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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europas Land der Ungeimpften "Sie bekämpfen das Virus mit Hausmitteln"
Höchste Covid-Todesrate und niedrigste Impfquote in der EU: Bulgarien stellt gleich zwei traurige Rekorde auf. Die vergangenen Monate sind ein Lehrstück über Misstrauen, Desinformation und politische Brandstifter.
"Es gibt Hoffnung und Licht – das Ende der fünften Welle des Coronavirus ist sichtbar." Dieses Signal sandte eine Gesundheitsexpertin kürzlich an die bulgarische Bevölkerung. Dabei gibt es nur ein Problem: Die Aussage von Iva Hristova, Direktorin des Nationalen Zentrums für Infektionskrankheiten, widerspricht inmitten der verheerenden Omikron-Welle wichtigen Fakten.
Das osteuropäische Land hat EU-weit die höchste Covid-19-Todesrate, 2021 starben dort so viele Menschen wie seit mehr als 100 Jahren nicht mehr. Und die Übersterblichkeit ist im europaweiten Vergleich eine der höchsten. Wie passt das zusammen?
Anlass für Hristovas Aussagen ist wohl, dass die Infektionszahlen langsam sinken, deshalb wagt sie Optimismus. Doch die hohen Werte der vergangenen Wochen spiegeln sich immer noch in den Krankenhauseinweisungen und Todesfällen wider.
Bulgarien ist Schlusslicht bei EU-Impfungen
"Es besteht die Gefahr, dass Bulgarien zum Covid-Getto wird", warnte die renommierte bulgarische Virologin Radka Argirowa im Dezember. Dann traf Omikron das Land mit voller Wucht. Derzeit werden landesweit mehr als 6.000 Covid-Patientinnen und -Patienten im Krankenhaus behandelt.
Warum die Lage so schlecht ist, liegt auf der Hand: Bulgarien ist das Schlusslicht bei den Corona-Impfungen im EU-Vergleich. Nicht einmal 30 Prozent haben zwei Dosen erhalten, lediglich acht Prozent sind geboostert (Stand: 11. Februar). Umfragen zufolge ist die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin nicht bereit, sich impfen zu lassen.
Das hat Thorsten Geißler zufolge mehrere Gründe. Der Experte leitet das Auslandsbüro Bulgarien der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Hauptstadt Sofia.
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1. Fehlende Solidarität, kein Vertrauen
Der Solidaritätsgedanke überzeugt die Bürgerinnen und Bürger nicht, sich impfen zu lassen. "Bulgarien wurde vier Jahrzehnte von Kommunisten regiert, die Menschen misstrauten der Regierung und den staatlichen Institutionen", sagt Geißler. Diese Skepsis und das Misstrauen gegenüber allem, was 'von oben kommt' bestehe bis heute – in allen postsozialistischen Staaten.
Aus diesem Grund verhallten Appelle an Solidarität. "Während der sozialistischen Zeit stand dieser Begriff für unbezahlte Samstagsarbeit und erzwungene Solidaritätsspenden", so der Experte. Deshalb sei dieser Begriff bis heute negativ besetzt. Zudem habe Warenknappheit geherrscht: "Jeder war darauf aus, für sich selbst oder seine Familie etwas zu 'ergattern', war auf seinen eigenen Vorteil bedacht", sagt Geißler.
Das habe die Mentalität über Generationen geprägt und der Appell, sich impfen zu lassen, um auch andere zu schützen, finde deshalb wenig Gehör. Dem Experten zufolge witzeln manche Bulgarinnen und Bulgaren: "Um die Impfquote zu steigern, müsste die Regierung sie verbieten, dann würden viele Menschen versuchen, sich heimlich und illegal impfen zu lassen."
In der öffentlichen Kommunikation mangle es auch an Empathie. In den Medien werden dem Experten zufolge keine emotionalen Bilder gezeigt. "Es werden keine Aufnahmen von Intensivstationen, Menschen, die einen Angehörigen verloren haben, Einzelschicksalen oder von überarbeitetem Pflegepersonal ausgestrahlt, die die Gefühle der Bevölkerung anstoßen könnten", so der Experte. Zahlen oder trockene Statistiken überzeugten nicht.
2. Verschwörungsideologien und Desinformation
Auch Verschwörungstheorien und Falschinformationen sind dem Experten zufolge für die wenigen Impfungen verantwortlich. Bulgarinnen und Bulgaren vertrauten in erster Linie dem Internet und den sozialen Medien. "Dort kursieren die abenteuerlichsten Verschwörungsideologien, Desinformationen und Mythen", sagt Geißler.
In manchen Fernsehsendern kämen immer wieder Impfgegner zu Wort. "Die verbreiten mit ihren kruden und emotional vorgetragenen Behauptungen Angst und erreichen damit mehr Menschen als Wissenschaftler, die nüchtern und sachlich argumentieren", so der Experte. Trotz der hohen Mortalität gebe es praktisch keine Forderungen nach einer Verschärfung der Maßnahmen. Dabei spiele auch die Furcht vor wirtschaftlichen Schäden eine Rolle.
Aufgrund der Desinformationen versuchten Geißler zufolge nicht wenige Menschen, Corona mit Hausmitteln selbst zu bekämpfen, etwa mit "Rakya", einem in Bulgarien sehr beliebten Schnaps. "Viele begeben sich auch zu spät in ärztliche Behandlung, selbst wenn sie einen schweren Verlauf haben." Zudem hielten sich viele Menschen, insbesondere jüngere, für "unverwundbar", das Risikobewusstsein sei gering.
