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Ukraine-Krieg | Russland: "Putin wird nicht mehr lange unter uns weilen"


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Süchtiger im Kreml?
"Wladimir Putin wird nicht mehr lange unter uns weilen"


Aktualisiert am 20.07.2022Lesedauer: 9 Min.
Wladimir Putin: Russlands Machthaber ist krank, vermutet der britische Russland-Experte John Sweeney.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Machthaber ist krank, vermutet der britische Russland-Experte John Sweeney. (Quelle: Alexei Druzhinin/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/dpa)
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Krieg und Mord ist unter Wladimir Putins Herrschaft die Regel. Woher aber stammt diese Aggressivität? Journalist John Sweeney hat eine beunruhigende Vermutung.

Wladimir Putin beherrscht Russland mittlerweile länger, als es mancher Zar getan hat. Wie gelang dem früher unscheinbaren KGB-Mann der Aufstieg bis in den Kreml? Durch Mord, Krieg und völlige Skrupellosigkeit, sagt der britische Russlandkenner John Sweeney. Im t-online-Gespräch erklärt der Journalist, warum er Putin für einen psychopathischen Serienkiller hält, dessen Tage aber bald gezählt sein dürften.

t-online: Herr Sweeney, Wladimir Putin regiert Russland seit 1999. Wie viele Menschen hat seine Herrschaft in dieser Zeit das Leben gekostet?

John Sweeney: Die genaue Zahl kennt nicht einmal Wladimir Putin selbst. Aber er wird durch sein direktes Tun bislang um die 150.000 Menschen auf dem Gewissen haben. Zehntausende starben allein im Zweiten Tschetschenienkrieg, mit dem Putin sich zu Beginn seiner Amtszeit den Russen als starker Mann präsentiert hat. Im Jahr 2000 habe ich als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien selbst gesehen, welche Verbrechen russische Soldaten dort begangen haben. Zivilisten wurden gefoltert und kurzerhand erschossen.

Tschetschenien war aber nur der Anfang. Es folgten etwa der Krieg gegen Georgien, später sandte Putin seine Armee nach Syrien. Und nun bekämpft er die Ukraine.

So traurig es ist: Das sind nicht die einzigen Toten, die Putin zu verantworten hat. Er mordet im In- und Ausland. Mutige Menschen wie die Journalistin Anna Politkowskaja oder der Politiker Boris Nemzow mussten sterben, weil sie Russlands Machthaber kritisiert haben und ihm gefährlich werden konnten – davon bin ich überzeugt.

Politkowskaja wurde 2006 in ihrem Haus in Moskau erschossen, Nemzow 2015 auf der Großen-Moskwa-Brücke in der russischen Hauptstadt.

Genau. Und in beiden Fällen gibt es Hinweise, dass Tschetschenen Putins Drecksarbeit gemacht haben, indem sie diese Morde begingen. Es sollen Männer in Diensten von Ramsan Kadyrow gewesen sein, der Tschetschenien im Auftrag Putins mit eiserner Hand beherrscht.

John Sweeney, Jahrgang 1958, ist investigativer Journalist und Autor. Sweeney arbeitete unter anderem für "The Observer" und die BBC, der Brite wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine berichtet Sweeney über den Konflikt; den Machenschaften Wladimir Putins geht er seit Jahrzehnten nach. Gerade ist sein neues Buch "Der Killer im Kreml. Wladimir Putins skrupelloser Aufstieg und seine Vision vom großrussischen Reich" erschienen.

Sie werfen Putin aber beispielsweise auch vor, 1999 die Fäden bei einer Reihe von Bombenanschlägen auf Wohnhäuser vor allem in Moskau gezogen zu haben. Hunderte starben, offiziell wurden Tschetschenen der Taten beschuldigt.

Die damaligen Ermittlungen waren eine Farce. Die Sicherheitsbehörden hatten nur Indizien als "Beweise", einige der Beschuldigten sind im Tschetschenienkrieg dann "erschossen" worden. Für den Kreml war das sehr praktisch. Die ganze Sache stinkt doch nach dem russischen Geheimdienst. In Rjasan, südlich von Moskau, war damals im September 1999 ebenfalls eine Bombe deponiert worden. Allerdings nicht von Terroristen, sondern von Mitarbeitern des Geheimdienstes FSB. Nachdem die Sache aufgeflogen war, hieß es, dass die Bombe eine Attrappe und das Ganze eine Übung gewesen sei. Ich habe da meine Zweifel. Putin hatte da seine Hände im Spiel, um die Russen in Rage für seinen Tschetschenienkrieg zu bringen.

