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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vollbeschäftigung trotz Krieg Russisches Wirtschaftswunder?
Sanktionen, Kriegsdienst, Fachkräfteabwanderung: Russlands Wirtschaft leidet unter den Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine. Trotzdem bewegt sich das Land auf Vollbeschäftigung zu. Wie passt das zusammen?
Russland führt seit mehr als einem Jahr einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und bekommt deshalb harte Sanktionen des Westens zu spüren. Etliche Staaten beziehen längst kein Gas und Öl mehr aus dem Land, Milliardenaufträge für die Energiekonzerne, der Wirtschaftsmotor des Landes, sind futsch.
Und doch zeigen russische Statistiken: Der Wirtschaft des Landes geht es vergleichsweise gut. Derzeit soll sich Russland sogar auf eine Vollbeschäftigung zubewegen. Auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Wie geht das? Ist von einer Krise in Russland gar keine Spur?
Um diese Fragen zu beantworten, muss man zunächst wissen: Arbeit und Arbeitslosigkeit haben in Russland eine große gesellschaftliche Bedeutung.
Seit Jahrzehnten besteht im Land eine Art unausgesprochener Gesellschaftsvertrag, wonach die Regierung den Menschen nach den turbulenten Übergangsjahren der Sowjetunion einen gewissen Lebensstandard garantiert. Die Arbeitsplätze sind sicher, die Renten (wenn auch gering) ebenfalls. Im Gegenzug halten sich die Menschen weitgehend aus der Politik heraus.
Wert seit 1991 nicht mehr so niedrig
Das zeigt sich auch darin, dass die Behörden von Unternehmen verlangen, selbst in schwierigsten Zeiten Mitarbeitende zu halten. So auch in der jetzigen Krise, seit der Kreml entschied, das Nachbarland Ukraine zu überfallen. Das soll signalisieren, dass die Menschen auch inmitten großer Turbulenzen ihrer Arbeit nachgehen und ihr Leben weiterleben können – wenn auch unter oft bescheidenen Umständen, denn der Mindestlohn ist in Russland im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten recht niedrig.
Die offizielle Arbeitslosenstatistik sieht gut aus, und das schon seit knapp sechs Monaten, wie das russische Investigativmedium "iStories" berichtet: Aktuell sind so wenige Menschen ohne Job wie seit mehr als 30 Jahren nicht mehr.
Die Arbeitslosigkeit lag im Mai bei 3,2 Prozent. Das habe es in der gesamten Geschichte der Beobachtungen seit 1991 nicht gegeben, so die Analyse. Auch Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow frohlockte unlängst: "Wir haben eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit, und es ist gut möglich, dass wir weitere historische Rekordtiefs bei der Arbeitslosigkeit sehen werden."
Normalerweise bedeutet eine niedrige Arbeitslosigkeit: Der Wohlstand wächst, weil mehr Menschen Geld verdienen, das sie wiederum ausgeben können, was abermals für mehr Wachstum und ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) sorgt.
Tatsächlich aber ist die russische Wirtschaft 2022 um mehr als zwei Prozent geschrumpft. Für das laufende Jahr prognostizieren Ökonomen ebenfalls eine Rezession. Das zeigt: Trotz hoher Beschäftigung kann von wirtschaftlichem Aufblühen also kaum die Rede sein.
Kreml hantiert mit geschönten Zahlen
Normalerweise, heißt es in der Analyse von "iStories", bedeute jedes einzelne Prozent weniger BIP zwei Prozentpunkte mehr Arbeitslosigkeit. So sei es bei entwickelten Industrieländern. In Russland aber ist das BIP im ersten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent geschrumpft – und die Arbeitslosigkeit ebenfalls zurückgegangen. "In diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal"; zitiert "iStories" den Wirtschaftsprofessor an der University of California, Oleg Itskhoki.
Ein russisches Wirtschaftswunder? An dieser Lesart gibt es Zweifel. Denn Beobachter und Experten sind sich einig: Die russische Regierung hantiert mit geschönten Zahlen. Zwar gebe es tatsächlich keine Massenentlassungen, Menschen würden aber in Teilzeit versetzt oder in unbezahlten Urlaub geschickt, schreibt "iStories".
