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Ex-Brasilien-Korrespondent: "Bolsonaro war nur ein verrückter Hinterbänkler"


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Ex-Brasilien-Korrespondent
"Bolsonaro war nur ein verrückter Hinterbänkler"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 19.06.2020Lesedauer: 7 Min.
Präsident Bolsonaro versucht die Verantwortung für das katastrophale Ausmaß der Corona-Krise in Brasilien von sich zu geben.Vergrößern des Bildes
Präsident Bolsonaro versucht die Verantwortung für das katastrophale Ausmaß der Corona-Krise in Brasilien von sich zu geben. (Quelle: imago-images-bilder)
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Die Corona-Krise trifft Brasilien mit voller Wucht, doch Jair Bolsonaro ignoriert die Katastrophe. Der ehemalige Brasilien-Korrespondent Andreas Nöthen spricht über einen Präsidenten, der sein Land zu ruinieren droht.

In Brasilien herrscht Chaos. Das Land ist momentan ein Hotspot der Corona-Pandemie, es gibt knapp eine Million Infizierte, fast 45.000 Menschen sind mit dem Virus gestorben. Trotzdem verharmlost Präsident Jair Bolsonaro die Krise.

Mit Beleidigungen und aggressiver Rhetorik ist der 65-Jährige aktuell kaum eine Hilfe im Kampf gegen die Pandemie. Bolsonaro verbreitete die Verschwörungstheorie, dass das Virus vom Ausland in Umlauf gebracht wurde, um die globale Wirtschaft lahm zu legen. Er schüttelte trotz Corona fleißig Hände, und auch seine Gefolgschaft schleppte nach einem Besuch bei US-Präsident Donald Trump in Florida Corona nach Brasilien. Aber das ist nicht alles: Einer seiner Minister war kürzlich in einem Video zu sehen, in dem er forderte, im Schatten der Pandemie den Regenwald weiter abzuholzen.

Über die gegenwärtige Corona-Lage in Brasilien und über die Entwicklung des Landes unter Bolsonaro hat t-online.de mit Andreas Nöthen gesprochen. Der Buchautor lebte dreieinhalb Jahre in Brasilien und arbeitete in der Zeit, als Bolsonaro an die Macht kam, als Korrespondent. In seinem neuen Buch "Bulldozer Bolsonaro: Wie ein Populist Brasilien ruiniert" reflektiert er die Auswirkungen der Machtübernahme Bolsonaros.

t-online.de: Herr Nöthen, Brasilien wird hart von der Corona-Krise getroffen, es herrscht Chaos. Präsident Jair Bolsonaro redet die Pandemie klein, während die Drogengangs in den Favelas Ausgangssperren verhängen. Sind nun plötzlich Drogenbanden die Vernünftigen im Land?

Nöthen: Bolsonaros Corona-Krisenmanagement ist katastrophal, aber soweit würde ich nicht gehen. Die medizinische Versorgung in den Favelas ist schlecht, und die Menschen leben dort auf engem Raum zusammen. Die Drogengangs hatten zu Beginn der Pandemie damit gedroht, dass sie Menschen erschießen, wenn sie nachts auf die Straßen gehen. Aber das wurde schnell wieder aufgehoben, denn diese Banden wollen Geld verdienen. Es geht ihnen nicht um das Wohl der Bevölkerung.

Sie haben dreieinhalb Jahre in Brasilien gelebt. Wie ist aktuell die Stimmung im Land?

Die Menschen sind sehr verunsichert und wissen, dass sie von der Regierung nur wenig Schutz erwarten können. Meine damalige Sprachlehrerin beispielsweise weiß gar nicht, was sie machen soll, und hofft, dass die Pandemie an ihr vorbeigeht. Ein anderer Freund sitzt schon auf gepackten Koffern, bereit, das Land zu verlassen.

Das Ausmaß dieser Krise scheint zumindest in Teilen hausgemacht. Welche Verantwortung trägt Bolsonaros Politik?

Bolsonaro hat von Anfang an die Krise nicht ernstgenommen, und er hat durch einen Besuch bei US-Präsident Donald Trump in Florida das Virus sogar mit eingeschleppt, weil sich dort einige seiner Gefolgsleute infizierten.

Was hätte der Präsident stattdessen tun können?

Er hätte natürlich Maßnahmen ergreifen können, wie sie zum Beispiel auch Deutschland eingeführt hat. Doch die brasilianische Regierung hat die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ignoriert und hat sogar das Gegenteil von dem gemacht, was sich in anderen Ländern in der Krise bewährt hat.

Zum Beispiel?

Für Bolsonaro war es die oberste Priorität, die Wirtschaft am Laufen zu halten.

