Backstop-Sackgasse Zerstört Johnson das Vereinigte Königreich für den Brexit?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schottland diskutiert ein zweites Referendum zur Unabhängigkeit. Auch die Wiedervereinigung Irlands ist im Gespräch. Wales wendet sich von Boris Johnsons Brexit-Politik ab. Zerfällt Großbritannien?
Mit seiner Antrittsreise nach Schottland, Wales und Nordirland wollte Boris Johnson eines seiner zentralen Ziele als britischer Premierminister in den Mittelpunkt stellen: ein heillos zerstrittenes Land vereinen. Gleichzeitig wollte er für sein Kernthema werben: den Brexit nach seinen Vorstellungen. Ein Erfolg war seine Rundreise nicht. In allen Landesteilen gab es massive Kritik an der Brexit-Politik Johnsons. Sogar der Austritt aus dem Vereinigten Königreich war mehrfach Thema. Zerbricht das Vereinigte Königreich am Brexit?
"Ohne Wenn und Aber" werde Großbritannien am 31. Oktober aus der EU austreten. Diese Drohung in Richtung EU wiederholt der britische Premierminister mantrahaft. Einen Deal kann es für Johnson nur geben, wenn die EU sich bereit erklärt, das Ausstiegsabkommen neu zu verhandeln und vor allem die Backstop-Regelung aus der Vereinbarung zu streichen. Diese Regelung soll nach einem vollzogenen Brexit eine harte Grenze zwischen der Republik Irland, die in der EU bleibt, und Nordirland, das als Teil des Vereinigten Königreichs aussteigt, verhindern.
Die EU lehnt das rigoros ab und sieht derzeit keine Basis für weitere Brexit-Gespräche mit Großbritannien. Beide Seiten geben nicht nach und so rückt ein No-Deal-Brexit immer näher. Johnsons kompromisslose Haltung gegenüber der EU ist aber nicht nur innerhalb seiner eigenen Partei umstritten. Es gibt im britischen Parlament keine Mehrheit für einen Brexit ohne Ausstiegsvertrag. Das haben mehrere Abstimmungen unter seiner Vorgängerin Theresa May deutlich gemacht.
Großbritannien ist beim Brexit gespalten
Eine weitere – und gefährlichere – Kluft tut sich innerhalb Großbritanniens auf. Das Vereinigte Königreich besteht aus den Landesteilen England, Schottland, Wales und Nordirland. Nur in England, dem bevölkerungsreichsten und mächtigsten Teil Großbritanniens, kann Johnson sich der Zustimmung für seinen radikalen Brexit-Kurs noch sicher sein. Hier glauben viele Brexiteers weiter daran, dass die Vorteile eines EU-Ausstiegs überwiegen. Mögliche Nachteile für andere Teile des Königreichs haben nichts an dieser Einstellung geändert.
In Wales, das beim Brexit-Referendum 2016 noch mit 52,5 Prozent für einen Austritt gestimmt hat, ist die Stimmung gekippt. Während Johnsons Besuch gab es heftige Proteste von Landwirten. Der südwestliche Teil Großbritanniens ist sehr stark von EU-Fördermitteln abhängig. Nach Angaben von Experten kamen zuletzt rund 80 Prozent der Einkünfte der Bauern dort aus Töpfen der Europäischen Union. Mehr als 50.000 Menschen sind in der Landwirtschaft in Wales beschäftigt. Wie es für die Landwirte in Wales im Falle eines No-Deal-Brexits weitergehen soll, konnte Johnson bei seiner Visite nicht konkret darlegen. Er sprach nur vage von der "historischen Chance, neue Maßnahmen zur Unterstützung der Landwirtschaft einzuführen".
Der Regierungschef von Wales, Mark Drakeford (Labour-Partei), kritisierte den Premierminister dafür scharf. "Keine Anerkennung, dass Lebensgrundlagen in Gefahr sind. Keine ernsthaften Antworten. Kein Plan für die Bauern von Wales", schrieb er auf Twitter.
Schottland droht mit zweitem Unabhängigkeitsreferendum
Bereits zuvor war Johnson bei seinem ersten Besuch in Schottland heftig in die Kritik geraten: Regierungschefin Nicola Sturgeon erklärte, dass Johnson das Land mit seinem Brexit-Kurs in eine "Katastrophe" treibe. Auch sie bemängelte, dass Johnson ihr nicht erklären konnte, wie er einen neuen Deal mit der EU erreichen wolle. Sie mutmaßte, dass Johnson zwar öffentlich erkläre, er wolle einen Deal mit der EU, sein wahres Ziel aber ein No-Deal-Brexit sei. "Ich denke, das ist extrem gefährlich für Schottland und für das gesamte Vereinigte Königreich", erklärte die schottische Regierungschefin.