Während die russischen Truppen noch in Tschetschenien kämpften, ließ sich Wladimir Putin im Deutschen Bundestag 2001 mit einer versöhnlich erscheinenden Rede feiern. Wollte niemand im Westen verstehen, was für ein Mann Putin ist?

Alle, die westlichen Politiker voran, wollten in Putin das Gute sehen: Endlich ein Typ, der in Russland für eine gewisse Ordnung sorgt! Ein Typ, der Gas und Öl in Ruhe nach Westen fließen lassen würde. Was sie aber nicht so richtig begriffen haben oder kapieren wollten: Putin ist ein waschechter Psychopath. Er kriegt seinen sprichwörtlichen Kick davon, dass er sich immer wieder Sachen nimmt, die anderen Leuten gehören. Und wieder und wieder und wieder. Putin verhält sich wie jeder Süchtige: Der nächste Kick muss besser sein als der davor.

Sie spielen auf die vielen Kriege und Morde an? In ihrem neuen Buch "Der Killer im Kreml" über Wladimir Putin listen Sie diese auf.

Genau. Tschetschenien, Georgien, die Krim, Syrien und nun erneut die Ukraine. Wir haben die traurige Liste schon angesprochen. Es wird immer schlimmer, Putin will immer mehr. Aber es gibt ein zweites Problem, das niemand im Westen so richtig wahrhaben wollte: Putin ist nicht nur ein Psychopath, er ist auch ein Serienkiller. Und solche Leute hören nicht einfach mit dem Töten auf. Westliche Politiker sind es durchaus gewohnt, mit Autokraten zu verhandeln und Geschäfte zu machen. Nur ist der Kremlchef einfach eine Hausnummer zu groß gewesen. Putin hat uns allesamt mächtig aufs Kreuz gelegt.

Zuletzt am 24. Februar 2022, als die russische Armee die Ukraine überfiel.

Nun, Putin hat aber einen ganz großen Fehler begangen, indem er die Ukraine angegriffen hat. Denn jetzt weiß jeder, mit was für einem Typen wir es zu tun haben. Die Lösung liegt auch auf der Hand: Wir müssen Putin für immer ausschalten. Koste es, was es wolle. Russland muss die totale Demütigung erleiden, damit die Menschen dort selbst Putin loswerden wollen.

Halten Sie es für wahrscheinlich, dass Putins Ende nahe sein könnte?

Wladimir Putin wird nicht mehr lange unter uns weilen. Zu dieser Vorhersage lasse ich mich hinreißen. Er macht den gleichen Fehler wie einst Zar Nikolaus II., der Russland in den Ersten Weltkrieg geführt hatte: Putin überschätzt seine Macht gewaltig – und die Stärke seiner Armee sowieso. Von der Loyalität seiner Hofschranzen ganz zu schweigen.

Ist Putins Herrschaft tatsächlich so fragil? Das fällt schwer zu glauben.

Die russischen Oligarchen sehen es mit Sicherheit nicht gerne, dass Putin nun alles aufs Spiel setzt, was sie in Jahrzehnten zusammengerafft haben. Wenn der Krieg schlecht läuft, wird es eng für Putin. Er ist auch viel schwächer, als wir denken. Der Kreml nennt den Krieg immer noch nicht Krieg, fordert immer noch nicht die allgemeine Wehrpflicht. Die Menschen in St. Petersburg und Moskau wollen nämlich nicht, dass ihre Söhne auf den Schlachtfeldern in der Ukraine sterben. Putin schickt deswegen nur die armen Leute aus dem Norden Russlands an die Front, die dort in großer Zahl sterben. Das alles sind Anzeichen von Schwäche.

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Nach anfänglichen Misserfolgen agiert die russische Armee aber mittlerweile erfolgreich in der Ukraine.

Und genau aus diesem Grund muss der Westen die Ukrainer weiter hochrüsten. Panzer, Artillerie, alles, was da ist, muss geliefert werden. Bislang waren wir zu zögerlich aus Angst vor einer Eskalation, aber insbesondere die Amerikaner scheinen es nun begriffen zu haben. Putin kann man nur mit Stärke beeindrucken, er wird jede Schwäche unbarmherzig ausnutzen.