Und er hat gesagt, dass das Ausland das Coronavirus aufgrund von wirtschaftlichen Interessen in Umlauf gebracht habe.

Mit Hilfe derartiger Verschwörungstheorien hat Bolsonaro mit allen Mitteln versucht, einen brasilianischen Sonderweg in der Corona-Pandemie einzuschlagen. Was er damit genau bezwecken will, frage ich mich auch.

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Bislang sind in Brasilien über 45.000 Menschen mit dem Virus gestorben und es scheint fast so, als wollte der Präsident die Krise noch verschlimmern.

Ja, als die Gouverneure in verschiedenen großen Städten, wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo, Shut Downs durchführten, wurden sie von Bolsonaro scharf angegriffen. Er sagte, sie sollten den Quatsch sein lassen.

Zu welchem Zweck?

Das brasilianische Gesundheitssystem hat natürlich dieser Wucht der Corona-Pandemie wenig entgegenzusetzen. Auch die Wirtschaft ist schwach und Bolsonaro wollte offenbar einfach nicht Schuld sein, wenn in Brasilien das große Chaos ausbricht. Er wird daran gemessen, wie gut oder schlecht die Wirtschaft ist, und dafür ist es schlecht, wenn die Leute zu Hause sitzen. Wahrscheinlich hat er anfangs auch gehofft, dass die Pandemie nicht so schlimm wird.

Gab es denn mittlerweile ein Umdenken in der Corona-Politik der brasilianischen Regierung?

Da habe ich wenig Hoffnung. Die Eindämmung der Pandemie hat gegenwärtig nicht oberste Priorität, Bolsonaro hat momentan sogar nur einen kommissarischen Gesundheitsminister im Amt. Ich habe die Befürchtung, dass es mittlerweile auch schon zu spät ist, um jetzt in der Pandemie noch gegenzusteuern.

Das Chaos ist da, und Bolsonaro hat trotzdem noch Rückhalt in der Bevölkerung?

Zumindest hat er einen erstaunlich harten Kern von Anhängern, das sind laut Umfragen ungefähr 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung. Die Leute merken zwar langsam, dass Bolsonaro ihnen in dieser Krise nichts nützt. Aber trotzdem unterstützt noch ein großer Teil der Menschen in Brasilien seine Politik.

Warum?

Bolsonaro lädt das Corona-Thema emotional auf, indem er beispielsweise häufig Institutionen angreift, um so die Verantwortung für das Chaos abzugeben. Jüngste Beispiele dafür sind Angriffe auf das oberste Gericht in Brasilien oder auf die WHO. Damit versucht er, seine Gefolgschaft beisammen zu halten.

Mit Angriffen meinen Sie Beleidigungen und Beschimpfungen.

Das ist ganz schlimm, besonders wie Bolsonaro Medienvertreter angeht. Der Präsident führt keine Dialoge, sondern ist ständig dabei, über die sozialen Netzwerke Fronten aufzubauen. Dabei versucht er, Politiker oder Journalisten verbal zu vernichten, und erhofft sich damit mehr Rückhalt in der Bevölkerung.

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Gab es diese aggressive Rhetorik auch schon vor Bolsonaros Amtszeit in Brasilien?

Ja, vor allem auch durch den Abgeordneten Jair Bolsonaro. Er war von 1991 bis 2018 normaler Abgeordneter und war für derartige Ausfälle bekannt. Einmal wollte er Pillen in den Favelas verteilen, die die Menschen unfruchtbar machen sollten. Bolsonaro hat stets mit dieser beleidigenden, aggressiven Sprache gearbeitet, aber bis vor ein paar Jahren hat das niemanden interessiert. Er war vorher immer nur der verrückte Hinterbänkler Bolsonaro.

Wie konnte ein "verrückter" Politiker denn Präsident werden?

Da kamen verschiedene Faktoren zusammen. Zum einen war die Bevölkerung sehr unzufrieden mit der Korruption der vorigen Regierungen. Nachdem dann Luiz Inácio Lula da Silva, der in den Umfragen vorne lag, inhaftiert wurde, hat das der linken PT das Genick gebrochen. Zuvor hatte niemand mit einem Sieg Bolsonaros gerechnet. Und letztlich war das Messer-Attentat auf Bolsonaro ein entscheidender Faktor, weil er das medial gut zu instrumentalisieren wusste.

Was hat sich durch seine Wahl im Land verändert?

Die Stimmung im Land hat sich schlagartig verändert, es bildeten sich Lager – Gegner und Unterstützer Bolsonaros. Viel dazwischen gab es eigentlich nicht mehr. Die Spaltung, die Bolsonaro gezielt vorangetrieben hat und immer noch vorantreibt, war schon im Wahlkampf spürbar. Risse gingen durch Familien, Ehen und Freundeskreise.

