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Schweden und Finnland | Nato-Einigung mit Erdoğan schlug ein wie eine Bombe


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Nato-Einigung mit Erdoğan
Es schlug ein wie eine Bombe

Von Patrick Diekmann, Madrid

Aktualisiert am 29.06.2022Lesedauer: 6 Min.
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Recep Tayyip Erdogan mit Nato-Generalsekretär Stoltenberg (2.v.l.) und dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö: Durchbruch erzielt. (Quelle: reuters)
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Recep Tayyip Erdoğan hat seine Blockade aufgegeben, Schweden und Finnland werden der Nato beitreten. Doch der Preis dafür war sehr hoch.

Die Zeit der Selbstbeschäftigung ist vorbei – das zumindest ist wohl die gute Nachricht für die Nato bei ihrem Gipfel in Madrid. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seine Blockade aufgegeben, Schweden und Finnland werden der Nato beitreten – dieser historische Tag ist nun zum Greifen nah. Damit kann sich das transatlantische Bündnis nun auf das aktuell größte Problem für die globale Sicherheit konzentrieren: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

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Doch es bleiben Bauchschmerzen nach der Einigung, die am Dienstag in der spanischen Hauptstadt einschlug wie eine Bombe. Erdoğan hat die Nato in Geiselhaft genommen und am Ende all die Zugeständnisse erhalten, die er zuvor gefordert hatte. Dass diese Erpressung erfolgreich war, könnte dem Militärbündnis mittelfristig auf die Füße fallen. Ein Mitgliedsland hat trotz der aktuellen fundamentalen Krise sein Vetorecht genutzt, um eigene Interessen durchzusetzen. Dieses katastrophale Signal könnte nun Schule machen.

Erdoğan wird auch nach dem Gipfel eine tickende Zeitbombe für die Nato bleiben. Der türkische Präsident war geduldig und hat auf den Moment gewartet, an dem die restlichen Partner seine Zustimmung dringend brauchen. Nun hat er seine Chance genutzt, um sich einen Freifahrtschein für die Dinge zu holen, für die ihn Teile des Westens in den vergangenen zehn Jahren abgestraft haben. Die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato wurde auch mit der Abkehr von Werten erkauft, die man gegen Putin eigentlich zu verteidigen versucht.

Erdoğan macht keine Kompromisse

Zunächst sah es am Dienstag nicht nach einer Einigung aus, die Gesichter aller Beteiligten waren bei den Verhandlungen des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg mit Finnland, Schweden und der Türkei wie versteinert. Die Gespräche mussten verlängert werden, zunächst sprach nichts dafür, dass eine schnelle Einigung zu erwarten war. Immerhin hatte sich die türkische Führung schon im Vorfeld des Treffens in Madrid ziemlich kompromisslos gezeigt.

Wenige Stunden vor dem Beginn der Verhandlungen saß eine Gruppe von türkischen Pressevertretern auf dem Balkon im zweiten Stock des Pressezentrums auf dem Gelände des Nato-Gipfels. Sie standen an diesem Tag besonders im Mittelpunkt, schließlich wollten viele internationale Kolleginnen und Kollegen wissen, wie ernst es Erdoğan mit der Blockade meint und ob er überhaupt umzustimmen sei.

Die türkische Führung ging in den vergangenen Jahren massiv gegen kritische Berichterstattung in den Medien vor, und so zeigen die Pressevertreter in Madrid auch kaum kritische Distanz zu "ihrem Präsidenten". Sie übernehmen außerdem in vielen Teilen die Narrative der türkischen Regierung – immer wieder fiel in den Gesprächen das Wort "Terroristen".

Ein türkischer Reporter in der Runde erklärte, dass er schon seit mehr als sieben Jahren nah an Erdoğan dran sei und über ihn berichte. Auf die Frage, ob der türkische Präsident einlenken werde, antwortete er: "Nur, wenn die Nato-Staaten gegen terroristische Organisationen vorgehen." Das sei nicht verhandelbar.

Finnland und Schweden werden der Nato beitreten

Mit seiner Einschätzung sollte er recht behalten. Umso überraschender kam es für viele Journalistinnen und Journalisten in Madrid, als um 20.10 Uhr im kleinen Pressekonferenzraum 14 plötzlich Flaggen aufgestellt und die Mikrofone gerichtet wurden. Wenige Minuten später erschien Jens Stoltenberg mit Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson, dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö und Erdoğan.

Viele Menschen mit Kameras, ein kleiner Raum, die Luft war stickig. "Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir jetzt ein Abkommen haben", sagte Nato-Generalsekretär Stoltenberg. "Morgen werden die Staats- und Regierungschefs der Alliierten beschließen, Finnland und Schweden einzuladen, der Nato beizutreten."

Ein historischer Moment, der mit einer gewissen Verwirrung im Raum einherging, denn als die Außenminister und die Außenministerin der drei Länder ihre Stifte zückten, wusste zunächst kaum jemand, welches Dokument dort auf der Bühne unterschrieben wurde. Wenig später machte Stoltenberg klar: Es wurde eine Absichtserklärung unterzeichnet, die auf die türkischen Vorbehalte eingehe.

Ankara kassiert einen hohen Preis

Erdoğan hat dem Nato-Beitritt von Finnland und Schweden zugestimmt. Aber zu welchem Preis? Ankara feierte, dass die Türkei alles "bekommen hat, was sie wollte".

