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Proteste im Irak: Steckt der Iran hinter den Scharfschützen von Bagdad?


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Mehr als 270 Tote bei Protesten im Irak
Steckt der Iran hinter den Scharfschützen von Bagdad?


08.11.2019Lesedauer: 5 Min.
2. Oktober in Bagdad: Ein Demonstrant trägt einen verletzten jungen Mann. Schon in einer frühen Phase der Proteste waren Scharfschützen zum Einsatz gekommen.Vergrößern des Bildes
2. Oktober in Bagdad: Ein Demonstrant trägt einen verletzten jungen Mann. Schon in einer frühen Phase der Proteste waren Scharfschützen zum Einsatz gekommen. (Quelle: Khalid al-Mousily/reuters)

Der Protest der Iraker richtet sich zunehmend gegen den Iran. Die Demonstranten stören sich daran, dass sich der mächtige Nachbar immer tiefer in die irakischen Machtstrukturen eingräbt.

Am Wochenende kochte die Wut vor dem iranischen Konsulat in Kerbela über. Demonstranten zündeten Reifen an und warfen Steine. Einige kletterten auf die Begrenzungsmauer, versuchten die iranische Fahne herunterzureißen und das Gebäude zu stürmen. Sicherheitskräfte schossen in die Menge. Mindestens vier Menschen wurden dabei getötet, Dutzende verletzt.

Was vor einem Monat als Protest gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und Misswirtschaft begann, ist längst zu einem Aufstand gegen die herrschenden Eliten geworden. Erzürnt über die Brutalität der Sicherheitskräfte und den Tod so vieler Menschen, fordern die Demonstranten inzwischen den Rücktritt der Regierung. In ihren Fokus gerät dabei zunehmend auch das Regime in Teheran.

In Kerbela und Bagdad rufen Demonstranten "Raus mit dem Iran!". Sie begehren auf gegen den Einfluss des mächtigen Nachbarn, der sich immer tiefer in den irakischen Machtapparat eingräbt, wo Teheran-nahe Leute inzwischen Schlüsselpositionen in Ministerien und Sicherheitsbehörden besetzen.

Scharfschützen gegen Demonstranten

Von besonderer Brisanz waren deshalb Berichte, iranische Sicherheitskräfte könnten aktiv am brutalen Vorgehen gegen die Demonstranten beteiligt sein. Es heißt, die al-Kuds-Brigaden, eine Eliteeinheit der Iranischen Revolutionsgarden, würden die irakischen Sicherheitskräfte mit Geheimdienstinformationen und abhörsicherer Kommunikationstechnik unterstützen. Sie würden zudem den Scharfschützen zuarbeiten, die bei Kundgebungen in Bagdad von Dächern in die Menge geschossen und Dutzende Menschen getötet hatten.

Der Einsatz der Scharfschützen hatte einen Sturm der Entrüstung weit über den Irak hinaus ausgelöst. Die Regierung in Bagdad verurteilte den Einsatz von exzessiver Gewalt, ohne Schuldige zu nennen. Doch es gibt Hinweise, dass vom Iran unterstützte Milizen dafür verantwortlich sind – und dass sie offenbar ohne Rücksprache mit der irakischen Regierung handelten.

"Wir haben Beweise, dass die Scharfschützen Milizen angehören und auf Geheiß ihres Kommandeurs handelten, nicht aber des Oberbefehlshabers der irakischen Streitkräfte", zitierte die Nachrichtenagentur Reuters einen Beamten aus dem irakischen Sicherheitsapparat. "Sie gehören zu einer Gruppe, die den Iranern sehr nahesteht."

Ein weiterer Beamter aus dem Sicherheitsapparat stellte eine direkte Verbindung zu den iranisch-unterstützten Haschd-Milizen her. Deren Sicherheitschef Abu Sainab al-Lami habe den Einsatzbefehl gegeben, berichtete Reuters unter Berufung auf die Quelle. Al-Lami sei zuvor von einer Gruppe hochrangiger Milizenführer mit dem Auftrag betraut worden, die Proteste zu zerschlagen.

Der Kampf gegen den IS verschob die Machtbalance

Al-Haschd asch-Schabi – zu Deutsch "Nationalmobilmachung" – ist ein Bündnis paramilitärischer, vorrangig schiitischer Gruppen. Es entstand 2014 auf Initiative der irakischen Regierung als Reaktion auf den Vormarsch des sogenannten Islamischen Staates. Die Milizen des Bündnisses trugen entscheidend zum Sieg über die Dschihadisten bei. Die starke Machtposition, die das Bündnis heute im irakischen Sicherheitsapparat und im Parlament einnimmt, fand seinen Ursprung in jener Zeit.

"Im Juni 2014, als der IS bereits große Teile des Irak überrannt hatte, folgten Zehntausende einem Aufruf des irakischen Großajatollah Ali as-Sistani zur Verteidigung des Landes", erläutert Tim Petschulat, der die Landesvertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung für Jordanien und Irak in Amman leitet. "Doch anstatt sich den regulären Streitkräften anzuschließen, gingen viele zu den Milizen."

Die irakische Armee hatte im Kampf gegen den IS demütigende Niederlagen hinnehmen müssen. Trotz zahlenmäßiger Überlegenheit waren ihre Truppen von den selbst ernannten Gotteskriegern aus der Millionenstadt Mossul vertrieben worden. Lange Zeit waren die Streitkräfte nicht in der Lage, den Vormarsch des IS zu stoppen. Erst der Eintritt der Haschd-Einheiten in den Kampf wendete das Blatt.

