Kaum im Amt Johnson baut Regierung rasch und radikal um
Boris Johnson lässt nach seiner Ernennung keine Zeit verstreichen. Am Abend gab er die Neubesetzung von 16 Ministerien bekannt. Brexit-Hardliner ersetzen EU-Freunde.
Der neue britische Premierminister Boris Johnson hat seine Amtszeit mit einem weitreichenden Umbau der Regierung begonnen. Wenige Stunden nach seiner Ernennung durch Königin Elisabeth II. gab er die Neubesetzung von 16 Ressorts bekannt. Neuer Außenminister wird etwa Dominic Raab, der die Regierung einst im Streit mit Theresa May über den Brexit-Kurs verlassen hatte. Vize-Premier wird der bisherige Entwicklungsminister Michael Gove.
Der neue Tory-Chef Johnson trat am Nachmittag die Nachfolge von Theresa May an, die zuvor ihren Rücktritt bei der Queen eingereicht hatte. In seiner ersten Ansprache als neuer Premier versprach Johnson, Großbritannien "ohne Wenn und Aber" aus der EU zu führen. Er werde einen neuen und besseren Deal mit Brüssel ausfechten, sagte er. Notfalls werde sich Großbritannien aber auch ohne Abkommen zum 31. Oktober aus der Europäischen Union verabschieden. Nachverhandlungen lehnt Brüssel allerdings strikt ab.
Johnson: "Unterschätzt dieses Land nicht!"
Der 55 Jahre alte Johnson, der vor dem Brexit-Referendum 2016 an vorderster Front für den Austritt aus dem Staatenbund gekämpft hatte, sagte den Gegnern des EU-Austritts zugleich den Kampf an. "Die Zweifler, Schwarzmaler und Pessimisten werden wieder falsch liegen", sagte er vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street. Nach drei Jahren "unbegründeter Selbstzweifel" sei es Zeit für einen Wechsel. "Ich sage: Unterschätzt dieses Land nicht!"
Johnson umgibt sich in seinem neuen Kabinett vor allem mit Brexit-Hardlinern und Weggefährten: So wechselt der bisherige Innenminister Sajid Javid ins Finanzministerium. Die frühere Entwicklungsministerin Priti Patel wird Innenministerin. Die starke Brexit-Befürworterin war 2017 zurückgetreten, nachdem bekannt geworden war, dass sie sich ohne Absprache im Israel-Urlaub mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu getroffen hatte.
Brexit-Minister bleibt Steve Barclay. Etliche EU-freundliche Minister und Staatssekretäre waren einem Rauswurf durch Johnson zuvorgekommen und hatten ihre Ämter selbst aufgegeben, unter anderem Außenminister Jeremy Hunt.
Merkel freut sich auf Zusammenarbeit
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wünschte Johnson "eine glückliche Hand und viel Erfolg zum Wohl" Großbritanniens. EU-Ratspräsident Donald Tusk gratulierte dem Brexit-Hardliner im Namen des Europäischen Rates zur Ernennung. "Ich freue mich darauf, unsere Zusammenarbeit bei einem Treffen detailliert zu besprechen", teilte Tusk mit.
Johnson hatte in seiner Rede erneut den umstrittenen Backstop strikt zurückgewiesen. Diese Garantieklausel soll verhindern, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland wieder Grenzkontrollen eingeführt werden müssen. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren.
Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange Teil einer Zollunion mit der EU bleibt, bis das Problem anderweitig gelöst ist. Für Nordirland sollen zudem teilweise Regeln des Europäischen Binnenmarkts gelten.
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Johnson sieht in der Klausel ein "Instrument der Einkerkerung" Großbritanniens in Zollunion und Binnenmarkt. Er will den Backstop streichen und die irische Grenzfrage erst nach dem Austritt in einem künftigen Freihandelsabkommen mit der EU lösen.
