Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wirtschaftskrise und Mutationen Impfstoffverteilung gefährdet die ganze Welt
Während in England schon gefeiert wird, wütet die Pandemie in anderen Teilen der Welt massiv. Das könnte auch zum Problem der reichen Länder werden.
Der Kontrast könnte stärker kaum sein: Während die Impfkampagne in Deutschland richtig Fahrt aufnimmt und sich in Großbritannien Tausende bei Partys drängen, gerät die Pandemie in anderen Regionen der Welt gerade außer Kontrolle. Es sind vor allem die armen Länder des globalen Südens, die nun in größte Schwierigkeiten geraten.
Dort ist der Impfstoff so knapp, dass selbst die am stärksten gefährdeten Gruppen kaum geimpft werden können. Das ist nicht allein für die armen Länder eine Gefahr: Experten warnen vor der Entstehung neuer Varianten, die die weltweite Pandemiebekämpfung gefährden könnten.
Dramatische Lage in Indien
In Zahlen drückt sich die Impf-Ungerechtigkeit so aus: Über die Hälfte der bislang ausgelieferten Impfstoffdosen ging an Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen. Die machen aber lediglich 16 Prozent der Weltbevölkerung aus, wie die Duke Universität im US-Staat North Carolina errechnet hat. In Ländern mit geringem bis sehr kleinem Pro-Kopf-Einkommen, in denen rund die Hälfte aller Menschen leben, kamen nur knapp 18 Prozent der produzierten Dosen an.
- Tagesanbruch: Seuche außer Kontrolle
Am deutlichsten macht sich das derzeit in Indien bemerkbar. Das Land mit über 1,3 Milliarden Einwohnern erlebt derzeit eine beispiellose Infektionswelle. Pro Tag werden im Schnitt weit über 300.000 Neuinfektionen erfasst, etwa 3.500 Menschen sterben infolge einer Covid-19-Erkrankung – und das sind nur die bekannten Fälle. Wegen der vielen Erkrankten geht den Krankenhäusern der medizinische Sauerstoff aus. Die Gesundheitsversorgung ist am Limit.
Viele Impfungen in kurzer Zeit könnten die Lage verbessern – und Indien hat dafür eigentlich die Voraussetzungen. Das Land gilt wegen seiner großen Impfstoffindustrie als "Apotheke der Welt". Doch rund die Hälfte der Produktion wanderte bislang ins Ausland. Die Kapazitäten würden also größere Mengen für das eigene Gesundheitswesen zulassen. Doch bis Anfang Mai hat Indien lediglich rund neun Prozent seiner Bevölkerung erstgeimpft, nur zwei Prozent haben einen vollständigen Schutz.
Vor gut einem Monat zog die Regierung in Neu-Delhi deshalb die Reißleine. Rund 100 Millionen Impfstoffdosen, die für den Export im April und Mai gedacht waren, wurden zurückgehalten. Die Regierung sprach von einer "vorübergehenden Maßnahme". Die Inlandsnachfrage werde Vorrang haben müssen.
Schlag für Impfkampagne Covax
Die Exportblockade trifft vor allem ärmere Länder. Ein Großteil der zurückgehaltenen Dosen war für die globale Impfkampagne Covax der Vereinten Nationen gedacht. Sie beliefert Länder mit Impfstoff, die kaum Chancen haben, sich über den freien Markt zu versorgen, darunter viele afrikanische Staaten. Das indische Embargo bremst deren ohnehin kleine Impfprogramme nun nochmals aus. Aktuell haben auf dem Kontinent gerade einmal 14 von 1.000 Menschen eine Impfdosis erhalten. In Ghana sind es rund 30, in Uganda noch nicht einmal acht.
Es sind nicht die Lieferengpässe allein, die dafür sorgen, dass die Corona-Impfungen in vielen afrikanischen Ländern bislang nur sporadisch vorgenommen werden. Oft fehlt es an Infrastruktur und medizinischem Personal, um die gelieferten Dosen zeitnah zu den Bedürftigen zu bringen und zu verabreichen. Hinzu kommen Akzeptanzprobleme durch Berichte über Nebenwirkungen, aber auch durch Desinformationskampagnen im Internet, wie Catherine Kyobutungi, Direktorin des "African Population and Health Research Center", der Deutschen Welle erklärte.
Reicher Norden nutzte seine Vorteile aus
Die Hauptgründe für die Knappheit der Ressource Impfstoff aber sind die strukturelle Benachteiligung der Länder des globalen Südens sowie der Impfnationalismus des Nordens. Ab dem Frühjahr 2020 schlossen die reichen Staaten Abkommen mit den heimischen Pharmakonzernen und -entwicklern und gaben ihnen für die Erforschung von Impfstoffen Milliardenhilfen an die Hand. Im Gegenzug verlangten sie vorrangigen Zugriff auf die Wirkstoffe. Die Folge: Reiche Länder sicherten sich bei ihren Herstellern teils an die 100 Prozent der für das Jahr 2021 geplanten Produktionskapazitäten.
Die Industrienationen nutzten aber auch Handelsschranken, um die Ausfuhr von Impfdosen und Rohstoffen für deren Produktion zu blockieren. Jüngst bekam das auch der deutsche Hersteller Curevac zu spüren. Laut "Spiegel Online" blockiert die US-Regierung per Kriegswirtschaftsdekret die Lieferung bestimmter Vorprodukte und Rohstoffe für die Impfstoffproduktion bei dem Tübinger Unternehmen.
