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Russland: Regierungs-Rücktritt – Putins Angst vor Gorbatschows Geist


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Rochade im Kreml
Putins Angst vor Gorbatschows Geist


Aktualisiert am 16.01.2020Lesedauer: 6 Min.
Der russische Präsident Wladimir Putin muss nach dem Rücktritt der aktuellen Regierung zunächst einen neuen Regierungschef ernennen.Vergrößern des Bildes
Der russische Präsident Wladimir Putin muss nach dem Rücktritt der aktuellen Regierung zunächst einen neuen Regierungschef ernennen. (Quelle: reuters)
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Wladimir Putin sorgt in Russland für einen großen Knall. Nach seiner Rede zur Lage der Nation tritt die Regierung zurück. Während der Präsident radikale Veränderungen im Land plant, unterbreitet er dem Westen

Dort sitzen sie in Reih und Glied: Die jährliche Rede zur Lage der Nation von Wladimir Putin ist die gewohnt große Inszenierung. In einer großen Halle werden eng an eng die zahlreichen politischen und religiösen Würdenträger Russlands platziert, auch der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill I. nimmt in der ersten Reihe Platz. Als der russische Präsident die Bühne betritt, sind auf den Fernsehbildern keine freien Stühle zu sehen, die Zuhörer verfolgen konzentriert die Rede des 67-Jährigen. Die Stille im Meer der nickenden Köpfe wird nur von gelegentlichem Applaus unterbrochen. Da wusste noch niemand, welch immense Auswirkungen der heutige Tag auf die Zukunft des ganzen Landes haben wird.

Die Internetgemeinde wird in den nächsten Stunden von "Putins Puppen" sprechen, ein Sinnbild aller Kreml-Inszenierungen in der Vergangenheit. Doch inhaltlich bedeutet die Rede einen großen politischen Einschnitt für Russland. Der russische Präsident kündigt ein Verfassungsreferendum an, es soll mehr Demokratie geben und ein mächtigeres Parlament. Auch fokussiert sich Putin stärker auf andere Themen als in der Vergangenheit. Es geht um soziale Gerechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich, mehr Wohlstand für die Bevölkerung und den demografischen Wandel. "Das Glück liegt in der Liebe", sagt Putin während seiner Rede.

Druck auf Putin wächst

Wladimir Putin, der sich medienwirksam oberkörperfrei auf Pferden und als Karatekämpfer und Eishockeyspieler filmen lässt, spricht nun das zweite Jahr in Folge in seiner Ansprache zum Jahresbeginn von Liebe. Das ist kein Zufall, denn die Prioritäten vieler Russinnen und Russen haben sich in den letzten Jahren verändert. Der Druck auf Putin wächst, das Land sozialer und demokratischer zu machen. Die Bevölkerung ist müde von den andauernden Kriegen und Großmachtfantasien. Deshalb erwähnt Putin mit keinem Wort die Kriege, an denen Russland aktuell direkt oder indirekt beteiligt ist. Und deshalb wird wenige Stunden nach seiner Rede die russische Regierung zurücktreten. Sie werden zu Putins Prügelknaben, der sich angesichts der Unzufriedenheit in der Bevölkerung offenbar zum Handeln gezwungen sah.

Putin beginnt seine Rede um 12 Uhr Ortszeit mit großen sozialen Versprechungen. Die Lebensqualität in Russland solle steigen und es soll sich auch finanziell lohnen, Kinder zu bekommen. Diese Offensive in der Sozialpolitik kommt von Putin nicht zufällig. Erst im Herbst des letzten Jahres geriet er massiv in die Kritik, als er das Renteneintrittsalter von 60 auf 65 Jahre anhob. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer beträgt 66 Jahre. Die Rentenreform löste massive Proteste aus, Putins Popularität sank. Mit Sozialversprechungen und einer Offensive, dass die Familien mehr Kinder bekommen sollen, will er diese Kritik nun abfedern und die Finanzierung des Rentensystems sichern, denn auch Russland kämpft massiv mit dem demografischen Wandel.

