Rettung der EU-Wirtschaft vertagt Ergebnis des Krisengipfels stößt auf Kritik aus EU-Parlament
Mühsam hatten die Diplomaten ein Modell vorbereitet, wie man wegen der Pandemie in Not geratene Staaten stützen könnte. Doch Italien fordert mehr. Der resultierende Kompromiss stößt im EU-Parlament auf Enttäuschung.
Um die Wirtschaftsfolgen der Coronavirus-Krise zu bewältigen, wollen die EU-Staaten binnen zwei Wochen ein neues Modell für einen gemeinsamen Rettungsschirm ausarbeiten. Das ist das Ergebnis eines EU-Videogipfels mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und den übrigen Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend. Um die Einigung war hart gerungen worden, denn Italien legte sein Veto gegen eine vorab ausgehandelte Kompromissformel ein und forderte eine stärkere Antwort der Europäischen Union auf die beispiellose Krise.
Merkel sagte nach dem Gipfel, die EU haben sich zu einem solidarischen Vorgehen bekannt. "Wir sind entschlossen, diese Herausforderung gemeinsam zu bewältigen", betonte die Kanzlerin.
In der gemeinsamen Gipfelerklärung hieß es am Ende, die Eurogruppe solle binnen zwei Wochen einen neuen Vorschlag für gemeinsame finanzpolitische Maßnahmen machen: "Diese Vorschläge sollten dem beispiellosen Charakter des Covid-19-Schocks Rechnung tragen, der alle unsere Länder trifft." Weitere gemeinsame Schritte behält sich die Staatengemeinschaft demnach ausdrücklich vor.
Kritik aus EU-Parlament
Als "gefährliche Taktik" kritisierte der SPD-Europaabgeordneten Bernd Lange den Beschluss: "In der größten Krise greifen die Mitgliedstaaten beim EU-Gipfel auf das übliche Instrumentarium zurück: Problem vertagen und Zeit gewinnen." Die Bürger erwarteten entschlossenes Handeln, meinte auch der Chef der europäischen Liberalen, Dacian Ciolos: "Wann, wenn nicht jetzt?" Nur mutige Entscheidungen machten die EU stark und glaubwürdig.
Auch der haushaltspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Rasmus Andresen, kritisierte die Vertagung. Damit gehe wichtige Zeit verloren. "Es ist enttäuschend, mit welcher Arroganz die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit anderen reicheren EU Staaten die EU in eine Krise stürzt und sinnvolle ökonomische Maßnahmen blockiert", erklärte Andresen. Er verlangte "Corono-Bonds zur Stabilisierung der Staatshaushalte und Volkswirtschaften und einen 60-Milliarden-EU-Nachtragshaushalt mit gemeinsamen europäischen Investitionen in Gesundheitsversorgung, Forschung und Infrastruktur."
Grünen-Chefin Annalena Baerbock sprach sich für gemeinsame Staatsanleihen der Euro-Länder aus, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzufedern. "Nur ein gemeinsamer europäischer Schutzschirm kann eine tiefe Spaltung der Euro-Zone verhindern", sagte Baerbock dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND, Freitag). Die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegenüber einer Ausgabe gemeinsamer Anleihen im Euro-Raum nannte Baerbock falsch. "Italien ist nicht damit geholfen, dass wir abends auf unseren Balkonen die "Ode an die Freude" anstimmen", sagte sie. Mit Blick auf die EU warnte Baerbock: "Wenn jeder sich selbst der Nächste ist und so handelt, wird sie zerbrechen."
Merkel: ESM ist bevorzugtes Instrument
Ursprünglich sollte die Eurogruppe beauftragt werden, Details für Hilfen aus dem Eurorettungsschirm ESM zu erarbeiten. Die Rede war von einem Instrument zur "Pandemie-Krisen-Unterstützung". Gemeint waren vorsorgliche Kreditlinien des ESM. Die Kreditlinien stünden Staaten zur Verfügung, die wegen der enormen Unterstützungspakete für die heimische Wirtschaft in Bedrängnis geraten könnten. Der ESM hat rund 410 Milliarden Euro für Darlehen frei.
Merkel sagte, für sie wäre der ESM das bevorzugte Instrument, zumal es für Krisenzeiten geschaffen wurde: "Ich glaube, dass wir eben mit dem ESM ein Kriseninstrument haben, das uns viele Möglichkeiten eröffnet." Es stelle nicht die Grundprinzipien "gemeinsamen aber dann auch wieder jeweils verantwortlichen Handelns infrage".
Italiens Regierungschef fordert einen Kompromiss
Dieser Vorschlag reichte Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte aber nicht. Gemeinsam mit Spanien forderte Conte nach Angaben aus italienischen Regierungskreisen beim Videogipfel "innovative und angemessene Finanzinstrumente". Daraus wurde schließlich der Kompromiss, dass die Eurogruppe binnen zwei Wochen Vorschläge machen soll.
Italien ist mit rund 7.500 Corona-Toten nicht nur das am schwersten von der Epidemie getroffene EU-Land. Es hat nach Griechenland mit einem Schuldenberg von über 130 Prozent der Wirtschaftsleistung auch den geringsten finanziellen Spielraum, um auf den Konjunktureinbruch infolge der Corona-Krise zu reagieren.
Conte stellte nach den Angaben aus Regierungskreisen bei der Gipfelschalte klar, dass er keine Vergemeinschaftung öffentlicher Schulden wolle. Jedes Land verantworte seine eigenen Schulden selbst und werde dies auch weiter tun. Doch müsse Europa gemeinsam handeln und eine starke Antwort auf die Krise finden.
In einer Pressekonferenz am späten Abend sagte EU-Ratschef Charles Michel, man habe alle Möglichkeiten für eine Reaktion auf die Krise debattiert. "Wir tun alles, was nötig ist, um eine Lösung zu finden", sagte der Ratschef. Bei vielen Fragen sei man durchaus einig. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, man sei offen dafür, "alle anderen Möglichkeiten zu diskutieren, die auf dem Tisch liegen könnten".
Von der Leyen kritisiert nationale Alleingänge
Eine Gruppe von neun EU-Staaten – darunter Italien – hatte vorab ein gemeinsames Schuldeninstrument gefordert, bekannt als Corona-Bonds. Deutschland ist jedoch strikt dagegen, wie Merkel bekräftigte, einige andere Staaten ebenfalls. Die Debatte darüber dürfte dennoch weiter gehen.
Vor dem Gipfel hatte von der Leyen heftige Kritik an den Alleingängen der EU-Staaten in der Krise geübt, darunter einseitige Exportverbote, Grenzkontrollen und Störungen des Binnenmarkts in Europa. "Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst nur an sich selbst gedacht", sagte von der Leyen in einer Sondersitzung des Europaparlaments. Inzwischen hätten die Staaten aber begonnen, einander zu helfen. "Europa ist wieder da", sagte von der Leyen.
Im ihrer Gipfelerklärung versicherten die 27 Staaten, die Probleme für den Warenverkehr an den teils geschlossenen Grenzen zu beheben. Gemeinsam soll die Beschaffung von Schutzausrüstung vorangetrieben und die Forschung an Impfstoffen gegen Covid-19 gefördert werden. Der vorige Woche zunächst für 30 Tage gemeinsam verhängte Einreisestopp für Nicht-EU-Bürger könnte verlängert werden. Zugleich bitten die Staats- und Regierungschefs die EU-Kommission, mit der Arbeit an einer Exit-Strategie zur Normalisierung der Situation zu beginnen.
- Nachrichtenagenturen AFP und dpa