Embed
Mancher Industriestaat plant offenbar, Impfstoff regelrecht zu horten. Kanada etwa hat sich Lieferrechte für zehn Impfdosen pro Einwohner gesichert. Es könnte bei einer Zweifachimpfung also jeden Bürger fünfmal impfen. Großbritannien kommt auf Zusagen für acht Impfdosen pro Einwohner, die Europäische Union auf etwa viereinhalb. Zum Vergleich: Der Libanon zum Beispiel hat aktuell 0,4 Dosen für jeden Einwohner eingekauft, Bangladesch 0,2 und Somalia 0,01.
Globale Solidarität nur in Teilen
Große Hoffnungen wurden in die Impfkampagne Covax gesteckt. Das im Frühjahr 2020 gestartete Programm wird gemeinsam von der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie den globalen Impfinitiativen Gavi und Cepi organisiert. Es soll ärmere Länder mit Corona-Impfstoffen versorgen, reichere Länder sollen dafür Geld geben.
Doch Covax krankt gleich an mehreren Stellen. Die Industrienationen haben sich nicht in dem Maße finanziell beteiligt wie erhofft. Aktuell ist die Initiative zudem durch die Exportblockade Indiens gelähmt, wo der Hauptanteil der Impfdosen für Covax produziert wird. Die Folge: Covax konnte bis Anfang Mai lediglich rund ein Fünftel seiner Lieferzusagen einlösen.
In diesem Zusammenhang drängen weltweit Organisationen auf eine Freigabe der Patente. Die damit verbundene Hoffnung ist, dass auch ärmere Länder so schneller mit Vakzinen versorgt werden können. Doch die Entwickler bremsen aus. Aus Profitgier, kritisieren manche. Die Hersteller selbst verweisen auf die Komplexität der Herstellung der Impfstoffe. Laut ihrer Aussage würden neue Hersteller Jahre brauchen, um Produktionskapazitäten aufzubauen, die den hohen Qualitätsanforderungen genügen.
Unabsehbare Folgen der Impf-Ungleichheit
Bleibt es bei dieser Schieflage und lahmt das Impftempo in den ärmeren Ländern weiter wie bisher, so schlussfolgern die Wissenschaftler der Duke Universität, wird es noch mindestens zwei Jahre dauern, überall auf der Welt einen Großteil der Bevölkerung zu immunisieren. Forscher warnen vor Gefahren, die daraus auch für die reichen Länder entstehen könnten. Während dort in Clubs schon wieder gefeiert und an den Stränden der Urlaub in vollen Zügen genossen wird, droht die Pandemie im globalen Süden weiter zu wüten. Neue Varianten könnten entstehen, die die Pandemie weiter in die Länge ziehen – für die ärmeren wie für die reichen Staaten.
Davor warnt auch der Gründer des Impfstoffentwicklers Biontech, Uğur Şahin. "Wir müssen weltweit eine wirklich hohe Durchimpfungsrate sicherstellen. Sonst ist niemand mehr sicher", sagte Şahin bei einer Expertenrunde am Dienstag. Die Pandemie sei erst dann beendet, wenn die Herdenimmunität weltweit erreicht sei.
Hoher Schaden für die Weltwirtschaft
Denn auch die reichen Staaten könnten unter dem Ungleichgewicht leiden. Die US-Forschungseinrichtung National Bureau of Economic Research (NBER) hat errechnet, dass ein Ungleichgewicht bei der Impfstoffversorgung, wie wir es derzeit erleben, der Weltwirtschaft allein im laufenden Jahr einen Schaden von bis zu 9 Billionen Dollar zufügen könnte – den wegen der Unterbrechung von Lieferketten überwiegend die Industrienationen zu tragen hätten.
Fachleute für die weltweite Corona-Impfkampagne riefen die wohlhabenden Staaten jüngst dazu auf, überzählige Impfstoff-Bestellungen an die ärmeren Staaten abzugeben. Inzwischen hätten sich die reichen Industrieländer insgesamt 1,9 Milliarden Impfdosen mehr gesichert, als sie für eine Herdenimmunität in den eigenen Staaten benötigten, sagte der Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation One, Tom Hart, bei einer Expertenrunde. Eine Analyse zeige, dass zum Ende des Sommers alle G7-Staaten ihre Bedürfnisse erfüllt hätten und dann Lager mit Überkapazitäten aufbauen würden. Aus einem Absichern dürfe kein Horten werde.
"Die nächsten sechs Wochen sind entscheidend", sagte Hart. Vom richtigen Vorgehen hänge ab, ob man die Pandemie in den kommenden sechs Monaten besiegen könne. Der Präsident der Rockefeller-Stiftung, Raj Shah, sagte, die Infektionszahlen seien weltweit auf einem Hoch. "Wir lassen zu, dass ein weltweiter Brutkasten für neue Varianten die ersten Erfolge gefährdet."
- Eigene Recherchen
- National Bureau of Economic Research: The Economic Case for Global Vaccinations
- Wall Street Journal:
- New York Times: As the Virus Ravages Poorer Countries, Rich Nations Are Springing Back to Life
- Vox.com: Poorer countries might not get vaccinated until 2023
- Deutsche Welle: So läuft die Impfkampagne in Afrika
- Nachrichtenagentur dpa