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Proteste im Irak: Was die Frauen tun, kommt einem Tabubruch gleich


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Proteste im Irak
Was die Frauen tun, kommt einem Tabubruch gleich


05.12.2019Lesedauer: 4 Min.
Demonstrantin in Bagdad: Zu Hunderttausenden haben sich Frauen den Protesten angeschlossen.Vergrößern des Bildes
Demonstrantin in Bagdad: Zu Hunderttausenden haben sich Frauen den Protesten angeschlossen. (Quelle: Khalid al-Mousily/reuters)

Der Premier ist zurückgetreten, doch die Proteste im Irak gehen weiter. Immer lauter fordern dabei auch Frauen ihre Rechte ein. Vollzieht sich in dem islamisch-konservativ geprägten Land eine Zeitenwende?

Die Demonstranten im Irak haben einen wichtigen Sieg errungen. Am Sonnag hat das Parlament in Bagdad das Rücktrittsgesuch von Premierminister Adel Abd al-Mahdi angenommen. Eine zentrale Forderung der Demonstranten ist damit erfüllt. Der Regierungschef, der den Aufstand der Iraker brutal niederschlagen wollte, ist weg. Doch den Protest wird das nicht beenden.

Denn die Menschen, die seit Anfang Oktober im Irak Tag für Tag und Woche für Woche auf die Straßen gehen, verlangen mehr als den Austausch einiger Köpfe. Sie wollen, dass sich etwas grundlegend ändert in ihrem Land. Nicht nur politisch, sondern auch in der Gesellschaft. Es sind auffallend viele Frauen, die diese Bewegung mittragen und sie deshalb so einzigartig machen.

Nie zuvor in der Geschichte des Irak haben sie so deutlich ihre Stimme erhoben. Frauen spielen eine Schlüsselrolle bei den Protesten. Zu Hunderttausenden schlossen sie sich den Kundgebungen in Bagdad und anderen Städten an. Fotos von Frauen, die sich die irakische Fahne wie einen Schleier um den Kopf gewickelt oder als Umhang über die Schultern geworfen haben, wurden tausendfach in den sozialen Medien geteilt. Demonstrantinnen stehen bei den Protesten an vorderster Front. Mindestens ebenso wichtig aber ist ihre Rolle im Hintergrund.

Ärztinnen versorgen die Verwundeten

Manal Jabar entschloss sich, wegen der Gewalt der Sicherheitskräfte auf die Straße zu gehen. Trotz der vielen Toten und Verletzten, so sagte sie der Zeitung "The National" aus Abu Dhabi, überwanden sie und andere Frauen ihre Angst und stellten sich an die Seite ihrer Väter, ihrer Brüder und ihrer Söhne. Gemeinsam bauten sie ein Netz zur Versorgung der Demonstranten auf. In kleinen Küchen wird gekocht und gebacken. Krankenhäuser und Arztpraxen haben Medikamente zur Verfügung gestellt. In Zelten versorgen Ärztinnen die Verwundeten.

Im zentralen Protestcamp am Tahrir-Platz gibt es einen Ordnungsdienst, bei dem Männer wie auch Frauen mitmachen. Sie durchsuchen Taschen von Menschen, die in das Zeltlager wollen, damit keiner Waffen hineinbringen kann. In einem Tunnel unter dem Platz haben Künstlerinnen die Wände mit Bildern und Botschaften bemalt. Abends werden dort Kerzen für die Getöteten entzündet.

"Wir müssen uns der Idee entledigen, dass es für Frauen nicht in Ordnung wäre, an allem möglichen teilzunehmen", sagte Shaima, die mit ihrer Tochter, ihren Schwestern und Nichten zu einer Kundgebung in Bagdad gekommen ist, zu "The National". "Frauen müssen an allem teilnehmen. Es wäre besser, wenn auch in der Regierung Frauen säßen."

