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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Möglicher Anschlag in Russland Was wir über den Fall Nawalny wissen – und was nicht
Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny liegt im Koma. Ein Giftanschlag scheint nicht ausgeschlossen. Denn es gibt viele ähnliche Fälle. Das Wichtigste im Überblick.
Noch ist unklar, ob der russische Oppositionelle Alexej Nawalny den Notfall lebend übersteht, wegen dem er seit Donnerstag in einem sibirischen Krankenhaus liegt. Sein Team vermutet einen Giftanschlag, Ärzte dementieren das bislang, haben aber angeblich bislang keine Diagnose gestellt. Familie und Mitarbeiter wollen ihn schnellstmöglich zur Behandlung nach Deutschland ausfliegen. Lesen Sie hier die Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was ist am Donnerstag genau passiert?
Nawalny war in den vergangenen Tagen für seine politische Kampagne in Sibirien unterwegs. Am Donnerstag wollte er von Tomsk aus nach Moskau zurückfliegen. Am dortigen Flughafen schien noch alles in Ordnung gewesen zu sein. Nawalny nahm dort nach Aussage seiner Sprecherin eine Tasse Tee zu sich. Fotos von Augenzeugen zeigen den Aktivisten in einem Café im Flughafen sitzen, im Bus-Shuttle zum Flugzeug ließ er sich von jungen Leuten zu einem Selfie überreden.
Auf dem Flug nach Moskau nahmen die dramatischen Ereignisse dann ihren Lauf. Laut der Sprecherin klagte Nawalny plötzlich über Übelkeit. Es gibt Videoaufzeichnungen aus der Kabine, in denen ein vor Qualen schreiender Mann zu hören ist. Mediziner mit Sanitätskoffern rennen eilig durch den Gang. Wegen des Notfalls an Bord landete die Maschine außerplanmäßig in Omsk. Ein Krankenwagen brachte Nawalny ins Krankenhaus. Sein Zustand bei der Einweisung war kritisch, den behandelnden Medizinern zufolge kämpfte er um sein Leben.
War es ein Giftanschlag?
Bislang ist das schwer zu beurteilen. Ohne Zweifel gibt es zahlreiche Fälle, in denen russische Oppositionelle und Dissidenten höchstwahrscheinlich von staatlichen Stellen angegriffen oder ermordet wurden, darunter sind auch viele Giftanschläge. Bereits im vergangenen Jahr war Nawalny aus dem Gefängnis ins Krankenhaus eingeliefert worden – auch damals hatten er und seine Ärzte eine Vergiftung vermutet.
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Über den aktuellen Vorfall ist aber wenig bekannt. Das Team um Nawalny vermutet einen Giftanschlag. Laut ihren Angaben hat die Polizei ein "tödliches Mittel" in unmittelbarer Umgebung gefunden, das auch für Umstehende gefährlich sei. Deswegen seien Schutzanzüge für Mediziner und Besucher angeordnet worden.
Die Ärzte dementieren diese Angaben: "Bisher wurde kein Gift im Blut und Urin gefunden", sagte der stellvertretende Chefarzt des Krankenhauses in Omsk. Nawalny habe eine "Stoffwechselstörung" aufgrund eines niedrigen Blutzuckerwerts. An Kleidung und Finger des Patienten seien zwar Spuren von "industriellen chemischen Substanzen" gefunden worden, die stünden aber nicht damit in Zusammenhang. Ehefrau und Bruder bezeichnen die angebliche Diagnose als Aneinanderreihung von Symptomen. Die Ursache sei völlig unklar.
Inwiefern die Angaben der Ärzte verlässlich sind, ist unklar. Als Nawalny vergangenes Jahr ins Krankenhaus kam, sprach das behandelnde Sklifosofski-Institut ebenfalls nur von einer "schweren allergischen Reaktion". Eine ähnliche Diagnose stellte es auch im Fall eines Mitglieds der Band "Pussy Riot". In der Berliner Charité wurde in jenem Fall hingegen eine Vergiftung als sehr wahrscheinliche Ursache der Erkrankung festgestellt.
