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Strategie gegen Wladimir Putin: Plötzlich ist der Nato-Kriegsfall denkbar


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Strategie gegen Putin
Plötzlich ist der Nato-Kriegsfall denkbar

Von Patrick Diekmann, Madrid

Aktualisiert am 01.07.2022Lesedauer: 6 Min.
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Reaktion auf Russlands Überfall: So will die Nato die Truppen jetzt aufstocken. (Quelle: t-online)

Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine steht die Welt für viele Jahre vor stürmischen Zeiten. Die Nato reagiert mit einer neuen Strategie.

Alles hat sich verändert – und das innerhalb weniger Monate. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die globale Sicherheitsarchitektur ins Chaos gestürzt. Die Nato steht plötzlich wieder im Rampenlicht und hat bei ihrem Gipfel in Madrid ein neues strategisches Konzept beschlossen. Die alte Nato-Strategie liest sich heute wie ein Relikt einer vergangenen Zeit, denn Russland und Wladimir Putin wurden darin noch als "strategische Partner" aufgeführt. Das ist passé, spätestens seit Kriegsbeginn am 24. Februar.

Für das transatlantische Bündnis war der Gipfel in Madrid deshalb ein wichtiger Schritt in die Gegenwart. Plötzlich ist der Kriegsfall, ein Angriff auf das Nato-Bündnisgebiet, denkbar. Nachdem die Verteidigungsbereitschaft in den Nato-Staaten lange vernachlässigt worden war, stärkt die westliche Allianz nun ihre Ostflanke – und das massiv.

Das Treffen in der spanischen Hauptstadt wurde zum strategischen Startschuss für den Weg der Nato in eine Zeit, die seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr so düster war. Mit Russland und China als Systemrivalen scheint die bipolare Welt – der Kampf zwischen zwei globalen Machtblöcken – zurückzukehren. Deshalb rückt das transatlantische Bündnis nun enger zusammen und versucht interne Streitigkeiten zu lösen – nicht immer mit nachhaltigem Erfolg.

Zunächst musste Chaos verhindert werden

Auf großen internationalen Gipfeln wird von den Staats- und Regierungschefs eigentlich wenig verhandelt. Die große Vorarbeit läuft vor den Treffen im Hintergrund ab, Einigungen und Kompromisse stehen oft schon vorher fest oder müssen nur noch finalisiert werden. Die Gipfel dienen mehr als Plattform für persönliche und vertrauliche Gespräche zwischen den Entscheidungsträgern.

In Madrid war das anders, zumindest teilweise. Der Nato-Gipfel lief dank Recep Tayyip Erdoğan Gefahr, im Chaos zu versinken. Der türkische Präsident blockierte zuvor die Nato-Aufnahme von Finnland und Schweden. Vor dem Treffen in Spanien herrschte eher Ratlosigkeit, wie dieser Konflikt gelöst werden könnte.

Da die Geschlossenheit in der Nato kritisch auf der Kippe stand, schaltete sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in die Verhandlungen zwischen der Türkei, Schweden und Finnland ein. Noch am Dienstagabend schienen die Gespräche festgefahren, sollten unterbrochen und am späten Abend fortgesetzt werden. Journalisten im Pressezentrum wurde erzählt, dass die schwedische Nato-Delegation aus Brüssel gar nicht erst angereist sei, "weil sie eine Einigung für nicht realistisch hält".

Doch plötzlich kam die Wende. Stoltenberg trat mit den Staats- und Regierungschefs aus Schweden, Finnland und der Türkei vor die Presse. Der Nato-Generalsekretär verkündete: "Es gibt eine Einigung." Die Türkei gibt ihre Blockade auf, die skandinavischen Staaten werden der Nato beitreten. Ein historischer Moment.