Aufbegehren gegen die Normen der Gesellschaft

Seite an Seite mit Männern zu demonstrieren kommt im Irak einem Tabubruch gleich. Die Gesellschaft ist von islamisch-konservativen und patriarchalen Normen geprägt. In Politik und Gesellschaft haben Männer das Sagen. Frauen sind oft an den Rand gedrängt. "Wir haben leider Traditionen, die die Menschen zurückgehalten haben. Aber jetzt gehen in allen Provinzen Frauen auf die Straße", sagte Shaima. "Und selbst wenn sie nicht demonstrieren, siehst du sie an ihrer Tür stehen mit der irakischen Fahne in der Hand. Das ist das erste Mal, dass so etwas passiert."

Bei früheren Protestwellen gab es kaum Demonstrantinnen. Nun aber akzeptieren auch die jungen Männer auf den Kundgebungen in Bagdad und anderswo, dass Frauen ein wichtiger Teil der Bewegung sind. Wie die Männer riskieren auch sie ihr Leben. "Alle Frauen hier wissen, dass sie jederzeit sterben können", sagte die Aktivistin Haneen Ghranem der Zeitung "Independent" aus London. Wie viele Demonstrantinnen bei den Protesten bislang ums Leben kamen, ist nicht bekannt. Aber immer wieder gab es Berichte von Frauen, die am Rande der Proteste gekidnapped wurden.

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Von Männern verschleppt und tagelang festgehalten

Der bekannteste Fall war der von Saba al-Mahdawi, einer jungen Ärztin aus Bagdad, die Verwundeten half und Essen verteilte. Elf Tage lang war die Medizinerin verschwunden, nachdem Männer sie aus ihrem Auto gezerrt und verschleppt hatten. Anfang des Monats kam sie wieder frei. Nach Angaben ihrer Familie wurde sie in einem Haus festgehalten und wiederholt zu den Protesten verhört. Misshandelt habe man sie aber nicht.

Andere Frauen berichten von noch brutaleren Angriffen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat seit dem Beginn der Proteste zahlreiche Übergriffe auf Aktivistinnen, Medizinerinnen und Rechtsanwältinnen dokumentiert. Sie reichen von Bedrohungen bis zu brutalen Überfällen und Misshandlungen.

Die Gewalt schreckt die Frauen nicht mehr ab

Wenn es das Ziel solcher Angriffe war, andere Frauen einzuschüchtern und davon abzuhalten, an den Protesten teilzunehmen, dann ist die Rechnung nicht aufgegangen. Saba wurde zu einem Symbol für die Bewegung. Ihr Fall, so meinen viele, habe noch mehr Frauen motiviert, sich den Demonstranten anzuschließen.

Manche sprechen bereits von einer Zeitenwende und einem Wendepunkt für die Rolle der Frau in der irakischen Gesellschaft. "Wir sind die Generation der Zukunft", sagte die 20-jährige Studentin Haneen dem "Independent" selbstbewusst. "Als Kinder haben wir den Sturz des früheren Regimes und die Folgen miterlebt. Als Teenager haben wir Terrorismus und den IS erlebt. Als Jugendliche haben wir gescheiterte Regierungen durchlebt, die unsere Rechte und die unserer Kinder gestohlen haben. Es ist an der Zeit, dass wir gegen all das unsere Stimme erheben."


In Bagdad beraten seit Beginn der Woche Vertreter der politischen Parteien über die Bildung einer neuen Regierung und ein Ende der Gewalt. Zur Debatte stand der Entwurf für ein neues Wahlgesetz, das das Parlament jünger und repräsentativer machen soll. Die Proteste hielten derweil unvermindert an. In den Pilgerstädten Nadschaf und Kerbela im Süden des Landes sollen Sicherheitskräfte erneut mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen haben. Bislang kamen bei den Protesten mehr als 420 Menschen ums Leben, knapp 20.000 weitere wurden verletzt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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