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Sturgeon war es auch, die Johnson kurz nach seiner Wahl warnte: "Das Recht der Schotten, ihre Zukunft selbst zu bestimmen, ist ein fundamentales demokratisches Prinzip, das respektiert werden muss." Eine nur unverhohlene Drohung mit einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum der Schotten. Im ersten entschieden sich die Schotten 2014 mit einer Mehrheit von 55 zu 45 Prozent für einen Verbleib im Vereinigten Königreich. Allerdings stimmten 2016 beim Brexit-Referendum 62 Prozent der Schotten für einen Verbleib in der EU. Der Brexit-Hardliner Johnson könnte nun dafür sorgen, dass Schottland in einem zweiten Referendum dafür votiert, das Königreich zu verlassen.
Nordirland ist zum Brennpunkt des Brexit-Konflikts geworden. Den von May mit der EU ausgearbeiteten Backstop lehnt Johnson ab. Eine realistische Alternative kann Johnson auch hier nicht vorlegen. Beim Brexit entsteht zwischen der Republik Irland und Nordirland eine neue EU-Außengrenze. Die EU will Grenzkontrollen unbedingt verhindern – andernfalls wird ein Wiederaufflammen der Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion befürchtet.
Johnson sieht in der Garantieklausel hingegen ein "Instrument der Einkerkerung", weil sie ganz Großbritannien in der Zollunion und Nordirland in Teilen des Binnenmarkts halten würde, wenn bei den noch ausstehenden Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien keine Einigkeit erzielt wird.
Wiedervereinigung von Irland und Nordirland wird diskutiert
Die Angst vor den Auswirkungen eines No-Deal-Brexits haben ein Thema auf die Tagesordnung gebracht, das noch vor zwei Wochen unmöglich erschien: die Wiedervereinigung Irlands.
Der irische Premierminister Leo Varadkar erklärte in der Zeitung "Irish Independent" im Zusammenhang mit dem derzeitigen Brexit-Chaos: "Leute, die man als moderate Nationalisten oder moderate Katholiken beschreiben könnte, die mit dem Status quo mehr oder weniger zufrieden waren, werden sich stärker einem vereinigten Irland zuwenden." Aber auch "liberale Protestanten" in Nordirland stellten sich zunehmend die Frage, "wo sie sich mehr zu Hause fühlen", fügte Varadkar hinzu. Dieses Zuhause sei entweder in einem "nationalistischen Großbritannien", das über Themen wie die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiere, oder in einer "gemeinsamen europäischen Heimat" und als "Teil von Irland", sagte der irische Regierungschef.
Auch nordirische Nationalisten brachten angesichts der festgefahrenen Brexit-Verhandlungen eine Wiedervereinigung des britischen Nordirlands mit der Republik Irland ins Spiel. Die Chefin der nordirischen Partei Sinn Fein, Mary Lou McDonald, erklärte, Johnson sei nicht ihr Premierminister. Nach dem Amtsantritt des "hurrapatriotischen und sturen" Johnson sei genau der Zeitpunkt gekommen, um über eine irische Wiedervereinigung zu diskutieren, sagte die Vorsitzende der größten nationalistischen Partei in Nordirland. "Der Weg zurück in die EU ist für den Norden ganz klar, die irische Wiedervereinigung ist der Weg zurück zur EU."
Ein No Deal wäre eine "Katastrophe" für Wirtschaft, Gesellschaft und den Friedensprozess, sagte McDonald. Auch Demonstranten stellten in Belfast klar: "Wir werden nicht zulassen, dass das passiert." Beim Brexit-Votum 2016 hatten sich 56 Prozent der Nordiren für einen Verbleib in der EU ausgesprochen.
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Noch sind viele der Austrittsszenarien Gedankenspiele. In Wales formiert sich gerade erst der Widerstand gegen Johnsons Politik. Wann und ob ein neues Unabhängigkeitsreferendum in Schottland abgehalten werden könnte, ist derzeit hoch umstritten. Auch eine Wiedervereinigung Irlands bräuchte viel Zeit.
Aber Johnson sollte gewarnt sein: Die Diskussionen zeigen, wie entzweit das Vereinigte Königreich derzeit ist, und wie dramatisch Johnson mit seinem Versuch der Einigung der Briten bisher gescheitert ist. Sollte Johnson seine politische Agenda weiter rücksichtslos verfolgen, besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass er der letzte Premierminister des Vereinigten Königreichs in seiner jetzigen Form ist.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- eigene Recherche
- The Spectator: Could Boris Johnson be the last Prime Minister of the UK? (engl.)
- The Guardian: Nicola Sturgeon calls for new Scottish independence vote (engl.)
- CNN: Boris Johnson could be the last prime minister of the United Kingdom (engl.)