Müde von der Kriegs- und Großmachtrhetorik

Im weiteren Verlauf spricht Putin nur wenige Minuten über Außenpolitik. Das ist kein Zufall. Der Unmut in der russischen Bevölkerung über die Berichte der kremltreuen Medien wächst, die im großen Umfang die angeblichen außenpolitischen Erfolge Russlands in den globalen Konflikten thematisieren. "Den Russen wird jeden Tag erzählt, wie großartig Putin sich auf der internationalen Bühne bewegt. Aber die Bevölkerung scheint müde von diesem ganzen politischen System zu sein", erklärt Politikwissenschaftler, Publizist und Osteuropa-Experte Andreas Umland im Gespräch mit t-online.de. "Diese Kriegs- und Großmachtrhetorik verfängt bei der russischen Bevölkerung nicht mehr. Das hat auch der Kreml erkannt. Viele Russen können die außenpolitischen Erfolge nicht mehr hören, weil sie es nicht in ihr Leben übersetzen können."

Viele Russen wünschen sich aktuell spürbare Veränderungen für sich und ihre Familien und nicht eine russische Großmacht als Nachfolger der Sowjetunion. Auch deshalb will Putin offenbar die Außenansicht des russischen Regimes verändern. Das russische System soll demokratischer und sozialer werden und größeren Wert auf die wirtschaftliche Entwicklung legen.

Wenn sich der Kreml tatsächlich von der Großmachtpolitik entfernen würde, könnten sich vor allem neue diplomatische Möglichkeiten in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland entwickeln. In seiner Rede mahnt Putin vor "unberechenbaren Konflikten in der Welt" und vor regionalen Kriegen, die den "Weltfrieden und die Stabilität des ganzen Planeten bedrohen". Damit will der russische Präsident vor allem zur Zusammenarbeit bei den Vereinten Nationen aufrufen. "Es darf zu keinem neuen Weltkrieg kommen. Wir bedrohen niemanden und wollen auch keinem anderen Land unsere Weltsicht aufzwingen", sagt Putin. "Deshalb wird Russland mit allen interessierten Staaten zusammenarbeiten."

Putin reicht der EU die Hand

Auch wenn der russische Präsident damit auf die innenpolitischen Befindlichkeiten im Land reagiert, sind seine Äußerungen als rhetorisches Friedensangebot zu werten. "Putin streckt dem Westen die Hand aus. Damit will er einen Teil der EU-Sanktionen loswerden und dafür könnte er den westlichen Partnern eine außenpolitische Zusammenarbeit, beispielsweise in Libyen oder im Nahen Osten, anbieten", meint Umland. "Aber die Ukraine-Politik wäre sicherlich von einer moderateren russischen Politik ausgeschlossen. Russland wird sich in der Krim- oder in der Donbas-Frage wahrscheinlich nicht bewegen."

Doch die eigentliche Bombe platzt erst im Schlussteil von Putins Ansprache. Darin kündigt er ein Verfassungsreferendum an. Demnach will er per Volksabstimmung dem Parlament mehr Macht zukommen lassen. Konkret geht es darum, dass das Unterhaus, die Duma, künftig entscheiden soll, wer Ministerpräsident und dessen Stellvertreter wird. Auch über die einzelnen Minister soll das Parlament bestimmen. Bislang liegt all das in der Hand des Präsidenten.

Dafür bekommt Putin großen Applaus, vor allem von den Parlamentariern im Saal. "Seine Vorschläge zu einer Verfassungsreform sehen gar nicht so schlecht aus", sagt Umland gegenüber t-online.de. "Wenn es tatsächlich so durchgeführt werden würde, wäre das schrittweise eine Parlamentarisierung des politischen Systems der Russischen Förderation."

Gibt Putin die Zügel aus der Hand?

Skeptisch macht lediglich, dass Putin Teile seiner Macht bereitwillig abgeben will. Bislang steht das Parlament Putin in seinen Vorhaben sehr loyal zur Seite, die Kremlpartei Geeintes Russland hält mehr als zwei Drittel der Abgeordnetensitze. Die restlichen Parteien stellen sich in der Regel nicht gegen den Willen des Kremls.