In Russland kursiere gar die Anekdote eines Fabrikchefs der Eintrittsgeld zu seinem Werk verlange. Die Folge ist eine "verschleierte Arbeitslosigkeit". Das sei vielen klar, für viele Angestellte aber immer noch besser, als den Job zu verlieren. (Wie Putin Wirtschaftszahlen in der Energiebranche zu seinen Gunsten nutzt, lesen Sie hier.)
Verfall von innen
Die Arbeitslosigkeit ist aber auch aus anderen Gründen nur dem Anschein nach niedrig. "iStories" hat Zahlen analysiert, wonach bereits im November der Anteil der Unternehmen deutlich stieg, die aus "formalen Gründen", zum Beispiel Einberufung, Gerichtsverfahren oder Tod, Mitarbeitende verlieren: Von bislang 38 Prozent erhöhte sich dieser Wert auf 60 Prozent.
Diese dann offenen Stellen besetzen sie mit jenen Leuten nach, die zuvor keinen Job hatten, was sich positiv auf die Statistik auswirkt – allerdings nicht automatisch zu mehr Wirtschaftswachstum führen muss.
Die Moskauer Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch spricht vielmehr von einem "Verfall" der russischen Wirtschaft, gewissermaßen von innen heraus. Denn: "Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum", sagte sie "iStories".
Hunderttausende zogen in den Krieg und fehlen am Arbeitsmarkt
Dringend nötige Arbeitskräfte sind also nirgends zu bekommen. Denn Hunderttausende wurden in den Kriegsdienst eingezogen, Hunderttausende ergriffen zudem die Flucht und wanderten aus – letztlich fehlen also Hunderttausende auf dem Arbeitsmarkt. Hinzukommt, dass Zuwanderer, die üblicherweise den Fachkräftemangel in Russland abfedern, angesichts des Kriegs das Land verlassen haben und kaum welche nachkommen.
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Dabei zeigt sich: Das Personalproblem geht tiefer als Sanktionen, die von außen auf die Wirtschaft wirken. Während Sanktionen umgangen werden können, indem man etwa deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, sind menschliche Ressourcen nicht so einfach ersetzbar.
Wassili Osmakow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel in Russland, räumte das bereits Ende Mai ein: "Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an (...), das ist die größte Herausforderung hier und jetzt." Die Schwierigkeiten bestehen ihm zufolge nicht nur unter IT-Fachleuten, die in Scharen das Land verlassen haben. Auch in der Industrie herrsche großer Mangel, sagte er auf dem Eurasischen Forum.
Ähnlich geläutert äußerte sich Maxim Oreschkin, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten: "In vielen Branchen bestehe ein 'großer Personalhunger', hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten."
Häftlinge als Autobauer
Wie "iStories" berichtet, reagieren Unternehmen unterschiedlich: "Besonders radikal" gehe etwa der Autohersteller AwtoWas vor: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. Ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region soll mehr Manager eingestellt haben, die nur dafür da sein, Personal zu beschaffen. Im Ural haben Unternehmen dem Bericht zufolge damit begonnen, Anreize für Arbeitskräfte zu schaffen: Umzugszuschüsse, Reisekostenerstattung, Fortbildungen – und begonnen, Löhne zu erhöhen.
Doch gerade Letzteres – ein genutztes Mittel in der Not – erweist sich als problematisch: "Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität", betont "iStories", das wiederholt auch immer wieder die russische Zentralbank: Diese ungleiche Entwicklung müsse dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden. Das wiederum kann die Inflation in die Höhe treiben. Für die russische Wirtschaft ist das wiederum von Nachteil.
Für die Zukunft zeichnet sich damit ein weniger rosiges Bild ab. Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so die Wirtschaftswissenschaftlerin Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung verlangsamen. Und noch mehr: Sie könnte zu mehr Armut führen.
Beschäftigte, die zwar nicht entlassen werden, dafür aber weniger Geld bekommen, können sich weniger leisten, ihr Lebensstandard könnte deutlich sinken. Das birgt sozialen Sprengstoff – und könnte sogar am eigentlich so fest etablierten Gesellschaftsvertrag im Putinschen Reich rütteln.
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