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Schicksalswahl in Großbritannien: Wie der Brexit ein Land zerreißt


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Schicksalswahl der Briten
Wie der Brexit ein Land zerreißt

Eine Reportage von Stefan Rook

Aktualisiert am 11.12.2019Lesedauer: 5 Min.
Boris Johnson Seite an Seite mit Jeremy Corbyn: Wer auch immer die Wahl am Donnerstag gewinnt, muss sich in erster Linie um die Einheit des Königreichs bemühen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson Seite an Seite mit Jeremy Corbyn: Wer auch immer die Wahl am Donnerstag gewinnt, muss sich in erster Linie um die Einheit des Königreichs bemühen. (Quelle: Matt Dunham/ap)

Der hoch emotionale Streit um den Brexit hinterlässt tiefe Risse in der britischen Gesellschaft. Viele Menschen im Vereinigten Königreich haben jedes Vertrauen in die Politik verloren.

Einen Tag vor der Wahl ist noch alles ruhig am Parlamentsgebäude in Westminster – das zudem gerade eingerüstet ist und renoviert wird. Demonstranten sind nicht da. Das wäre auch wenig sinnvoll, denn das Unterhaus oder "House of Commons", das am Donnerstag neu gewählt wird, ist so gut wie leer. Die Abgeordneten sind auf Stimmenfang in ihren Wahlkreisen. Dafür bauen Journalisten aus aller Welt auf dem "College Green", dem kleinen Platz gegenüber des Victoria Tower, ihre Zelte, mobilen Studios und Bühnen auf und bereiten sich auf die wichtigste Wahl in Großbritannien seit Jahrzehnten vor.

Die äußerliche Ruhe trügt. Die Wahl und vor allem der Brexit beschäftigen – mal mehr, mal weniger offen – nahezu jeden, den man in der britischen Hauptstadt trifft. Was man zu hören bekommt, verdeutlicht, wie zerrissen das Land drei Jahre nach dem Brexit-Referendum ist. Und wie immens enttäuscht die Menschen von ihren Politikern sind.

"Weil ich für den Brexit bin, werde ich als Rassist beschimpft"

Da ist Barmann Matt in einem Pub in einer ruhigen Seitenstraße im Herzen von London in Westminster. Er ist zunächst zurückhaltend und erklärt: "Die Politiker machen einfach nicht ihren Job. Sie sind unfähig, sie lügen". Etwas später gesteht der 49-Jährige: "Ich habe 30 Jahre lang nicht gewählt, doch dieses Mal werde ich es tun. Es geht einfach um zu viel." Matt ist nach wenigen Minuten kaum noch zu bremsen. Er wird Boris Johnson wählen. Er habe einfach genug von den unfähigen EU-Bürokraten, sagt er, und glaubt, dass Großbritannien nach dem Brexit viel bessere Handelsabkommen abschließen könne.

Matt ist kein Träumer. Er sagt voraus: "Es wird zunächst bergab gehen mit der britischen Wirtschaft. Das kann dauern, aber ich bin mir sicher, dass es uns danach besser gehen wird." Und dann wird Matt wütend: "Weil ich für den Brexit bin, werde ich von den Brexit-Gegnern als Rassist beschimpft. Ich bin alles andere als ein Rassist! Die Auseinandersetzung ist so aufgeheizt, dass man kaum noch normal miteinander reden kann."

Ebenfalls in Westminster berichtet Anton von ähnlichen Erfahrungen. Anton arbeitet für verschiedene Nachrichtensender, ist aber kein Journalist. Mehr möchte er öffentlich nicht preisgeben und fotografiert werden möchte er ebenfalls nicht. Anton kommt aus Nordirland und war viele Jahre in der Armee. Auch in Deutschland war er stationiert.

Er kommt aus einem typischen Labour-Haushalt, doch auch er wird für Johnson stimmen. "Kommunismus hat nicht funktioniert, Sozialismus hat nicht funktioniert, doch genau das will Jeremy Corbyn. Ich kann nicht für ihn stimmen", stellt er klar. Auch Anton hält nicht viel von den britischen Politikern – von Politikern allgemein: "Schlimmer als die Kriminellen sind die Politik-Profis. Sie begehen schlimmere Verbrechen, kommen aber immer ohne ernsthafte Konsequenzen davon. Keiner von denen geht ins Gefängnis." Dann erzählt Anton, dass auch er, weil er für Johnson und den Brexit ist, als Rassist beschimpft wird. Und das regt ihn richtig auf: "Ich habe in so vielen Ländern auf der Welt gelebt, ich bin mit einer farbigen, arabischen Frau zusammen. Wie kann ich ein Rassist sein?"