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Kremlkritiker teilen nach Putins Rede die Befürchtung, dass die Verfassungsreform eine Möglichkeit für den russischen Präsidenten ist, sich auch nach seiner letzten Amtszeit Macht zu sichern. Auch in seiner Rede bleibt Putin in der Frage vage, ob die Amtszeit von Präsidenten neu geregelt werde. Darüber gebe es "in der Gesellschaft" bereits Diskussionen, sagte Putin. "Ich halte das nicht für ausschlaggebend. Aber ich stimme dem zu." Er vermied damit erneut eine klare Aussage zu seiner politischen Zukunft.

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Putin kann nur noch bis 2024 das Land führen. Die Verfassung schreibt vor, dass der Präsident nur zweimal hintereinander amtieren darf. Der 67-Jährige wurde im Mai 2018 wiedergewählt.

Der Politikwissenschaftler Umland geht davon aus, dass Putin die jetzige Verfassung akzeptiert: "Putin hat offenbar Respekt vor dem Geist der jetzigen russischen Verfassung. Deshalb möchte er wahrscheinlich die Verfassung nicht ändern, um sich eine zusätzliche Amtszeit zu sichern."

Stattdessen könnte er einen anderen Weg wählen, um auch in anderer Funktion die Zügel noch in der Hand zu halten. "Er könnte eine Art Staatsratvorsitzender werden, wie man es aus der ehemaligen DDR kannte", meint Umland. "Über so ein Amt oder beispielsweise als Ministerpräsident könnte er versuchen, die Zügel weiter in der Hand zu halten."

Das Schicksal von Gorbatschow

Putins Ansprache endet mit stehenden Ovationen und höflichem Applaus. Es wird nur wenige Stunden dauern, dann folgen auf seine Worte die ersten Konsequenzen. Die komplette russische Regierung tritt zurück, sie sind offenbar das Opfer der sinkenden Popularität des Präsidenten. Dabei sei die Entlassung einer ganzen Regierung in Russland nicht unüblich. "Der Rücktritt der russischen Regierung ist wenig überraschend und Ausdruck der Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung mit der aktuellen Wirtschafts- und Sozialpolitik", sagt Umland. "Es ist in Russland Tradition, dass Minister und der Regierungschef bei Unzufriedenheit als Prügelknabe für den Präsidenten dienten. Ich gehe aber davon, dass einige Minister auch in der neuen Regierung wieder Ämter bekleiden werden."

Der Rücktritt der Regierung ist letztlich ein Zeichen der aktuellen Unsicherheit Putins und soll vor allem die politische Neuausrichtung des Kremls verdeutlichen.

Putin ist quasi seit knapp 20 Jahren in Russland an der Macht, oder er war zumindest in dieser Zeit immer der Staatenlenker. Aktuell sieht er, dass es ihm mit seiner Popularität in geringerem Umfang ähnlich geht wie dem damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Dieser war in der Sowjetunion vor allem wegen seiner Außen- und Friedenspolitik gegenüber dem Westen beliebt. Doch spätestens im Jahr 1989 wandelte sich diese Beliebtheit teilweise in tiefe Verachtung, weil es den Menschen in Russland sozialökonomisch schlecht ging.

Diesem Schicksal möchte Putin entgehen. Auch er wurde wegen seiner Außenpolitik gefeiert, weil viele Russen der Meinung waren, dass Putin das Land zu alter Größe zurückführte. Doch nun steht auch er in der Kritik, weil es vielen Leuten in Russland ökonomisch schlecht geht. Vielleicht hat Putin aus der Geschichte gelernt und möchte nicht das Schicksal von Gorbatschow teilen. Der heutige Tag ist in jedem Fall als Gegenmaßnahme zu werten. Putins neue Agenda wird Russland verändern, und das schon auf kurze Sicht.

Verwendete Quellen
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