Ermordet der russische Staat Dissidenten?
Das ist sehr wahrscheinlich. Zumindest sterben zahlreiche Oppositionelle, Dissidenten, Journalisten und Ex-Spione bei Anschlägen oder unter ungeklärten Umständen. Vor allem Giftanschläge haben eine lange Tradition seit der Sowjetunion. Sehr oft führen Spuren zu den Geheimdiensten bis hin zur obersten Spitze des Kremls, Wladimir Putin. Es gilt als wenig wahrscheinlich, dass derlei Anschläge ohne die Zustimmung des ehemaligen KGB-Offiziers ausgeführt werden.
Allein die Liste der Opfer von mutmaßlichen Giftanschlägen ist fast zu lang, um hier aufgeführt zu werden:
Georgi Markow (1978): Der oppositionelle bulgarische Schriftsteller starb in London an einer tödlichen Dosis Rizin. Ein Passant hatte sie ihm auf der Straße mit einer Art Regenschirm verabreicht. Der Verdacht fiel auf den bulgarischen Geheimdienst mit Unterstützung des KGB.
Viktor Juschtschenko (2004): Der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine erkrankte damals schwer. Ärzte stellten drei Monate später eine Dioxinvergiftung fest. Juschtschenkos Gesicht trägt bis heute die Spuren der Vergiftung. Angetreten war er gegen den russlandfreundlichen Kandidaten Viktor Janukowitsch.
Alexander Litwinenko (2006): Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker starb im Londoner Exil an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit den russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Agenten Dmitri Kowtun und Andrej Lugowoi Tee getrunken. Ermittler geben Moskau die Schuld, das jegliche Verantwortung bestreitet.
Alexander Perepilitschni (2012): Der russische Geschäftsmann starb 2012 beim Joggen in der Nähe von London. Eine zwei Jahre später von seiner Lebensversicherung in Auftrag gegebene Untersuchung ergab Spuren von Gift in seinem Magen. Perepilitschni war ein möglicher Kronzeuge in der Affäre um den Tod des russischen Anwalts Sergej Magnitski im Jahr 2009, für den ebenfalls russische Offizielle verantwortlich sein sollen.
Emilian Gebrew (2015): Der bulgarische Rüstungsfabrikant erkrankte schwer und überlebte nur knapp. Journalisten des Rechercheportals "Bellingcat" deckten mit dem "Spiegel" im Anschluss an ein Attentat Jahre später auf, dass auch hier ein Killerkommando des russischen Geheimdiensts GRU dahinter steckte.
Sergei Skripal (2018): Der ehemalige Doppelagent und seine Tochter Julia wurden im englischen Salisbury dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok ausgesetzt. Beide entgingen nur knapp dem Tod, ebenso wie der erste Polizist am Tatort. Eine 44-jährige Britin starb. Ermittler beschuldigen die russische Regierung. Journalistische Recherchen haben die mutmaßlichen Attentäter als russische Geheimdienstagenten entlarvt.
Pjotr Wersilow (2018): Der russische Aktivist der Band "Pussy Riot" wurde mit Symptomen einer Vergiftung in ein Moskauer Krankenhaus gebracht. Später kam er zur Behandlung in die Berliner Charité. Dort hielten Ärzte eine Vergiftung für sehr wahrscheinlich. Als Hintergrund für die Attacke sieht er seine Recherchen über drei im Juli 2018 ermordete russische Journalisten in Zentralafrika. Sie hatten über russische Söldner dort berichten wollen.