3. Mangelhafte Impfkampagne
Dass die Bevölkerung nicht ausreichend aufgeklärt wird, liegt dem Experten zufolge auch daran, dass es keine frühzeitige und intensive Impfkampagne gegeben habe. Impfstoff habe es hingegen früh gegeben: "Wer sich impfen lassen wollte, konnte dies problemlos tun", so der Experte. "Auch die Organisation in den Impfzentren war und ist sehr gut." Impfangebote gibt es unter anderem in Parkanlagen, Einkaufszentren, Firmen und Schulen – aber sie werden nicht angenommen. Gegengesteuert wird kaum.
Einen finanziellen Anreiz gibt es zumindest für Menschen über 65: Seit Januar erhalten Seniorinnen und Senioren jeweils 75 Lewa, das sind gut 38 Euro, wenn sie sich impfen lassen. Das Prämienprogramm soll bis Ende Juni laufen. "Das ist für einen bulgarischen Rentner sehr viel Geld", sagt Experte Geißler. Dennoch sind bislang erst rund 37 Prozent der Menschen über 60 geimpft – das ist der niedrigste Wert in der EU.
Die Wohltätigkeitsorganisation Open Society Foundations (OSF) kritisierte die bulgarische Regierung laut "Guardian" scharf für den Umgang mit vulnerablen Gruppen. Die vorherige Regierung unter Boyko Borisov habe Tausende von vermeidbaren Todesfällen in Kauf genommen. Der Hintergrund: Im Februar 2021, als Impfstoff noch Mangelware war, hatte die ganze Bevölkerung bereits Zugang zu den Impfungen. Ältere oder vorerkrankte Menschen wurden nicht priorisiert.
4. Politische Spannungen
Ein weiterer Grund für die niedrige Impfquote sind die politischen Spannungen in der aktuellen bulgarischen Regierung, die aus vier Parteien besteht. Zweimal scheiterte die Regierungsbildung, im November 2021 gab es die dritte Parlamentswahl, aus der Kiril Petkow als neuer Ministerpräsident hervorging. Besonders eine Partei hatte Erfolg – und fällt aus der Reihe: Wasraschdane, zu Deutsch: Wiedergeburt.
Dabei handelt es sich um eine 2014 gegründete nationalistische Partei, die sich für ein von der EU unabhängiges Bulgarien ausspricht. Zudem kritisiert sie die Corona-Maßnahmen, unter anderem den Grünen Pass, scharf. Vor wenigen Wochen kam es zu Protesten vor dem Parlament, initiiert von Wasraschdane. Impfgegner wollten in das Gebäude eindringen, es gab mehrere Verletzte.
Die Partei hat die Pandemie für sich ausgenutzt: "Nicht zuletzt durch die Anti-Impfkampagne und die Kritik an den Corona-Maßnahmen haben sie den Sprung ins Parlament geschafft", so Experte Geißler. Zuvor hatte die Partei nie die Vier-Prozent-Hürde geknackt. Zustimmung kam vor allem von Corona-Skeptikern.
Parteichef Kostadin Kostadinow hatte den Impfstoff mehrmals als "experimentelle Flüssigkeit" bezeichnet, später relativierte er seine Aussagen: Jeder solle frei wählen, ob er sich impfen lasse oder nicht. Rund 30 Prozent der Parteimitglieder sollen inzwischen geimpft sein.
Mangelhafte Umsetzung der Maßnahmen
Derweil erörtert die Regierung Lockerungen der Corona-Maßnahmen, möglicherweise ab März. Auf Druck der Proteste sollen die Zertifikate für den Zutritt zu Gastronomie und Einkaufszentren wegfallen. Dabei werden Corona-Regeln ohnehin oft nicht konsequent umgesetzt, sagt Experte Geißler. "Ungeimpfte werden immer ein Restaurant finden, in dem sie bedient werden." Entweder werde der Impfpass nicht verlangt oder das Personal werfe nur einen flüchtigen Blick darauf. "Die Restaurants sind gut gefüllt, die Gastronomen wollen Geld verdienen", so der Experte.
Vor Einkaufszentren seien die Kontrollen strenger. Davor seien Testzentren eingerichtet worden, nach einem negativen Schnelltest habe man Zutritt. "Die Schlangen sind oft lang, obwohl ein Test etwa 7,50 Euro kostet", sagt Geißler. "Überwiegend jüngere Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, es sich aber leisten können, machen davon Gebrauch."
Völlig aussichtslos ist die Situation in Bulgarien nicht, Experte Geißler ist aber skeptisch: "Mit einer massiven Impfkampagne rechne ich nicht mehr, aber selbst sie könnte das Ruder nicht schnell herumreißen, da das Vakzin erst in etlichen Wochen wirken würde."
Hoffnung und Licht, von denen die Gesundheitsexpertin Iva Hristova spricht, sind in Europas Land der Ungeimpften möglicherweise noch nicht so nah wie erhofft.
- Interview mit Thorsten Geißler, Leiter des Auslandsbüros Bulgarien der Konrad-Adenauer-Stiftung
- Nachrichtenagentur dpa
- Ceta: Die Zahl der Krankenhauseinweisungen mit Covid nimmt zu (bulgarisch)
- Deutsche Welle: Bulgarien: Kampf gegen Corona aussichtslos?
- Our World in Data
- Eurostat: Übersterblichkeit
- Covid-Informationsportal der bulgarischen Regierung
- Guardian: "Putting lives at risk": Bulgaria referred to rights body over Covid vaccine rollout (englisch)