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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Der Anfang vom Ende" Expertin zeichnet düsteres Szenario für Zukunft Russlands
Wie es nach dem Putschversuch weitergeht? Chaotisch, wenn man Anne Wills Talkgästen glauben darf.
Der "Marsch für Gerechtigkeit" des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin und sein abruptes Ende haben viele Fragen aufgeworfen. Unter dem Titel "Machtkampf in Russland – Verliert Putin die Kontrolle?" versuchte Moderatorin Anne Will mit ihren Gästen einige davon zu beantworten, ohne in wilde Spekulationen zu verfallen.
Die Osteuropa-Expertin Sabine Adler zeigte sich in der ARD-Talkshow am Sonntagabend davon überzeugt, dass die Ereignisse den Anfang von Putins Ende markierten. Sie hätten gezeigt, "dass sich jemand aufschwingen kann und zumindest versuchen kann, Putin etwas zu diktieren", erklärte die Journalistin.
Der Militärexperte Carlo Masala stimmte ihr zu und interpretierte den Wagner-Aufstand als Schlag in Putins Gesicht. Gleichzeitig erläuterte er, warum es gerade jetzt ein starkes Signal des Westens brauche, um eine gefährliche Aktion Russlands beim Atomkraftwerk in Saporischschja zu verhindern.
Gäste
Seit Langem sei immer wieder von der Eskalationsfähigkeit der russischen Föderation die Rede, dabei habe Putin nur wenig Möglichkeiten zur Eskalation. "Saporischschja ist das dringendste Problem momentan", urteilte der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München.
Er wünsche sich eine klare Ansage an Putin, dass er mit gravierenden Konsequenzen zu rechnen habe, wenn Saporischschja explodiere. "Putin versteht die Sprache der Gewalt. Das ist die abschreckende Sprache von Gewalt", erklärte Masala seine Forderung.
Insgesamt deutete der Politikwissenschaftler die unruhige Lage in Russland als Chance für die Ukraine. "Je mehr Chaos in Moskau, desto besser für die Ukraine", so seine Einschätzung.
CDU-Außenexperte empfiehlt Befreiung der Krim
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter riet dazu, Putins aktuelle Schwäche zu nutzen. Der Oberst a. D. unterstrich in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Krim, die er als "Gravitationszentrum" des russischen Präsidenten bezeichnete. Diese gelte es nun zu befreien, nicht unbedingt blutig, sondern durch die Zerstörung der Versorgungslinien. Dadurch würden "die russischen Truppen dort aufgeben müssen", sagte Kiesewetter und forderte, die europäischen Waffenlieferungen an die Ukraine auszuweiten.
"Wenn die Krim keine russischen Truppen mehr hat, dann hat Putin keine Zukunft mehr in Russland", resümierte der Christdemokrat. Man dürfe keine Angst davor haben, dass Putin scheitere, die Machtkämpfe um dessen Nachfolge hätten sogar bereits begonnen, sagte Kiesewetter.
Dass es Prigoschin gelungen sei, Putins Kommunikationsdominanz zu brechen und ein Bild der korrupten Eliten zu zeichnen, die den Ukraine-Krieg aus eigenem Interesse angefangen hätten, könne Putins Macht weiter bröckeln lassen, befand Lars Klingbeil. Als weitere Punkte, die dem russischen Präsidenten schaden könnten, führte der SPD-Vorsitzende die Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf und die Unsicherheit innerhalb der Moskauer Führungskreise darüber an, ob Putin sie eigentlich noch beschützen könne.
Was wird aus Prigoschin?
"Das Unsicherheitsgefühl wird steigen, und das ist Gift für jemanden wie Putin", prognostizierte auch Ina Ruck. Die Moskau-Korrespondentin der ARD sah das Bild des übermächtigen russischen Machthabers als irreparabel geschädigt an. "Ich bin sicher, dass diese Macke, die das geschlagen hat, auf Dauer in seinem Image bleiben wird. Das wird nicht zu kitten sein", konstatierte die aus Moskau zugeschaltete Journalistin. Ruck erinnerte außerdem daran, dass sowohl Prigoschin als auch dessen Rivale, Verteidigungsminister Sergej Schoigu, gegenwärtig von der Bildfläche verschwunden seien.
Über Prigoschins gegenwärtige Situation gab es in der Talkrunde selbst einige Mutmaßungen. "Der macht sich schon gerade sehr viele Gedanken um seine Gesundheit und sein Leben", spekulierte SPD-Politiker Lars Klingbeil.
Militärexperte Carlo Masala riet dem Aufständischen sogar, auf Jahre hinweg dreimal pro Nacht das Bett zu wechseln, um sich nicht erwischen zu lassen. Schließlich habe Putin auch schon bei anderen Regimegegnern einen langen Atem bewiesen, bevor er sie habe ermorden lassen.
Sabine Adler erinnerte allerdings daran, dass Prigoschin über "eine unglaubliche Rückendeckung" verfügen müsse, um seinen Aufstand auch nur in Erwägung gezogen zu haben. Die Russland-Expertin des Deutschlandfunks vermutete Unterstützer bei den Geheimdiensten und erkannte darin ein Indiz dafür, dass Putin die Sicherheitsbehörden nicht mehr vollständig im Griff habe. "Wir haben es mit unglaublichen Machtkämpfen hinter den Kulissen zu tun, und das wohl schon eine ganze Weile", konstatierte Adler.
Russlandkennerin prophezeit Russland unsichere Zukunft
Auf Russland sah die ausgewiesene Kennerin des Landes düstere Zeiten zukommen. Wenn alles ins Wanken gerate, werde in Russland die Hölle los sein. Es werde dann eher nicht zu einem Bürgerkrieg der Massen, sondern zu einem Jeder-gegen-jeden-Szenario kommen. "Die Zukunft Russlands ist meiner Meinung nach eine höchst unsichere", prophezeite Adler. "Ich glaube, es ist der Anfang vom Ende".
Dass der Talk trotz allem einen eher positiven Unterton hatte, war vor allem der Hoffnung geschuldet, dass die russische Unsicherheit der Ukraine nützen könnte. Dort sei man etwas enttäuscht, dass der Putschversuch ein so schnelles Ende gefunden habe, berichtete der Ukraine-Korrespondent der ARD, Vassili Golod, aus Kiew. Mit einer Implosion des Systems innerhalb kürzester Zeit rechne allerdings auch niemand.
An einem Punkt wollte der im ukrainischen Charkiw geborene Sohn einer russischen Mutter und eines ukrainischen Vaters trotzdem keinen Zweifel lassen: "Jede Schwächung des Regimes ist eine Stärkung für die Ukraine, ist eine Möglichkeit, dass sich die Situation für die ukrainischen Streitkräfte verbessert."
- "Anne Will" vom 25. Juni 2023