Die Liste ist damit längst nicht abgeschlossen. Das "Organized Crime and Corruption Project" hat über weitere mysteriöse Fälle berichtet. Und seit einiger Zeit erschüttert eine Serie von Mordanschlägen in Europa die tschetschenische Exil-Opposition. Die Bundesanwaltschaft wirft dem russischen Staat vor, für ein tödliches Attentat in Berlin-Tiergarten verantwortlich zu sein. Weitere Fälle gibt es in Frankreich und Österreich. Eine ganze Serie von Todesfällen in Großbritannien wirft weitere Fragen auf. Unvergessen sind auch die Morde an der Journalistin Anna Politkovskaya 2006 und an dem Menschenrechtler Boris Nemtsov 2015 in Moskau.
Was könnte Nawalny zum Ziel gemacht haben?
Nawalny ist der führende Kopf der liberalen Opposition. Er organisiert immer wieder landesweite Proteste, an denen oft Zehntausende – vor allem junge Menschen – teilnehmen. Regelmäßig wird der Aktivist dabei zum Ziel von staatlicher Schikane. Er selbst wurde mehrfach festgenommen, verbrachte oft Wochen in Gewahrsam. Seine Büros wie die seiner Unterstützer werden regelmäßig durchsucht.
Nawalny und seine Mitstreiter deckten überdies zahlreiche Fälle von Bestechung und Vorteilsnahme in höchsten politischen Ämtern auf. Die eigens dafür gegründete Stiftung für Korruptionsbekämpfung geht systematisch Hinweisen nach und brachte so den Kreml immer wieder in Erklärungsnot. Der prominenteste Fall des Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, der Hunderte Millionen Euro für seine Familie abgezweigt haben soll, schlug in Russland hohe Wellen.
Nawalnys neuestes Projekt, mit dem er Russlands Mächtige ärgert, lautet "Smart Voting", zu Deutsch etwa "kluges Wählen". Er ruft dabei die Wähler dazu auf, die Stimmen nicht verschiedenen Gegenkandidaten der Regierungspartei zu geben, sondern je nach Region einem bestimmten, den er für besonders aussichtsreich hält. Experten glauben, dass Nawalny der Regierungspartei "Einiges Russland" bei den Regionalwahlen im September damit empfindlich schaden kann. Genau in dieser Angelegenheit war er jetzt auch in Sibirien unterwegs.
Kommt Nawalny zur Behandlung nach Deutschland?
Das ist das Ziel seiner Familie und seines Teams. Am Freitagabend erklärte das Krankenhaus in Omsk, Nawalny dürfe ausgeflogen werden. Zuvor war dies mit Verweis auf dessen Gesundheitszustand abgelehnt worden. Eine Maschine steht vor Ort bereit, die den schwer kranken Aktivisten nach Berlin bringen könnte, wo die Behandlung in der Charité vorbereitet wird. Das Flugzeug war um 3.13 Uhr in der Nacht zu Freitag in Nürnberg gestartet und wartet nun auf dem Flughafen in Omsk. Das ist öffentlichen Flugdaten zu entnehmen und so bestätigte es das Betreiberunternehmen FAI auf Anfrage von t-online.de.
FAI unterhält auf Intensivkrankentransporte spezialisierte Flugzeuge auch für die Langstrecke. An Bord der Maschine vom Typ CL 60 müssten laut Angaben des Unternehmens auf der Homepage ein Arzt und mindestens ein Rettungssanitäter sein. Die deutschen Ärzte halten Nawalny für transportfähig, nachdem sie ihn in Augenschein nehmen durften. Die Ärzte aus Omsk widersprechen allerdings.
Die Bundesregierung hat inzwischen mehrfach Hilfe und eine Behandlung in Deutschland angeboten. Deutschland werde – falls das gewünscht werde – selbstverständlich seinen Teil dazu beitragen, dass Nawalny in einer Berliner Klinik behandelt werden könne, sagte Außenminister Heiko Maas. "Dieses Angebot halten wir weiter aufrecht". Bereits vor zwei Jahren war der Aktivist Pjotr Wersilow nach einer Vergiftung aus Moskau zur Behandlung nach Berlin geholt worden.
- Eigene Recherchen
- Mit Nachrichtenagenturen dpa, AFP