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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prigoschin-Aufstand in Russland "Sie können ihn gefangen nehmen – oder töten"
In Russland tobt ein Machtkampf: Wagner-Chef Prigoschin richtet sich gegen die Militärführung in Moskau. Welche Folgen hat das für Putin?
Mit nichts weniger als der bolschewistischen Oktoberrevolution hat Kremlherrscher Wladimir Putin die Rebellion von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin und seiner Truppen in Südrussland verglichen. "Dies ist genau die Art von Schlag, die Russland 1917 traf", sagte Putin am Samstag in einer Rede zur Nation.
Sogar von einem Bürgerkrieg sprach der Kremlchef: "Intrigen, Streitereien und politische Machenschaften hinter dem Rücken der Armee" hätten zum Zusammenbruch des Staates geführt und schließlich zur Tragödie des Bürgerkriegs. Doch wie gefährlich ist die derzeitige Situation in Russland wirklich für Putins Regime?
Dass Putin die Revolution von 1917 als Relation heranzieht, ist bemerkenswert: Der Oktoberrevolution folgte eine jahrelanger blutiger Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Bolschewiki unter Lenin endete. Nun zeichnet Putin dieses Bild von Chaos für das heutige Russland – und rückt sich als Garant für Stabilität ins Bild.
"Privatisierung der militärischen Einheiten rächt sich"
Dass es deshalb wie damals zu einem Bürgerkrieg kommt, hält der Berliner Russlandforscher Stefan Meister derzeit zwar für unwahrscheinlich. Zugleich betont der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dass die Situation "durchaus gefährlich" für Putin sei: "Putin hat mit Prigoschin etwas laufen lassen, das er nicht mehr kontrolliert. Die Privatisierung militärischer Einheiten, wie bei Prigoschins Söldnerarmee, rächt sich jetzt. Der russische Staat hat in Teilen das Gewaltmonopol verloren."
Lange habe Putin Prigoschin geschützt und gewähren lassen, trotz dessen anhaltender massiver Kritik an der russischen Militärführung. Seit einigen Tagen aber habe der Kremlherrscher den Söldnerchef "austrocknen lassen", sagt Meister, Munition etwa sei nicht mehr bereitgestellt worden. Zudem durfte Wagner keine neuen Kämpfer mehr in den Gefängnissen rekrutieren.
Es habe sich gezeigt: "Putin hat Prigoschin preisgegeben." Deswegen sieht der Forscher Prigoschin nun unter Zugzwang: "Prigoschin sucht nun wohl nach einem Deal mit dem Kreml um sein Überleben abzusichern", sagt Meister.
Ähnlich sehen es auch andere Beobachter in Russland, mit denen t-online gesprochen hat. Demnach habe Putin keine Angst vor Prigoschins Truppen, weil er sie leicht bekämpfen lassen kann – viel besser jedenfalls als die mit modernsten Raketensystemen und Panzern ausgestattete ukrainische Armee.
Wie eng wird es für Putin selbst?
Die beiden Militärinstitutionen war Prigoschin immer wieder heftig angegangen. Seit Monaten tobt zwischen dem Söldnerboss und Verteidigungsminister Schoigu ein Machtkampf.
Dass Putin selbst bedroht sei, hält Meister derweil für unwahrscheinlich. "Das ist weniger eine konkrete Gefahr für Putin, sondern mehr der Versuch Prigoschins, zu überleben." Dennoch sei nicht zu verhehlen: "Putin kontrolliert die Situation nicht mehr, er muss das Gewaltmonopol zurückholen und das in kürzester Zeit, ansonsten kann es auch gefährlich für ihn werden."
Das werde nun von den Sicherheitsorganen geleitet werden. Die Nationalgarde ist bereits aktiviert: Die Spezialtruppen sind für die innere Sicherheit Russlands zuständig und sind beispielsweise bei Demonstrationen im Einsatz.
Der lange Weg nach Moskau
Und wie wird Prigoschin nun reagieren? Kriegsbeobachter erwarten, dass er seine Truppen aus der Ukraine abziehen könnte, um sie in Russland aufmarschieren zu lassen. Das könnte zu einer weiteren Eskalation in Russland führen. Die Wagner-Truppen sollen von Südrussland auf dem Weg in die russische Hauptstadt sein. Der Söldnerchef gibt an, 25.000 Soldaten zu haben, jedoch ist unklar, wie viele von ihnen mobilisiert und unterwegs sind – und wie viele in der Ukraine und in anderen Ländern im Einsatz sind.
"Sie sind 1.000 Kilometer von Moskau entfernt", sagt Stefan Meister. Putin werde nicht zulassen, dass Prigoschin den ganzen Weg in die Hauptstadt zurücklege, ist er überzeugt. Die Sicherheitsorgane seien nun aktiviert und könnten jederzeit eingreifen. "Sie können Prigoschin gefangen nehmen und vor ein Gericht stellen – oder töten."
Politische Konsequenzen sind ihm zufolge kurzfristig eher unwahrscheinlich, weder innerhalb der Armeeführung in der Ukraine oder innerhalb des Verteidigungsministeriums: "Putin würde Rücktritte von Waleri Gerassimow oder Sergei Schoigu nicht akzeptieren", sagt Meister, "das sähe wie eine massive Schwächung aus."
Wahrscheinlicher wäre, dass Putin Entlassungen selbst ausspräche, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Denn das Ziel des russischen Präsidenten kann aktuell nur eines sein: Er muss signalisieren, dass er die Situation unter Kontrolle hat.
- Telefongespräch mit Stefan Meister am 24.06.2023
- meduza.io: "Путин назвал мятеж Пригожина "предательством" и "изменой" (russisch)
- Twitter.com: @igorsushko (englisch), @kevinrothrock (englisch)