Sie haben Putin selbst aus der Nähe erlebt. So etwa 2014, nachdem eine aus den prorussischen Separatistengebieten in der Ukraine abgefeuerte Boden-Luft-Rakete russischer Herkunft eine niederländische Passagiermaschine zerstört hatte. Wie wirkte er auf Sie?

Putin war auch damals schon aalglatt. Aber auf gewisse Art war er anderes als heute. Als ich ihn mit dem Abschuss der niederländischen Maschine konfrontierte, wirkte er auf gewisse Weise nahbar und flexibel. Das ist kein Vergleich mit dem Putin von heute. Erinnern Sie sich an seinen Auftritt beim Nationalen Sicherheitsrat wenige Tage vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine? Putin war voll im James-Bond-Bösewicht-Modus, besonders als er seinen Geheimdienstmann Sergei Naryschkin geradezu anknurrte, als der nicht schnell genug schaltete, was sein Boss von ihm wollte.

Warum hat sich Putin derart verändert? Weil er immer wieder mit seinen Machenschaften durchgekommen ist?

Der Kremlchef ist ein komplexer Mann, niemand weiß, was in seinem Kopf vor sich geht. Putin kann sehr bescheiden und fürsorglich auftreten, genauso leicht fällt es ihm aber, seine Armee auf die Ukraine loszulassen, die dann Zivilisten massakriert. Ich denke, dass es zwei Gründe dafür gibt, dass Putin mittlerweile so ungeniert aggressiv auftritt. Zum einen ist er seit rund 22 Jahren an der Macht – und er glaubt mittlerweile selbst den Unfug, den die russische Propaganda zusammenspinnt.

Worin besteht der zweite Grund?

Irgendwas stimmt mit Putins Gesundheit absolut nicht. Ist es irgendeine Art von Krebs, wie so oft behauptet wird? Das wäre möglich. Deswegen riskiert Putin nun auch alles, mit dem Krieg gegen die Ukraine. Weil ihm die Zeit davonläuft. Aber ich habe auch die Vermutung, dass Putin Steroide nimmt.

Haben Sie Belege dafür?

Vor vielen Jahren hatte Putin einmal einen Reitunfall, es war sicher eine schmerzhafte Angelegenheit. Steroide werden zur Behandlung von anhaltenden Schmerzen eingesetzt, vermutlich auch bei Putin. Nebenbei können sie aber auch aggressiv machen – und einen hageren Typen wie Wladimir Putin mit dünnem Gesicht in den Mann verwandeln, den wir heute fürchten. Sein Gesicht wirkt aufgeschwemmt, von der Scharfsinnigkeit, die ich 2014 beim Kremlchef sah, ist heute nichts zu sehen. Wahrscheinlich ist Putin abhängig von Steroiden – ich bleibe dabei.

Nun können wir Putins Aggressivität nicht allein durch einen möglichen Medikamentenmissbrauch erklären.

Das stimmt. Aber der russische Präsident war schon immer gefühlskalt. Der KGB, bei dem Putin 1975 angeheuert hatte, stellte ihm damals eine Beurteilung aus. Demnach wies Putin einen erheblichen Mangel an Empathie für andere Menschen auf und eine ziemlich unterentwickelte Fähigkeit, Risiken richtig einschätzen zu können. Dem Mann, der Putin damals so beurteilt hat, sollten wir noch heute für seine Menschenkenntnis die Hand schütteln.

Was wird in Russland aber passieren, wenn Putin weg ist?

Es wird kein friedliches Russland und kein Ende der Sanktionen ohne echte Wahlen geben. Denken Sie an Willy Brandt. Er fuhr nach Warschau, fiel auf die Knie und bat um Vergebung. Das war ein großer Moment für Deutschland und Europa. Ein künftiger russischer Präsident wird eingestehen müssen, dass sein Land tragische Fehler begangen hat. Nur so kann Russland nach Europa zurückfinden. Bis dahin wird es ein trauriger Abklatsch Nordkoreas bleiben.

Wen sehen Sie denn als möglichen Nachfolger Putins? Etwa den im Augenblick inhaftierten Alexej Nawalny?

