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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hilfe aus der Wissenschaft Warum Island im Kampf gegen Corona so erfolgreich ist
Im Sommer dachte man schon beinahe, die Pandemie besiegt zu haben, dann kam die zweite Welle. Nun sind die Fallzahlen in Island erneut fast bei Null. Wie hat das Land das geschafft?
Von Montag auf Dienstag nur zwei neue Corona-Fälle, keine Covid-Patienten auf der Intensivstation, der letzte Todesfall im Zusammenhang mit der Pandemie schon fast ein Monat her: Was in Deutschland nach ferner Zukunftsmusik klingt, ist in Island bereits Realität. Aktuell gibt es dort 59 aktive Infektionsfälle – die Zahl sank in den letzten Tagen und Wochen und ist nun so niedrig wie seit September nicht mehr. Damals wurde der Inselstaat von einer zweiten Infektionswelle heimgesucht. Doch nun scheint Island die Pandemie wieder im Griff zu haben – mit Hilfe von Wissenschaft und Hightech.
Mit seinen rund 360.000 Einwohnern auf der Insel im Atlantik, fern ab vom europäischen und amerikanischen Festland hat Island theoretisch einen großen Vorteil im Kampf gegen Pandemien. Dass dem in der Realität jedoch nicht unbedingt so ist, zeigte sich schon 1918: Nachdem im Oktober jenes Jahres zwei Schiffe in Reykjavík anlegten, die die sogenannte Spanische Grippe an Bord hatten, breitete sich die Krankheit rasant aus. Innerhalb von sechs Wochen starben um die 500 Menschen, zwei Drittel der Einwohner der Hauptstadt waren infiziert.
Pandemie-Maßnahmen noch vor dem ersten Fall
Danach wollte man besser vorbereitet sein – und war es: Schon Anfang Januar 2020, noch bevor es den erste Corona-Fall gab, wurde der nationale Pandemie-Plan in Kraft gesetzt. Man befürchtete ein ähnliches Szenario wie rund 100 Jahre zuvor: Island ist als Tourismusland abhängig von Einreisenden – diese wurden jedoch plötzlich zur Bedrohung.
Die Befürchtungen bestätigten sich am 28. Februar 2020 – wenngleich es kein Tourist war, bei dem zuerst das Coronavirus nachgewiesen wurde, sondern ein Isländer, der den Erreger vom Skiurlaub in Italien mitgebracht hatte. Innerhalb einer Woche gab es 47 Fälle auf der Insel. Dass diese sofort erkannt wurden, war ein strategischer Erfolg: Schon ab Anfang Februar wurden in der Universitätsklinik Corona-Tests durchgeführt. "Wir entschieden uns von Anfang an für Isolation, Quarantäne und Kontaktverfolgung", sagte der Chefepidemologe des Landes, Þórólfur Guðnason, dem Wissenschaftsjournal "Nature". Doch nur wenig später drohte die Strategie zu scheitern: Bei einigen Hundert Corona-Tests am Tag ging eine der dafür notwendigen Maschinen der Klinik kaputt.
Die isländische Doppelstrategie
Hilfe kam aus der Privatwirtschaft: Das Unternehmen deCODE genetics, das eigentlich auf Humangenetik spezialisiert ist, stieg ein. Der Gründer und Geschäftsführer Kári Stefánsson hatte Anfang März im Radio gehört, dass die WHO die Sterblichkeitsrate bei Corona-Infektionen auf 3,4 Prozent schätzte, erzählte er "Nature". Er konnte die Rechnung jedoch nicht nachvollziehen und beschloss: Es braucht mehr Forschung. Seitdem wird in Island eine Doppelstrategie verfolgt: Das Unternehmen überwacht die Ausbreitung der Pandemie und sammelt so wissenschaftliche Erkenntnisse. Auf dieser Grundlage und unter Ausnutzung der lokalen Gegebenheiten reagieren die Behörden.
Einer der wichtigsten Bestandteile: Bei jedem positiven Test wird die entnommene Virusprobe sequenziert, also das enthaltene Genmaterial analysiert. "Die Sequenzierung der Proben ist der Schlüssel, um den Stand und die Entwicklung der Epidemie zu verfolgen", sagt Gesundheitsministerin Svandís Svavarsdóttir.
Was in Deutschland und anderen Ländern nun angesichts der Virus-Mutationen aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien hastig in die Wege geleitet wird, wird in Island also bereits seit Monaten praktiziert. Mitte März wandelte deCODE eines seiner Zentren zur Humangenforschung zum Corona-Testzentrum um. Nun können 5.000 Proben am Tag verarbeitet werden.
Schnelle Ergebnisse und genaue Untersuchungen
Diese hohe Kapazität ist notwendig: Nach Erkenntnissen aus der Forschung des Unternehmens sind Muskelschmerzen, Kopfschmerzen und Husten die häufigsten Symptome – nicht jedoch Fieber. Zudem waren in der Vergangenheit mehr als die Hälfte der Infizierten zum Testzeitpunkt asymptomatisch. Daher sind die Einwohner dazu aufgerufen, sich schon bei kleinsten Symptomen sofort testen zu lassen. Die Ergebnisse erhalten sie spätestens nach 24 Stunden, häufig aber auch schon nach nur vier bis sechs.
Ist ein Test positiv, starten gleichzeitig zwei Prozesse. Über die Gesundheitsbehörden wird eine Isolation des Infizierten in einer Covid-Ambulanz angeordnet. Hier wird der Gesundheitszustand engmaschig überwacht. Im Labor von deCODE wird die Positiv-Probe auf die enthaltene Virusmenge getestet – diese dient als Indikator für die Ansteckungsgefahr und die erwartbare Schwere des Krankheitsverlaufs. Zudem wird das gefundene Virusmaterial sequenziert. Über den Virenstamm können Rückschlüsse auf die Infektionsquelle gezogen werden und Mutationen werden so sofort erkannt.