Langer Applaus für May
May hatte sich vor ihrem Treffen mit der Queen nach dreijähriger Amtszeit in einer kurzen Rede in der Downing Street von den Briten verabschiedet. Dabei dankte die 62-Jährige besonders ihrem Ehemann Philip, der ihr stets beigestanden habe.
Im Parlament sagte May beim letzten Auftritt als Regierungschefin: "Ich bin sicher, dass unter den Frauen in diesem Haus heute eine künftige Premierministerin ist, vielleicht mehr als eine." Bislang hatte Großbritannien nur zwei Premierministerinnen – May und Margaret Thatcher. Die Abgeordneten applaudierten ihr lange im Stehen.
Mehrere Minister traten nach der Ernennung Johnsons zurück, darunter der bisherige Außenminister Hunt. Er hätte sich geehrt gefühlt, wenn er seine Arbeit im Außenministerium hätte weiterführen dürfen, schrieb Hunt auf Twitter. Er könne aber auch verstehen, dass ein neuer Premier sein Team auswählen müsse. Hunt hatte das Rennen um die Nachfolge von May klar gegen Johnson verloren. Zu den weiteren Ministern, die am Mittwoch zurücktraten, gehörten die EU-freundlichen Torys Philip Hammond (Finanzen), David Gauke (Justiz) und Rory Stewart (Entwicklungshilfe). Auch Vize-Premierminister David Lidington gab sein Amt auf.
Hat Johnson mehr Erfolg als May?
Drei Mal war May im heillos zerstrittenen Parlament mit ihrem mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Abkommen durchgefallen – schließlich gab sie auf. Fraglich ist aber, wie lange ihr Nachfolger Johnson durchhält. Auch er kann nur mit einer hauchdünnen Mehrheit regieren.
Der Brexit ist aber nicht die einzige Großbaustelle, um die sich Johnson kümmern muss. Er tritt sein Amt mitten in einer Krise mit dem Iran an. Nach mehreren Vorfällen in der Straße von Hormus setzte Teheran dort zuletzt einen britischen Öltanker fest – aus Sicht Londons eine "feindliche Handlung". Großbritannien regte eine europäische Seeschutzmission an, um Schiffe in der Meerenge zu schützen. Große Mengen Öl werden durch dieses Nadelöhr verschifft.
Die Mitglieder der Konservativen Partei hatten Johnson zu ihrem Chef und damit auch zum künftigen Premier gewählt. Am Freitag beginnt die Sommerpause des Parlaments – bis zum 3. September. Viel Zeit bis zum geplanten EU-Austritt Ende Oktober bleibt Johnson nicht. Dennoch will er bis dahin sein Land aus der EU führen – mit oder ohne Deal.
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Angesichts der Brexit-Unsicherheit ist der deutsch-britische Handel seit Jahresbeginn deutlich zurückgegangen. Nach Zahlen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) exportierten deutsche Unternehmen von Januar bis Mai Waren im Wert von rund 35 Milliarden Euro nach Großbritannien. Das sind 2,3 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die Importe aus Großbritannien sanken im selben Zeitraum noch stärker: um 6,1 Prozent auf 15 Milliarden Euro. Der Brexit sei bereits eine große Belastung für die deutsche Wirtschaft, sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer. 70 Prozent der Betriebe mit Geschäft in Großbritannien erwarteten 2019 schlechtere Zahlen.
Am Abend protestierten in London Tausende Menschen gegen den neuen Premierminister. Sie zogen zu Johnsons Amtssitz in der Downing Street, die zeitweise gesperrt werden musste. Am Donnerstag erwarten den neuen Regierungschef weitere Proteste: Die oppositionelle Labour-Partei rief für den Abend zu einer Demonstration für Neuwahlen auf. Laut einer Umfrage, die das Institut YouGov veröffentlichte, liegt Johnsons Zustimmungsrate in der Bevölkerung nur bei 31 Prozent.
- Nachrichtenagentur dpa