Sie haben nach Ihrer Zeit in Südamerika nun das Buch "Bulldozer Bolsonaro: Wie ein Populist Brasilien ruiniert" geschrieben. Warum benutzen Sie gerade den Bulldozer als Metapher?

Bolsonaro ist verbal wie ein Bulldozer. Er haut den Leuten seine Meinung ungefiltert um die Ohren. Mir kommt da das Beispiel der linken Politikerin Maria do Rosario in den Sinn. Bolsonaro sagte zu ihr, dass sie zu hässlich sei, um vergewaltigt zu werden.

Unfassbar.

Ja, aber auch in seiner Amazonas-Politik passt das Bild des Bulldozers gut, denn der brasilianische Präsident steht für großflächige Abholzungen.

In manchen Medien wird Bolsonaro oft als "Tropen-Trump" bezeichnet. Ist der Vergleich berechtigt?

Beide sind Populisten, und es geht beiden primär um Machterhalt. Der Vergleich hinkt, weil die USA global ein anderes Auftreten haben. Bolsonaro versucht, Trump nachzuäffen, und tritt beispielsweise auch gegen China. Aber eigentlich kann sich das Brasilien nicht leisten, weil das Land wirtschaftlich abhängiger von China ist als von den USA.

Gibt es sonst noch Gemeinsamkeiten zwischen Trump und dem brasilianischen Präsidenten?

Auch Bolsonaro ist Gegner des Multilaterismus und vertritt die Ideologie "Brasilien über alles". Nur kann sich Brasilien diese Position noch viel weniger erlauben als die USA, weil die brasilianische Wirtschaft im internationalen Vergleich eher schwach ist.

Profitiert Brasilien von den guten persönlichen Beziehungen zu den USA?

Kaum. Es ist kein Verhältnis auf Augenhöhe, die USA haben Südamerika immer als ihren Hinterhof und als Rohstofflieferant betrachtet, und das hat sich auch unter Trump nicht geändert. Trump hält Bolsonaro oft eine Möhre hin, um sie dann aber wieder wegzuziehen. So geschehen bei einer möglichen Aufnahme in die OECD oder bei der Besetzung des Chefpostens für die amerikanische Entwicklungsbank.

Sie haben gerade schon die Amazonas-Politik der brasilianischen Regierung angesprochen. Kürzlich kursierte ein Video, in dem Umweltminister Ricardo Salles vorschlug, mehr Abholzung im Schatten der Corona-Krise zu betreiben. Steckt hinter derartigen Äußerungen eine Strategie?

Das Video war wahrscheinlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, wurde erst im Zuge von Ermittlungen öffentlich. Das ist zwar ärgerlich für die Regierung, aber die Äußerungen waren durchaus ernst gemeint.

Steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter dieser Regenwald-Politik?

Für viele Brasilianer ist der Regenwald sehr weit weg, und man lernt in der Schule, dass es ein riesiges Gebiet mit unendlichen Ressourcen ist. Deswegen wird das Problem in der Bevölkerung nicht so ernst genommen. Viele fragen sich, warum sich die Europäer wegen ein paar abgeholzter Bäume so aufregen. Und für Bolsonaro ist der Amazonas ein Raum, den er erschließen und ausbeuten kann. Protest aus dem Ausland interessiert ihn nicht.

Abschließend möchte ich mit Ihnen noch einen Ausblick wagen: Brasilien wird von der Corona-Krise durchgeschüttelt, es gibt auch Proteste gegen Bolsonaro. Erwarten Sie kurz- oder mittelfristig einen politischen Wandel im Land?

Kurz- oder mittelfristig ist keine Besserung in Sicht. Es wird nur spekuliert, dass das Militär die Macht ergreifen könnte, aber das würde das Land in eine neue Diktatur führen. Ein Militärputsch ist wahrscheinlicher als ein Amtsenthebungsverfahren. Das wäre langwierig, diese Zeit hat das Land in der gegenwärtigen Situation nicht. Durch seine Koalition mit den Zentrumsparteien sitzt Bolsonaro politisch fest im Sattel. Bis zur nächsten Wahl muss man ihn wohl ertragen, wie es derzeit aussieht.

Wie realistisch ist ein Militärputsch?

Das Interesse des Militärs, diesen Schritt zu gehen, ist gar nicht so groß. Ex-Generäle sind momentan schon in entscheidenden Positionen in der Regierung und können Einfluss nehmen. Man hat vonseiten des Militärs schon darüber nachgedacht, aber große Gelüste nach einer Machtergreifung gibt es gerade nicht. Wahrscheinlich haben sie auch nicht wirklich Lust, Bolsonaros Scherbenhafen aufzukehren. Denn dieser ist in der Corona-Krise besonders groß.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Nöthen.

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