfassungsrat wurde von den Delegierten der rechten Parteien dominiert. Kritiker bemängeln, dass die neue Verfassung bei bestimmten Rechten einen Rückschritt darstelle. So könnte der Entwurf das Recht auf Abtreibung einschränken, die sofortige Ausweisung von Ausländern ermöglichen und steuerliche Vorteile für Hausbesitzer festschreiben.
Verfassungsentwurf beinhaltet Ende der Schulpflicht
"Die neue Verfassung wäre das, was sich die konservativsten Kräfte in den Vereinigten Staaten wünschen", sagte Francisco Cox, Anwalt für Menschenrechte, im Gespräch mit der "Washington Post". So könnten Dienstleister laut der neuen Verfassung ihre Dienste etwa dann verweigern, wenn die Empfänger homosexuell seien. Die neue Verfassung öffne Diskriminierung Tür und Tor, so Cox.
Ein weiterer Punkt in der möglichen neuen Verfassung spaltet das Land. Denn laut dem Text, den der Verfassungsrat erarbeitet hat, sollen Eltern in Zukunft das Recht bekommen, ihre Kinder "im Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen" zu Hause zu unterrichten. Damit würde die staatliche Schulpflicht, die für Kinder und Jugendliche von sieben bis 16 Jahren gilt, untergraben werden. Dass dieses Thema überhaupt diskutiert wird, überrascht die chilenische Juristin Verónica Undurraga: "Bisher hat diese Debatte in Chile überhaupt nicht existiert. Das ist ein direkter Import von konservativem US-Aktivismus".
Chile lehnte progressive Verfassung ab
Es ist bereits der zweite Versuch, dem südamerikanischen Land eine neue Verfassung zu geben. Im vergangenen Jahr hatten die Chilenen einen sehr progressiven Verfassungsentwurf mit großer Mehrheit abgelehnt. Er hätte ein Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantiert, eine Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen festgeschrieben und den indigenen Gemeinschaften ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Das ging vielen Menschen in dem konservativen Land offenbar zu weit.
Ein Scheitern des konservativen Verfassungsvorschlag hätte laut Chiles Präsident Gabriel Boric die Folge, dass es in seiner Amtszeit keine weitere Abstimmung über einen neuen Verfassungsentwurf geben würde. Beobachter halten die Debatte über eine neue Verfassung für den Beweis für die Zerrissenheit des südamerikanischen Landes.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- washingtonpost.com: "Why Chile’s draft constitution reads like a U.S. conservative wish list" (englisch)