Die Ereignisse der Nacht Bombardierungen in Mariupol – Selenskyj spricht von "Völkermord"
Neue Angriffe auf die Stadt Sumy, laute Rufe nach Importstopps von russischem Öl und weitere Fluchtkorridore: Das geschah in der Nacht im Ukraine-Krieg.
Vor dem ersten Treffen der Außenminister aus Russland und der Ukraine seit Beginn des Kriegs vor zwei Wochen haben Truppen beider Seiten auch in der Nacht zum Donnerstag gegeneinander gekämpft. Die Ukraine meldete den Beschuss mehrerer Großstädte. In der Hauptstadt Kiew gab es wieder Fliegeralarm. Für den Vormittag ist ein neuer Versuch geplant, bei einer regionalen Feuerpause Menschen aus umkämpften Städten zu retten. Die Hoffnung ruht aber vor allem auf dem ersten hochrangigen Gespräch beider Seiten.
Mindestens 35.000 Zivilisten sind am Mittwoch nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus von russischen Truppen belagerten Städten in Sicherheit gebracht worden. In einer Videoansprache sagte Selenskyj in der Nacht zum Donnerstag, dass drei humanitäre Korridore es den Bewohnern ermöglicht hätten, die Städte Sumy im Nordosten, Enerhodar im Südosten und Gebiete um die Hauptstadt Kiew zu verlassen.
Selenskyj verurteilt Angriff – Russland dementiert
Nach dem Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in der Hafenstadt Mariupol wirft Selenskyj Russland Völkermord vor. Die Bombardierung sei "ein Beweis dafür, dass ein Völkermord an den Ukrainern stattfindet", sagt Selenskyj in einer Fernsehansprache. "Was ist das für ein Land, die Russische Föderation, das Angst vor Krankenhäusern hat, Angst vor Entbindungskliniken hat, und sie zerstört?" Der Sprecher des Kremls, Dmitri Peskow, reagierte auf Anfrage der Nachrichtenagentur Reuters: "Die russischen Streitkräfte schießen nicht auf zivile Ziele."
Russland weist die Vorwürfe der Ukraine, ein Kinderkrankenhaus angegriffen zu haben, zurück. Die Behauptungen seien "Fake News", sagte Dmitri Poljanskii, stellvertretender Abgesandter Russlands bei den Vereinten Nationen. Das Gebäude sei früher eine Entbindungsklinik gewesen, die vom Militär übernommen worden sei und aus der Ukrainer geschossen hätten. "So entstehen Fake News", twitterte er. Nach ukrainischen Angaben hat Russland während einer geplanten Waffenruhe ein Kinderkrankenhaus in der umzingelten Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine bombardiert.
Neue diplomatische Bemühungen
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba ist im türkischen Antalya eingetroffen, wo er mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow Optionen für ein Ende des Kriegs ausloten will. Vermitteln will der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, will in Antalya die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen thematisieren. Die IAEA hat nach eigenen Angaben nicht nur den Kontakt zum Kraftwerk Tschernobyl verloren, sondern auch zum größten ukrainischen Meiler Saporischschja.
Als Bedingung für eine Einstellung der Gefechte fordert Russland, dass sich die Ukraine in ihrer Verfassung für neutral erklärt. Zudem müsse Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch sowie die Separatistengebiete als unabhängig anerkennen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine gewisse Kompromissbereitschaft angedeutet. Auch aus Moskau waren nicht mehr alle Maximalforderungen zu hören.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befürchtet trotzdem, dass die Brutalität der russischen Kriegsführung noch zunehmen wird. "Es gibt leider keine Anzeichen dafür, dass dieser Krieg in kurzer Zeit zu Ende geht", sagte er in einem Podcast-Gespräch der Bertelsmann Stiftung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will die Lage am Abend mit den Staats- und Regierungschefs der anderen 26 EU-Staaten bei einem Gipfel in Versailles bei Paris beraten.
Das Kriegsgeschehen
Von 8 Uhr an deutscher Zeit ist nach ukrainischen Angaben ein neuer Versuch vorgesehen, über drei Fluchtkorridore Menschen aus Städten der Region Sumy im Nordosten in die weiter westlich liegende Stadt Poltawa zu retten. Dafür sei regional eine Waffenruhe geplant, teilte die Gebietsverwaltung mit. Aus der umzingelten Großstadt Sumy selbst waren am Dienstag und Mittwoch fast 50.000 Menschen entkommen.