463 Virus-Variationen wurden dabei bisher gefunden (Stand: 19.01.2021), darunter 41 Mal die britische Mutation. Das erste Mal wurde sie in Island am 21.12.2020 entdeckt. Damit war der Inselstaat eines der ersten Länder, die Infektionen mit der britischen Mutation außerhalb Großbritanniens meldeten. Innerhalb des Landes hat sich die mutierte Variante jedoch bisher kaum ausgebreitet: Alle Infektionen damit wurden bei Einreisenden direkt an der Grenze entdeckt.
Zweite Welle durch zwei Touristen
Das zeigt: Man hat aus der zweiten Welle im September gelernt. Nachdem das Infektionsgeschehen nach der ersten Welle im März fast zum Erliegen gekommen war, öffnete Island im Juni und Juli schrittweise seine Grenzen für Touristen. Ein Paar erhielt am 10. August bei der Einreise ein positives Testergebnis, hielt sich aber nicht an die Quarantäne-Anordnung. Die folgende Häufung von Fällen ließ sich dank der Sequenzierung von deCODE zurückverfolgen: auf eine Kneipe, die von den Touristen besucht wurde. Wenig später kam es dann zum sprunghaften Anstieg der Infektionen. Seitdem sind Bars und Nachtclubs geschlossen, es gelten strengere Einreisebestimmungen.
Ein erster Corona-Test wird direkt bei der Einreise fällig, dann geht es für fünf Tage in Quarantäne. Danach wird ein zweites Mal getestet. Fazit im November: 20 Prozent der beim ersten Mal negativ Getesteten erhielten beim zweiten Mal ein positives Ergebnis. Bis Mitte Januar war alternativ war auch eine 14-tägige Quarantäne erlaubt. Da diese jedoch teilweise nicht eingehalten wurde, wurde nachbessert, der doppelte Test ist seitdem Pflicht.
Kaum noch Fälle in der Bevölkerung
Dass diese Verschärfung Wirkung zeigt, belegen die aktuellen Zahlen: 37 Neuinfektionen gab es in den letzten sieben Tagen. Davon wurden nur elf innerhalb Islands festgestellt – die restlichen positiven Testergebnisse stammen von Einreisenden. Aufgrund der abnehmenden Zahlen unter den Einwohnern wurden die Maßnahmen im Land am 13. Januar angepasst: Aktuell dürfen sich maximal 20 Menschen versammeln, in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften gilt eine Maskenpflicht. Aber: Theater, Restaurants, Sportstätten und Geschäfte dürfen öffnen, wenn auch mit Beschränkungen bei der Zahl der Anwesenden. Auch Kindergärten, Schulen und Universitäten sind mit Einschränkungen geöffnet. Grund hierfür: Nach Erkenntnissen der Wissenschaftler von deCODE erkranken Kinder deutlich seltener.
Chefepidemologe Þórólfur Guðnason mahnt trotz der Erfolge zur Vorsicht: Dass es immer noch Fälle außerhalb der Quarantänen gebe, zeige, dass das Virus noch im Umlauf ist, sagte er der englischsprachigen Nachrichtenseite "Iceland Review" zufolge bei einer Pressekonferenz am Donnerstag. Am Montag legte er nach: Er habe Bedenken, dass die Menschen sich zu sehr entspannen, und die Fallzahlen dann wieder ansteigen. Die im Vergleich hohen Fallzahlen an der Grenze zeigten, dass sich das Virus im Ausland derzeit schneller verbreite. Gründe, die Beschränkungen noch weiter zu lockern, sehe er daher nicht.
Hoffungsträger Pfizer
Große Hoffnung setzt auch er in die Corona-Impfungen: Þórólfur rechnet angesichts der aktuellen Lage mit einer Herdenimmunität durch genügend Impfungen und dementsprechenden Lockerungen frühestens Mitte des Jahres. Denn bisher sind nur etwa 4.500 Menschen immunisiert – durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation ist Island an die europäische Verteilung der Impfstoffe gebunden. Zugelassen sind daher bisher nur die Mittel von Pfizer/BioNTech und Moderna, und das Land ist ebenso wie Deutschland von den Lieferschwierigkeiten der Hersteller betroffen.
Doch Þórólfur hat ein Ass im Ärmel: Wieder könnte die Wissenschaft Island helfen. Das Land steht mit Pfizer in Verhandlungen über die Durchführung einer Studie im Land. So könnten die Isländer schnell Zugang zu mehr Impfstoff des Pharma-Konzerns erhalten – und Pfizer im Gegenzug Erkenntnisse zur Wirksamkeit des Präparats und der notwendigen Impfquote für das Erreichen der angestrebten Herdenimmunität. Island eignet sich für so eine solche Studie besonders gut – aufgrund der geringen Einwohnerzahl und der Abgeschiedenheit, aber auch aufgrund der bereits zahlreich vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung. Die isländische Doppelstrategie in der Pandemiebekämpfung könnte sich somit auch hier auszahlen.
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagentur AFP
- "Nature": "How Iceland hammered COVID with science"
- "Iceland Review": "Reykjavík Weekend Gatherings Reported to Police"
- "Iceland Review": "COVID-19 in Iceland: Authorities Preach Patience Toward Vaccines and Restrictions"
- Isländisches Gesundheitsministerium: "Information on COVID-19 vaccine"
- Isländisches Gesundheitsministerium: "Effective restrictions on gatherings"
- Isländisches Gesundheitsministerium: "COVID-19 in Iceland – Statistics"