2016 wurden die Milizen in den irakischen Sicherheitsapparat integriert und hatten fortan einen ähnlichen Status wie die irakische Armee. Gleichwohl bewahrten sich die Gruppen ihre Autonomie. Innerhalb der Milizen sollen Iraner zahlreiche Schlüsselpositionen besetzen. Teheran unterstützt die meisten Gruppen finanziell sowie bei der militärischen Ausbildung.

Milizen mit politischer Macht

Nachdem der IS im Sommer 2017 im Irak territorial besiegt war, begannen die Haschd-Milizen auch politisch ihre Macht im Irak zu festigen. Der Block der mit ihnen assoziierten Parteien ist heute der zweitgrößte im irakischen Parlament. Ihre Vertreter kontrollieren fünf der wichtigsten Ministerien im Irak: unter anderem das für Inneres, das für Kommunikation und das für Arbeit und Soziales.

Exemplarisch für den Einfluss des Iran und der ihm nahestehenden Milizen ist die Rolle des Milizenführers Abu Mahdi al-Muhandis. In den Achtzigerjahren soll der im Iran ausgebildete Kommandeur an der Seite der Iranischen Revolutionsgarden an Terroranschlägen auf Botschaftsgebäude in Kuwait beteiligt gewesen sein. Heute gelte der 65-Jährige als einer der wichtigsten Strippenzieher im irakischen Machtapparat, erläutert Irak-Experte Petschulat. Unter anderem sorge er dafür, dass die Milizen ihre Autonomie innerhalb der Sicherheitsbehörden behielten.

Das Scheitern der Amerikaner

Über die Haschd-Einheiten heißt es, sie hätten nach der Vertreibung des IS dessen Schmuggelnetze weiter genutzt, um sich selbst zu bereichern. Ihnen werden Schutzgelderpressungen und willkürliche Festnahmen von Personen, denen eine Nähe zum IS unterstellt wird, vorgeworfen. Die Milizen profitieren dabei von dem Machtvakuum, das die IS-Terroristen hinterlassen haben und das die Regierung in Bagdad nicht zu füllen imstande ist.

Die Gründe für die Schwäche Bagdads, für die Korruption und die Misswirtschaft, die jetzt Hunderttausende Iraker im Zorn auf die Straßen treiben, reichen dabei bis weit vor 2014 zurück. Sie finden ihren Ursprung in der Zeit nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein und im Scheitern der US-Amerikaner.

Die USA hatten nach dem Ende der Herrschaft der Baath-Partei versucht, ein System aufzubauen, das einen Ausgleich schafft zwischen den unterschiedlichen konfessionellen und ethnischen Gruppen im Irak. Doch die Ordnung blieb äußert fragil und lieferte dem Machtmissbrauch Vorschub. "Statt nach Qualität wurden die Ministerien nach Proporz und Gefolgschaft besetzt", erklärt Petschulat. Das habe dazu geführt, dass die Staatskasse geplündert und die Ministerien als Selbstbedienungsläden missbraucht worden seien.

In der neuen Ordnung gaben fortan die Schiiten den Ton an, die die Bevölkerungsmehrheit bilden und unter der sunnitischen Baath-Partei jahrzehntelang unterdrückt wurden. Sie drängten ihrerseits nun die Sunniten an den Rand, was den Aufstieg extremistischer Gruppen wie des IS begünstigte. Der Iran als Schutzmacht der Schiiten profitierte von dem neuen Kräfteverhältnis, das er über die Jahre weiter zu seinen Gunsten zu verlagern wusste.

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Teheran interveniert

Wie weit der Einfluss Teherans in Bagdad inzwischen reicht, wurde in der vergangenen Woche deutlich. Unter dem Eindruck des immer lauter werdenden Protests der Iraker berieten hochrangige Vertreter der einflussreichsten Organisationen in der Hauptstadt über die Zukunft von Regierungschef Adil Abd al-Mahdi. Der Premier war einst als Kompromisskandidat der beiden größten Fraktionen im Parlament an die Macht gekommen. Nun kamen die Führer ebendieser Fraktionen – der populistische Kleriker Moktada al-Sadr von der Sarouni-Koalition und Hadi al-Amiri von der Fatah-Koalition, Kommandeur der vom Iran unterstützten Badr-Organisation – über Mahdis Ablösung überein.

Doch der Kommandeur der iranischen Al-Kuds-Brigaden, Generalmajor Kassem Soleimani höchstselbst, wischte laut Medienberichten den Deal vom Tisch. Bei einem Geheimtreffen in Bagdad soll er auf Amiri eingewirkt haben, der schließlich einknickte und an Mahdi festhielt.


Der Iran hatte ein Machtwort gesprochen und damit klargestellt, dass ohne ihn kein Wechsel an der Regierungsspitze im Irak vollzogen wird. Der Irak-Experte Tim Petschulat wertet das zugleich als Zeichen zunehmender Nervosität in Teheran. "Nie hatte der Iran mehr Einfluss im Irak wie jetzt", sagt er. "Durch die massiven Proteste sieht er diese Position gefährdet."

Für die irakischen Sicherheitskräfte war der Besuch des iranischen Kommandeurs Soleimani offenbar das Signal, an ihrem brutalen Vorgehen gegen die Protestbewegung festzuhalten. Am Donnerstag wurde in Bagdad erneut mit scharfer Munition auf Demonstranten gefeuert. Mindestens vier Menschen wurden nach Angaben von Polizei und Ärzten getötet, 35 weitere verletzt. Damit sind bei den Protesten bis dato fast 280 Menschen ums Leben gekommen, an die 10.000 wurden verletzt.

Verwendete Quellen
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