Tiefe Enttäuschung über die britischen Politiker

Szenenwechsel: Die Edgware Road im Nord-Westen, eines der multikulturellen Zentren Londons. Die Straße wird auch Londons "Klein-Kairo", "Klein-Beirut" oder "Klein-Arabien" genannt. Auf dem wuseligen Abschnitt zwischen Chapel Street und Marble Arch reiht sich ein Geschäft an das andere. An nahezu jedem Shop sind die Schilder in Englisch und Arabisch.

Es gibt Dutzende Schawarma-Läden, libanesische, persische, pakistanische, marokkanische, türkische Restaurants, vor denen ausgiebig Shisha geraucht wird, Wechselstuben, Barbiere, diverse Bäckereien mit Baklava – süßem Gebäck – und Shops, in denen es vom Pappteller bis zum Kühlschrank nahezu alles zu geben scheint. Das Sprachengewirr und die Gerüche sind beeindruckend.


Die Menschen sind zunächst eher verschlossen. Über die Wahl sprechen sie nur ungern. Ihren Namen oder gar ein Foto von sich wollen sie auf keinen Fall in der Presse sehen. Fragt man etwas intensiver nach, erfährt man: Auch hier sind viele zutiefst enttäuscht von den britischen Politikern.

Ein Verkäufer in einem Geschäft, das im vorderen Teil ein Handy-Shop, im hinteren Teil ein Kosmetik-Studio ist, erklärt eher mürrisch: "Was soll's. Es wird sich nichts groß ändern, egal, wer der nächste Premierminister ist." Er glaubt auch nicht, dass der Brexit große Veränderungen mit sich bringen wird: "Der Handel wird ganz normal weitergehen. Keiner der großen Konzerne wird auf Profit verzichten." Wählen gehen wird er allerdings nicht. Er kam aus einem anderen europäischen Land nach Großbritannien und ist nicht wahlberechtigt.

In einem Geschäft, das von außen gesehen ausschließlich Koffer und Taschen zu verkaufen scheint, sich im Inneren aber zu mindestens einem Drittel in einem Shop mit Smartphone-Zubehör verwandelt, läuft das Gespräch ebenfalls mühsam an. Der Verkäufer ist ungefähr Mitte 30 und hat pakistanische Wurzeln. In seinem Geschäft ist es nicht nur warm, sondern brüllend heiß.

"Nichts funktioniert mehr richtig"

Einige Minuten bleibt er vage, erklärt, die Wahlen würden ihn und seine Familie und Freunde nicht so interessieren. Doch dann wird auch er deutlich: "Dieses Land ist beinahe am Ende. Nichts funktioniert mehr richtig. Brauche ich einen dringenden Arzttermin, wird mir gesagt, ich müsse monatelang warten. In einer Woche wurden hier in der Straße drei Läden überfallen. Vor drei Tagen wurde das Geschäft neben mir in der Nacht komplett ausgeräumt. Und was macht die Polizei? Schaut kurz vorbei, nimmt ein paar Fingerabdrücke und das war's."

Auch er ist desillusioniert von den Politikern: "Sie werden sowieso nach der Wahl nicht das tun, was sie vor der Wahl versprochen haben." Es ist herauszuhören, dass er Sympathien für und Hoffnungen auf Veränderung durch die Labour-Partei hat. Er will in jedem Fall wählen gehen, aber nicht offen sagen, wen. Leicht resigniert fügt er hinzu: "Ich hoffe auf das Beste, bereite mich aber auf das Schlimmste vor."

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Wie auch immer die Wahl am Donnerstag ausgeht: Auf den Gewinner warten gewaltige Aufgaben. Es geht nicht nur um den Brexit, es geht um das Fortbestehen des Vereinigten Königreichs, darum, dass die Briten sich wieder als Vereinigte und nicht als Gegner wahrnehmen. Und es geht vor allem darum, das verlorene Vertrauen in die politische Elite wiederherzustellen.

Ob dafür eine Renovierung wie am Parlamentsgebäude in London ausreicht oder ob es nicht doch eine Grundsanierung sein muss, hängt maßgeblich vom Verhalten des nächsten Premierministers und seiner Regierung ab.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche vor Ort
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