Alexej Nawalny ist der Kandidat Nummer eins – wenn Putin ihm erlauben wird, weiterzuleben. Meine ukrainischen Freunde sind sehr vorsichtig, was ihn anbelangt. Nawalny hat immerhin die Krim-Annexion unterstützt und mit der nationalistischen Rechten geflirtet. Allerdings hat er diese Positionen aufgegeben und umgibt sich nun mit Liberalen. Wäre Putin zudem wirklich stark, hätte er Nawalny längst umgebracht. Bei Nawalnys Tod gäbe es aber Aufstände in Moskau und St. Petersburg. Davor hat Putin gewaltige Angst. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Vor diesem Augenblick fürchtet sich Putin wirklich.

Wie steht es um die Machtstrukturen im Kreml? Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Putin ein Geschöpf des Geheimdienstes sei. Was aber ist die Quelle seiner Macht?

Es ist eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, Putin arbeitet mit Korruption und Angst. Die Korruption in Russland ist virulent, das Zuckerbrot besteht in einem Angebot: Wenn man tut, was Putin will, darf man als Oligarch sein Geld behalten. Und die Summen sind extraordinär hoch. Wer aufmuckt, landet wie der ehemalige Ölmilliardär Michail Chodorkowski im Lager. Oder im Grab. Das ist dann die Peitsche, bestehend aus kremlhöriger Justiz, Polizei, aber vor allem dem Geheimdienst. Im Grunde genommen regiert der Geheimdienst Russland, beziehungsweise die Sowjetunion, seit 1917. Mit einer kurzen Unterbrechung unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Deswegen hat es nie eine wirkliche Entstalinisierung gegeben. Und das ist das Grundproblem: Putin ist ein Erbe Stalins.

Apropos Geheimdienst: In den letzten Wochen und Monaten wurde viel über vorgebliche Suizide von Oligarchen im Umfeld des russischen Konzerns Gazprom gesprochen. Was halten Sie davon?

In manchen Fällen handelt es sich wahrscheinlich um Suizide. Für einige reiche Männer ist die Invasion der Ukraine eine Katastrophe, sie haben wahrscheinlich schwere finanzielle Verluste erlitten. Bei anderen Fällen halte ich es für möglich, dass jemand nachgeholfen hat, die Leute also ermordet wurden. Einige Männer auf oberster Ebene des russischen Staates haben vielleicht etwas gesagt, was dem Kreml nicht passte. Wenn russische Behörden in einem Todesfall von Suizid sprechen, wäre ich grundsätzlich vorsichtig.

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Lassen Sie uns ein wenig über Gerhard Schröder, den ehemaligen Bundeskanzler, sprechen. Was halten Sie von ihm?

Gerhard Schröder ist Putins Mann. Sehen Sie sich sein Engagement für das Pipeline-Projekt Nord Stream an, seine Abendessen mit Putin, seinen Reichtum und seine Adoptivkinder aus St. Petersburg. Er war viermal verheiratet, hat aber keine leiblichen Kinder. Nun konnte Schröder aber zwei russische Kinder adoptieren. Bei kompromittierendem Material, das russische Geheimdienste gerne einsetzen, geht es nicht immer nur um Sex oder Geld. Häufig geht es auch um Familie und Kinder. Für das, was Schröder getan hat, sollte er meiner Meinung nach jedenfalls zur Rechenschaft gezogen werden.

Nun ist Schröder aber nicht der Einzige, der eine auffällige Nähe zu Russland pflegte. Zudem müssten Beweise für ein Fehlverhalten des früheren deutschen Kanzlers ermittelt werden, wenn es sie denn gäbe.

Russlands Geheimdienste haben überall die extreme Rechte aufgebaut und finanziert: Großbritannien, USA, Deutschland, Frankreich, Italien. Der Brexit etwa wurde von Moskau befördert, Trump wurde von Moskau bei seinem Wahlkampf unterstützt. Deshalb muss gegen die Leute, die russisches Geld erhalten haben, ermittelt werden. Gerhard Schröder sollte das Ziel Nummer eins dieser notwendigen Untersuchung sein. Boris Johnson kommt an zweiter Stelle.

Nun muss Olaf Scholz als Bundeskanzler der Gefahr durch Russland begegnen. Wird er das schaffen?

Ich halte Olaf Scholz für einen ehrlichen Mann. Er wird sein Bestes geben.

Herr Sweeney, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit John Sweeney via Videokonferenz
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