Erdoğan hat viel gewonnen

Ankara erklärte, dass Erdoğan bei den Verhandlungen alles bekommen habe, was er gefordert hatte. So sollen sich Finnland und Schweden verpflichten, enger mit der Türkei im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Gülen-Bewegung zusammenarbeiten. Menschen, die in der Türkei terrorverdächtig sind, sollen abgeschoben werden. Hier erfahren Sie mehr über die Einigung zwischen Finnland, Schweden und der Türkei.

Erdoğan hat die Nato zuvor erpresst und den Preis nach oben getrieben. In der Türkei lässt er sich dafür von seinen Anhängern feiern. Doch das von allen drei Ländern unterschriebene Memorandum ist sehr vage gehalten – Schweden, Finnland und die Türkei können es auf ihre Weise interpretieren. Wie viel von der angekündigten gemeinsamen Terrorbekämpfung umgesetzt wird, steht auf einem anderen Blatt.

Die Zugeständnisse für ihn liefen eher im Hintergrund ab:

  • Das Waffenembargo gegen die Türkei wird aufgehoben, die türkische Armee kann auch wieder mit Angriffswaffen beliefert werden.
  • Die Türkei hat angekündigt, erneut die kurdischen Milizen in Nordsyrien angreifen zu wollen. Erdoğan hat vermutlich versucht, sich von seinen Nato-Partnern politische Rückendeckung für eine künftige Invasion zu sichern.
  • Die US-Regierung unterstützt die vom türkischen Präsidenten angestrebte Modernisierung der Flotte von F-16-Kampfjets. Die USA bestreiten zwar, dass das etwas mit der Einigung bei der Nato-Norderweiterung zu hat, aber es ist wahrscheinlich.

Natürlich macht ein derartiges Zugeständnis gegenüber Erdoğan Bauchschmerzen, besonders wenn die türkische Regierung in dieser Krisenzeit die Einstimmigkeitsregel ausnutzt, um eigene Forderungen durchzudrücken. Aber das Treffen in Madrid war zu wichtig und konnte sich lange, lähmende Gespräche mit der Türkei eigentlich nicht leisten. Für den türkischen Präsidenten lief der Gipfel nicht schlecht: Er stand im Mittelpunkt, wurde von allen Staats- und Regierungschefs öffentlichkeitswirksam umgarnt und er bekam am Ende noch einen Dank von Joe Biden für seine Kompromissbereitschaft.

Geschlossen gegen Putin

Schließlich musste die Nato bei ihrem ersten Gipfel seit Beginn von Putins Krieg ihre Sicherheitsstrategie anpassen. Man sehe eine "Ära des strategischen Wettbewerbs", sagte Stoltenberg am Donnerstag. Damit ist der Konflikt mit Russland, aber auch der Wettbewerb mit China gemeint.

Auf diese Herausforderungen will die Nato wie folgt reagieren:

  • Bündnisse aufbauen

Die Nato möchte eine Allianz von Demokratie-nahen Staaten schmieden. Zu dem Kreis der Partner gehören Georgien, die künftigen Mitglieder Finnland und Schweden sowie die Europäische Union ebenso wie die indo-pazifischen Staaten Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea. "China ist nicht unser Gegner", betont Stoltenberg. Die Allianz verfolge dennoch die Aufrüstung Chinas sowie die Bedrohung von Taiwan skeptisch. Die Nato strebe "ein globales System basierend auf Werten anstatt Gewalt" an.

Besonders mit Blick auf die Volksrepublik gibt es in der Nato unterschiedliche Auffassungen. US-Präsident Joe Biden trat in Madrid für einen härteren Kurs gegenüber China ein, die europäischen Mitglieder wollten keine zu harten Formulierungen im strategischen Konzept gegenüber Peking haben. Schließlich ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von Staaten wie Deutschland von China noch viel größer als die von Russland.

  • Stärkung der Nato-Ostflanke

Die Staats- und Regierungschefs beschlossen, künftig mehr als 300.000 Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft zu halten, die Nato-Präsenz an der Ostflanke massiv auszubauen und das Verfahren für die Aufnahme der bislang neutralen Länder Schweden und Finnland zu starten.