In dem von den drei Staaten unterschriebenen Memorandum heißt es:

  • Im Kampf gegen den Terrorismus verpflichten sich Finnland und Schweden, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die syrische Kurdenmiliz YPG/PYD und Anhänger der Gülen-Bewegung nicht zu unterstützen.
  • Schweden, Finnland und die Türkei vereinbaren eine engere Zusammenarbeit, um die Aktivität von Terrororganisationen zu bekämpfen.
    https://twitter.com/ragipsoylu/status/1541856195257966592
  • Finnland und Schweden bestätigen, dass die PKK eine verbotene Terrororganisation ist. Beide Länder sollen die Finanzierungs- und Rekrutierungsaktivitäten der Organisation in ihren Ländern unterbinden.
  • Finnland und Schweden möchten ihre innerstaatlichen Gesetze im Kampf gegen Terror verschärfen.
  • Das Waffenembargo von Finnland und Schweden gegen die Türkei wird beendet.
  • Finnland, Schweden und die Türkei verpflichten sich, gegen Terrorpropaganda und Desinformation vorzugehen.
  • Menschen, die in der Türkei unter Terrorverdacht stehen, sollen "zügig" von Finnland und Schweden abgeschoben werden. Ein entsprechendes Abkommen soll vorbereitet werden. Die Abschiebungen sollen im Einklang mit dem Europäischen Auslieferungsabkommen stehen.
  • Zuvor hatte die Türkei in dem Streit schon durchgesetzt, dass sie im Nato-Englisch nicht mehr "Turkey" genannt wird wie der Truthahn, sondern "Türkiye", was der offizielle Landesname ist.

Stoltenberg zeigte sich erleichtert. "Heute haben wir uns getroffen, diskutiert und eine gute Lösung gefunden", sagte er nach dem mehr als dreistündigen Treffen. Der Nato-Beitritt der beiden nordischen Länder werde die komplette Sicherheitssituation in der Ostseeregion verändern. "Dies wird die Nato stärken und auch Finnland und Schweden stärken."

Positiv an diesem Deal ist, dass in der Tat alle Parteien etwas gewonnen haben. Finnland und Schweden stärken mit dem Beitritt ihr Sicherheitsempfinden, das transatlantische Bündnis hat zwei starke Partner gewonnen und Erdoğan hat für sein Land die aufgeführten Zugeständnisse bekommen.

In der Nato wird das als wichtige Botschaft gegenüber Putin gefeiert, aber aus russischer Perspektive gehörten die beiden Länder durch ihre EU-Mitgliedschaft ohnehin schon in die Ecke der Nato. Bislang fielen die Reaktionen aus Moskau deshalb eher gelassen aus.

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Vereinbarung ist keine "gute Lösung"

Aber die Einigung mit Erdoğan hat auch zahlreiche Schattenseiten, die in der gegenwärtigen Partystimmung in Madrid teilweise vergessen werden. In den vergangenen zehn Jahren gab es immer wieder Konflikte des Westens mit dem türkischen Präsidenten. Diese werden nun mit dem Abkommen auf dem Nato-Gipfel teilweise relativiert.

Drei Beispiele:

  • Das Waffenembargo gegen die Türkei gibt es, weil Erdoğan im Jahr 2018 einen Angriffskrieg gegen syrische Kurden begann. Im Eindruck der türkischen Panzer aus deutscher Produktion, die in Richtung Afrin rollten, verhängten einige EU-Staaten Sanktionen. Nun plant die Türkei wieder einen Angriff auf Kurden in der Region und das Waffenembargo soll aufgehoben werden.
  • Besonders der Umgang mit dem Thema Terrorismus ist in der Türkei nicht einfach. Nach dem Putschversuch 2016 werden Anhänger der Gülen-Bewegung verfolgt. Beweise für ihre Schuld legte die türkische Regierung nicht vor. Aber es war der Beginn einer Verfolgungswelle im Land gegen angebliche Gülen-Anhänger, die oft unschuldig ins Fadenkreuz der Justiz gerieten. Erdoğan nutzte den Kampf gegen den Terror auch, um Kritiker mundtot zu machen.
  • Natürlich arbeitet die türkische Führung stets mit Desinformation. Journalisten und Journalistinnen, die wahrheitsgemäß und kritisch berichteten, sitzen im Gefängnis – oft aufgrund des Vorwurfs der Terrorpropaganda.

Erdoğan hat seine Machtposition genutzt, um den Spieß umzudrehen. Das ist gefährlich für die Nato, weil all diese Punkte Indikatoren der demokratisch-freiheitlichen Werte sind. Das Militärbündnis will international für diese Werte werben, aber das funktioniert nur, wenn es sie nicht nur gegenüber Russland und China verteidigt, sondern auch gegenüber Erdoğan.

Die geostrategischen Vorteile dieses Abkommens waren diesmal wichtiger als die Werte, und das sendet ein Signal der Doppelmoral in die Welt, welches in Moskau immer gerne für die eigene Propaganda genutzt wird. Die Leidtragenden in Nordsyrien werden wahrscheinlich die Kurden sein – die Speerspitze gegen die Terrormiliz IS. Sie stehen nun einem erneuten Angriff durch die Türkei gegenüber. Der Westen wird wahrscheinlich nur zuschauen, um die Einigung nicht zu gefährden.

Somit ist es am Ende wahrscheinlich keine "gute Lösung", so wie Stoltenberg sie verkauft. Das zentrale Problem ist vielmehr, dass die Nato stets eine gemeinsame Wertebasis beschwört, die es zumindest mit Erdoğan schlichtweg nicht gibt. Diese Spannung wird auch in Zukunft für Konflikte sorgen, eine Lösung ist nicht in Sicht. Durch den bevorstehenden Nato-Betritt von Finnland und Schweden erlebte Madrid am Dienstag einen historischen Tag, der aber auch starke Bauchschmerzen hinterlässt.

Verwendete Quellen
  • Bericht vom Nato-Gipfel in Madrid
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