Sonderweg in Corona-Krise Schweden: "Es ist ein schwieriger Herbst"
Der schwedische Sonderweg wird immer wieder diskutiert. Nun steigen in einigen Regionen die Corona-Zahlen wieder dramatisch. Staatsepidemiologe Tegnell will an seinem Weg festhalten – und schwört die Bevölkerung auf schwierige Zeiten ein.
Wer zuletzt einen Abstecher nach Stockholm gemacht hat, der wird sich wie in einer anderen Welt vorgekommen sein: Die Fahrt mit der vollen Tunnelbana, der U-Bahn der schwedischen Hauptstadt, wirkt wie aus einer präcoronageschichtlichen Zeit – Masken trägt so gut wie niemand, auf Anzeigen und Stickern wird lediglich darauf hingewiesen, dass man Abstand zu seinen Mitreisenden halten solle. Auch auf der Einkaufsmeile Drottninggatan erscheint das Leben fast wie im Jahr 2019. Das zeigt: Schweden bleibt seinem Sonderweg im Kampf gegen das Coronavirus auch im Herbst treu.
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Doch an dem skandinavischen EU-Land mit der ausgiebig diskutierten Corona-Strategie gehen wieder steigende Infektionszahlen ebenso nicht vorbei wie an Deutschland und dem Rest Europas. Am Donnerstag kamen in der Datenbank der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten 3.254 neue Infektionen und damit so viele wie noch nie seit Pandemiebeginn innerhalb von 24 Stunden hinzu. Erst am Mittwoch war der Tageswert erstmals über 2.000 gestiegen, und schon in der vergangenen Woche war die Zahl der registrierten neuen Corona-Fälle um 70 Prozent im Vergleich zur Vorwoche in die Höhe geschossen.
Auch in Schweden sind große Veranstaltungen verboten
"Das kann ja so aussehen, als hätten wir mehr Fälle als im Frühjahr. Aber das ist nicht wahr", betonte der Staatsepidemiologe Anders Tegnell – für viele das Gesicht des Sonderwegs – am Donnerstag auf einer seiner unzähligen Pressekonferenzen zur Corona-Lage. Die Ausbreitung in der Bevölkerung sei damals um ein Vielfaches größer gewesen, allerdings habe man damals nicht im Geringsten dieselben Kapazitäten zum Testen gehabt wie heute. Dennoch bilanzierte Tegnell, dass sich die Lage in Schweden zunehmend verschlechtere. Bereits am Dienstag hatte er klargemacht: "Es ist ein schwieriger Herbst – und es wird wohl noch schwieriger, bevor das hier vorbei ist."
In Deutschland hat sich die Meinung festgesetzt, die Schweden könnten trotz Pandemie weiterhin tun und lassen, was sie wollten. Das stimmt so nicht. Auch in Schweden wurden Corona-Maßnahmen ergriffen, unter anderem zum allgemeinen Abstandhalten angemahnt, Großveranstaltungen und Versammlungen mit mehr als 50 Teilnehmern untersagt. Besuche in Pflegeheimen waren bis Anfang Oktober monatelang verboten. Die wissenschaftlich höchst umstrittene Herdenimmunität war nie erklärtes Ziel der Gesundheitsbehörde, wie Tegnell mehrmals betont hatte.
Regierung arbeitet mit Appellen an die Vernunft der Bürger
Was stimmt: Die Corona-Maßnahmen fielen weitaus freizügiger aus als in den meisten anderen Ländern. Geschäfte, Restaurants und Schulen blieben durchweg offen, eine Empfehlung an Über-70-Jährige zur Vermeidung von Kontakten wurde vor einer Woche gar zurückgenommen. Insgesamt wurde nicht mit strikten Verboten auf die Eindämmung des Coronavirus hingearbeitet, sondern mit Empfehlungen, Ratschlägen und Appellen an die Vernunft der Bürger.
Die meisten Schweden folgten und folgen dem, viele von ihnen sind beispielsweise wie von Behördenseite empfohlen längst ins Homeoffice gewechselt. Aber nicht alle beherzigen die Aufrufe, wie zuletzt etwa Aufnahmen von dichtem Gedränge in einer hippen Diskothek in Stockholm zeigten. "Auf enge Partys zu gehen, die riskieren, die Ausbreitung der Infektionen zu erhöhen: Ne, das ist nicht klug", sagte Regierungschef Stefan Löfven dazu dem "Aftonbladet".
Sonderweg geht mit hohen Todeszahlen einher
Der Sonderweg ist für die Schweden im Vergleich zu Deutschland und dem Rest Skandinaviens mit hohen Infektions- und Todeszahlen einhergegangen. Bis heute gab es mehr als 121.000 Infektionen und über 5.900 Tote in Verbindung mit Covid-Erkrankungen im Land – auf 100.000 Einwohner heruntergerechnet sind das doppelt so hohe Infektions- und fast fünfmal so hohe Todeszahlen wie in Deutschland. Besonders die hohe Zahl an Covid-Toten in den Pflegeheimen bedauerte Tegnell. Die Corona-Zahlen gingen auf dem Weg in den Sommer zudem erst einige Wochen später entscheidend zurück als anderswo.
Nun sieht es für die Schweden trotz der sich wieder zuspitzenden Lage besser aus: Bei den Neuinfektionen der vergangenen 14 Tage pro 100.000 Einwohner liegt ihr Land etwas unter den Werten von Deutschland und Dänemark. Europaweit können momentan nur wenige Länder noch niedrigere Zahlen vorweisen, darunter die nordischen Nachbarn Norwegen und Finnland.
Provinz Skåne ruft zu Kontaktbeschränkungen auf
Dennoch schrillen auch in Schweden die Alarmglocken: Besonders in der Region um die Studentenstadt Uppsala nördlich von Stockholm sowie im südschwedischen Skåne (Schonen) steigen die Infektionszahlen, aus Stockholm selbst sowie den Regionen Västra Götaland um Göteborg und Östergötland kommen ebenfalls beunruhigende Signale. "Insgesamt betrachtet sind wir in einer ganz anderen Lage als die, die wir vor nur einer Woche hatten. Und das ist eine ernste Lage", sagte Skånes führende Infektionsschützerin Eva Melander am Dienstag.
Das hat nun Folgen: In Skåne werden die Menschen vorläufig bis zum 17. November dazu angehalten, Kontakt mit Personen aus anderen Haushalten ebenso zu vermeiden wie den öffentlichen Nahverkehr und soziale Veranstaltungen wie Fußballspiele und anderen Sport. Ähnliches gilt bereits seit einer Woche in Uppsala, am Donnerstag wurden die Maßnahmen auf die Stockholmer Hauptstadtregion, Västra Götaland und Östergötland ausgeweitet. All das sind "allmänna råd", allgemeine Ratschläge – verboten wird in Schweden eben nur ungern.
- Nachrichtenagentur dpa