Es sind Entscheidungen, die im absoluten Gegensatz zu dem stehen, was Putin eigentlich erreichen wollte. Noch Ende vergangenen Jahres hatte der Kremlchef der Nato einen Vorschlag für neue Sicherheitsvereinbarungen unterbreitet. Konkret wollte er unter anderem, dass die Nato den Rückzug von Streitkräften aus östlichen Bündnisstaaten einleitet und von einer erneuten Erweiterung absieht.

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Statt auf Gesprächsangebote des Westens einzugehen, ließ Putin dann allerdings die Ukraine angreifen. Seitdem läuft ein Krieg, der die Welt verändert hat und die Alliierten zusammenschweißt. "Falls Wladimir Putin gehofft hat, als Resultat seiner unprovozierten, illegalen Invasion in die Ukraine weniger Nato an seiner westlichen Front zu bekommen, lag er komplett falsch. Er bekommt mehr Nato", sagte der britische Premierminister Boris Johnson in Madrid. Biden äußerte sich mit Blick auf die lange Neutralität des russischen Nachbarlandes Finnland ähnlich: "Putin wollte die Finnlandisierung Europas. Er wird die Natoisierung Europas bekommen."

  • Unterstützung für die Ukraine

Die Ukraine soll auch weiterhin militärisch gegen Russland unterstützt werden. Aber es bleibt das Thema, was beim Gipfel vage blieb. Weiterhin unklar ist, ob sich die Nato perspektivisch die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern westlicher Bauart vorstellen kann. Zwar verkündeten Deutschland und die Niederlande eine Lieferung von sechs weiteren Panzerhaubitzen 2000, aber angesichts der militärischen Lage in der Ukraine ist eigentlich allen klar: Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat Kreisen zufolge in Madrid über eine politisch brenzlige Lieferung von Leopard-Kampfpanzern aus Spanien an die ukrainische Armee gesprochen. Die zuvor von Medien berichteten Überlegungen waren Thema bei einem Treffen Lambrechts mit ihrer Amtskollegin Margarita Robles. In einem Interview der spanischen Zeitung "El Mundo" wurde Lambrecht auf Berichte angesprochen, wonach Deutschland ein Veto gegen eine größere Lieferung von Militärgütern durch Spanien an die Ukraine eingelegt habe. Lambrecht sagte dazu: "Die Pressemeldungen sind mir bekannt, ein Antrag der spanischen Regierung dazu aber nicht."

Damit wird das Thema weiter aufgeschoben – auch, weil es in der Nato offenbar unterschiedliche Vorstellungen gibt, wie weit die Unterstützung für die Ukraine reichen sollte, um keinen großen Krieg mit Russland zu riskieren.

Drei Signale an Putin

Am Ende des dreitägigen Gipfels wird deutlich, dass die Nato drei Signale, vor allem in Richtung Moskau senden will:

  • Die Allianz erweitert sich und wird mit Schweden und Finnland Staaten aufnehmen, die geografisch nah an Russland sind.
  • Die Nato beweist langen Atem bei der militärischen Unterstützung der Ukraine und möchte auch weiterhin die staatliche Souveränität des Landes wahren.
  • Sie bereitet sich auf einen möglichen Angriff durch Russland an der Ostflanke vor. Die Mitgliedsstaaten erhöhen ihre Rüstungsausgaben, um verteidigungsbereit zu sein.

Letztlich waren die Beschlüsse in Madrid die nötige Reaktion der Nato auf eine sich verändernde sicherheitspolitische Lage. Viele der alten Probleme bleiben – zum Beispiel mit der Türkei –, aber das Verteidigungsbündnis hat gezeigt, dass es in der aktuellen Lage Prioritäten setzen kann. Der nächste Gipfel wird im Jahr 2023 in Litauen stattfinden. Auch das ist eine Botschaft an Wladimir Putin.

Verwendete Quellen
  • Eindrücke vom Nato-Gipfel in Madrid
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und rtr
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