Um die Evakuierung der südukrainischen Hafenstadt Mariupol wird seit Tagen gerungen. Dort löste am Mittwoch ein Angriff auf eine Geburtsklinik Entsetzen aus – auch bei UN-Generalsekretär António Guterres, der ein Ende der "sinnlosen Gewalt" forderte.
Das Kriegsgeschehen in der Nacht blieb unübersichtlich, zumal Angaben der Kriegsparteien nicht unabhängig zu überprüfen sind. Ukrainische Behörden und die Armee meldeten russische Angriffe in der Umgebung von Sumy und die Millionenstadt Charkiw sowie versuchte Vorstöße auf die Hauptstadt Kiew und die südukrainische Stadt Mykolajiw. Doch habe man die russische Offensive gebremst. Die prorussischen Separatisten im Gebiet Luhansk sprachen ihrerseits von Beschuss durch die Ukraine, wie die russische Agentur Tass meldete.
Ukraine hofft auf weitere deutsche Waffenlieferungen
Die Ukraine hofft auf weitere Waffenlieferungen aus Deutschland, wie Botschafter Andrij Melnyk der Deutschen Presse-Agentur sagte. Die deutsche Rüstungsindustrie habe dem Verteidigungsministerium Vorschläge gemacht. "Wir erwarten eine positive Entscheidung."
Trotz einer klaren Absage der US-Regierung gibt Melnyk auch die Hoffnung auf Lieferung von MiG-29-Kampfjets nicht auf. Polen hatte sich bereit erklärt, die Flugzeuge den USA zur Verfügung zu stellen, mit dem Ziel, sie letztlich in die Ukraine zu bringen. Die US-Regierung lehnt dies ab, weil sie eine Verwicklung der Nato in den Krieg befürchtet. Das US-Repräsentantenhaus billigte aber in der Nacht 13,6 Milliarden Dollar (12,3 Milliarden Euro) Hilfen für die Ukraine.
"Für die Freiheit frieren"
Botschafter Melnyk erhöhte auch den Druck auf Deutschland, einem Importstopp für russische Energielieferungen zuzustimmen. Angesichts der hohen Zahl der Kriegsopfer unter der Zivilbevölkerung sei das Nein dazu "moralisch nicht tragbar". Die Bundesregierung lehnt dies ab, weil Deutschland schlicht zu abhängig von der Energie aus Russland sei und wirtschaftliche Verwerfungen drohen könnten. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck meinte jedoch in der ARD: "Wir können auch einmal frieren für die Freiheit."
Schon ohne den Importstopp muss sich Deutschland als Folge des Kriegs auf eine Rezession und noch stärker steigende Preise einstellen. Das sagte der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Angesichts der Belastungen solle Deutschland die Schuldenbremse für die nächsten Jahre aufgeben.
Geflüchtete Lehrer für Flüchtlingskinder
Eine Riesenaufgabe kommt auf Deutschland wie auch auf andere EU-Länder zu – unter anderem bei der Versorgung von Flüchtlingen aus der Ukraine. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar sind nach UN-Angaben mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, mehr als 80.000 Kriegsflüchtlinge wurden in Deutschland registriert.
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Um die Kinder in Schulen und Kitas zu betreuen, will Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer aus der Ukraine einsetzen, wie sie der Funke Mediengruppe sagte. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, sagte Geflüchteten im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland unbürokratische Unterstützung bei der Arbeitssuche zu. Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe verzeichnet zudem eine sehr hohe Spendenbereitschaft der Deutschen – mehr als 76 Millionen Euro seien bisher verbucht worden.
Was heute wichtig wird
Das russisch-ukrainische Außenministertreffen in Antalya soll am Vormittag beginnen, der informelle EU-Gipfel in Versailles am Nachmittag (17.30 Uhr). Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) reist zu Gesprächen über Flüchtlinge nach Polen. Deutsche Bischöfe wollen auf ihrer Frühjahrstagung eine Erklärung zum Ukraine-Krieg verabschieden. Die Flüchtlingskinder werden bei der Kultusministerkonferenz in Lübeck Thema sein.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP